"Die moderne Welt ist nicht böse; in mancher Hinsicht ist sie entschieden zu gut. Sie ist voll wüster und vergeudeter Tugenden. Wenn ein religiöses System zertrümmert wird (wie das mit dem Christentum in der Reformation geschah), dann führt das nicht nur zu einer Entfesselung der Laster. Keine Frage, dass die Laster entfesselt werden; sie streifen umher und stiften Schaden. Aber auch die Tugenden werden entfesselt, und sie streifen noch haltloser umher und richten noch schrecklicheren Schaden an. Die heutige Welt steckt voll von alten christlichen Tugenden, die durchgedreht sind. Sie sind durchgedreht, weil sie auseinandergerissen wurden und allein umherstreifen."(G.K. Chesterton, Orthodoxie)
Seit einigen Tagen macht eine Predigt eines katholischen Pfarrers Furore in den Sozialen Netzwerken. Das ist ja an sich schon ein bemerkenswerter Umstand und mag Manchem als ein Indiz dafür erscheinen, dass die in Zeiten galoppierender Kirchenaustritte nicht selten mit einer gewissen Bangigkeit geäußerte Frage, ob die Kirche den Menschen noch etwas zu sagen habe, doch zu bejahen sei. Auf jeden Fall hat die Predigt, gehalten am 22. Sonntag im Jahreskreis in der Kirche St. Marien in Lingen-Biene (Emsland) von Pfarrer Jens Brandebusemeyer, offenbar einen Nerv getroffen.
Das lag sicherlich zunächst einmal am Thema: Pfarrer Brandebusemeyer sprach über Flüchtlinge, genauer gesagt über die Aufnahme von Flüchtlingen in Deutschland; insbesondere wandte er sich scharf gegen die Feindseligkeit, die Flüchtlingen mancherorts in Deutschland entgegenschlägt, prangerte rassistische Vorurteile, hasserfüllte Parolen, Drohungen und Gewalt gegen Asylsuchende und deren Unterkünfte an, und betonte, "dass Solidarität mit den Armen, den Flüchtlingen und Bedrängten stets
und zu jeder Zeit Aufgabe der Kirche waren, sind und bleiben". Darin ist ihm unbedingt zuzustimmen. Rassismus ist unvereinbar mit dem christlichen Menschenbild, das in jedem Menschen, unabhängig von seiner Herkunft, seiner Muttersprache, seiner Hautfarbe, ja sogar unabhängig von seiner Religionszugehörigkeit ein geliebtes Kind Gottes sieht; und die Bibel verpflichtet die Gläubigen wiederholt und nachdrücklich zur Gastfreundschaft gegenüber Fremden - von Leviticus 19,33f. ("Wenn bei dir ein Fremder in eurem Land lebt, sollt ihr ihn nicht unterdrücken. Der Fremde, der sich bei euch aufhält, soll euch wie ein Einheimischer gelten und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid selbst Fremde in Ägypten gewesen") bis hin zu Matthäus 25,35c.40b ("ich war fremd und obdachlos, und ihr habt mich aufgenommen... Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan"). Angesichts der Herausforderungen, die der Zustrom Hunderttausender Flüchtlinge nach Deutschland an die Gesellschaft stellt, tun Repräsentanten der Kirche entschieden recht daran, zu betonen, dass Christen in besonderem Maße zu Hilfe und Beistand für die Armen, Verfolgten und Heimatlosen aufgerufen sind. Und ein paar scharfe Worte an die Adresse von Menschen, die sich als Christen definieren und sich dennoch fremdenfeindlich gebärden, sind durchaus auch mal am Platz.
Trotzdem hätte ich ann Pfarrer Brandebusemeyers Predigt Verschiedenes auszusetzen, aber ich will da gar nicht allzu sehr ins Detail gehen. Das wirklich Bemerkenswerte an dieser Predigt ist schließlich das große öffentliche Echo, das sie weit über die Grenzen der Lingener Pfarreiengemeinschaft hinaus findet, obwohl sie ja nun wahrhaftig nicht die einzige Äußerung eines Kirchenvertreters ist, die Solidarität mit Flüchtlingen anmahnt. Was gerade an dieser Predigt so besonders großes Aufsehen erregt, dürfte in erster Linie ein Satz sein, der auch in diversen Presseberichten - so in der Neuen Osnabrücker Zeitung, der Westdeutschen Allgemeinen, dem FOCUS und dem Online-Portal katholisch.de - hervorgehoben wird und dort zu Überschriften Anlass gibt wie "Pfarrer ruft Rassisten zum Kirchenaustritt auf".
Echt jetzt?
Ja, echt jetzt. Pfarrer Brandebusemeyer sagte wörtlich:
"Sollte jemand in diesem Punkt grundsätzlich anderer Meinung sein, bitte ich ihn oder sie erstmals öffentlich, aus der Kirche auszutreten."Das wirft ein, sagen wir mal, interessantes Licht auf das Amtsverständnis des Pfarrers; noch mehr aber auf die Leute, die so eine Aussage aus dem Mund eines Geistlichen toll finden. Aber mal der Reihe nach. Sehen wir einmal davon ab, dass der Kirchenaustritt lediglich die Mitgliedschaft in einer Körperschaft des öffentlichen Rechts betrifft und in erster Linie steuerliche Auswirkungen hat, das Kanonische Recht hingegen nicht berührt. Die Zugehörigkeit zur Kirche in ihrer Eigenschaft als mystischer Leib Christi ist durch die Taufe gegeben und als solche unaufhebbar. Die Kirche kennt als äußeres Zeichen des Verlusts der Gemeinschaft mit der Kirche zwar die Exkommunikation, aber diese hebt die Zugehörigkeit zur Kirche nicht auf - und sie zu verhängen liegt zudem nicht in der Befugnis eines einfachen Priesters.
So gesehen ist die Aufforderung zum Kirchenaustritt erst einmal schlicht unsinnig, und man dürfte von einem Priester wohl erwarten, dass er das weiß. Wenn er eine solche Aufforderung dennoch ausspricht, dann sagt das natürlich etwas aus. Diejenigen, die in den Sozialen Netzwerken die "klaren Worte" Pfarrer Brandebusemeyers bejubeln - darunter viele Nichtkatholiken und/oder kirchenferne Personen -, sind vielleicht weniger im Bilde darüber, was ein Kirchenaustritt bedeutet und was er nicht bedeutet, aber ihre begeisterte Zustimmung sagt dennoch ebenfalls etwas aus. Und zwar nichts Gutes. Wiederholen wir ruhig noch einmal: Es trifft zu, dass Rassismus und fremdenfeindliches Verhalten dem christlichen Glauben widersprechen. Mit einem heutzutage nicht mehr besonders populären Begriff könnte man hier von Sünde sprechen. Und welchen Umgang mit den Sündern empfiehlt der Lingener Pfarrer seiner Gemeinde? Ruft er dazu auf, für ihre Bekehrung zu beten, Gott zu bitten, dass er ihre verhärteten Herzen erweichen möge? Ermahnt er diejenigen Sünder, die an diesem Sonntag vielleicht in der Kirche anwesend sind, zu Umkehr und Buße? Nein, er weist ihnen einfach die Tür. Und bekommt dafür auch noch hundertfachen Applaus.
Wohlgemerkt gilt diese Unerbittlichkeit nicht allen Sündern, sondern nur jenen, die der Sünde des Rassismus und der Fremdenfeindlichkeit schuldig sind. Man stelle sich nur mal die Reaktionen vor, wenn ein Pfarrer mit ähnlicher Vehemenz gegen Abtreibung oder, schlimmer noch, gegen die "Ehe für alle" predigen würde. Oder man stelle sich vor, ein katholischer Priester würde all jene zum Kirchenaustritt auffordern, die nicht an die Realpräsenz Christi in der Eucharistie glauben. - Es ist schon komisch: Wenn zivilrechtlich wiederverheiratete Geschiedene vom Empfang der Kommunion ausgeschlossen werden, dann gilt das als "unbarmherzig", und wenn ein Bischof anregt, sie könnten statt der Kommunion einen Segen erhalten, wird das als "public shaming" aufgefasst. Aber wenn es um Menschen geht, die Vorurteile gegen Fremde hegen, dann kann die Kirche auf einmal gar nicht unbarmherzig genug sein.
Die weit überwiegende Mehrheit der Deutschen ist Asylsuchenden gegenüber wohlwollend und hilfsbereit. Das ist erfreulich, aber weniger erfreulich ist, dass sich in der begeisterten Zustimmung zur Predigt des Lingener Pfarrers wie auch zu anderen öffentlichen Wutreden gegen Ausländerfeinde nicht selten eine irritierende Lust am Ausgrenzen und Verdammen Bahn bricht, die in (fast) jedem anderen Zusammenhang aus guten Gründen verpönt wäre. Zuweilen kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass solche Wortmeldungen nicht zuletzt auch der Selbstvergewisserung dienen sollen, dass man zu den Guten gehört.
In der Kirche ist so etwas besonders ärgerlich. Hetze und Gewalt gegen Flüchtlinge, gegen Fremde, gegen Notleidende sind zu verurteilen, ganz klar. Aber was ist eigentlich aus dem christlichen Grundsatz geworden, die Sünde zu hassen, nicht aber den Sünder? Aus der in der Lingener Kirche an die Ausländerfeinde gerichtete Aufforderung zum Kirchenaustritt mag man die Worte Jesu aus Matthäus 7,23 - "Ich kenne euch nicht. Weg von mir, ihr Übertreter des Gesetzes!" - heraushören; aber diese Worte auszusprechen, ist eben Jesus vorbehalten, und zwar beim Jüngsten Gericht. Bis dahin sollte sich die Kirche darauf besinnen, dass sie ein Netz mit guten und mit faulen Fischen (Matthäus 13, 47-50) ist, ein Acker, auf dem Weizen und Unkraut wachsen ("Lasst beides wachsen bis zur Ernte" - Matthäus 13,30) - und dass nicht die Gesunden den Arzt brauchen, sondern die Kranken (Matthäus 9,12). Auch das Gleichnis vom Pharisäer und vom Zöllner (Lukas 18,9-14) wäre jenen als Lektüre zu empfehlen, die sich über den Rauswurf Anderer aus der Kirche freuen.
Unabhängig vom konkreten Anlass ist es fatal, wenn "Kirche" (ohne bestimmten Artikel) sich einbildet, eine Gemeinschaft der Reinen zu sein. Das ist sie nicht. Die Kirche ist eine Gemeinschaft von Sündern. Wäre dem nicht so, dann hätte Jesus Christus nicht für unsere Sünden sterben müssen.
Letzteres - dass Jesus Christus für unsere Sünden gestorben ist - wäre übrigens etwas, wovon in der Kirche ruhig öfter gesprochen werden dürfte. Auch in Predigten.
Ich weiß, man soll sich nicht über die Namen anderer Leute lustig machen, immerhin können sie da am allerwenigsten für. Aber hallo, "Brandebusemeyer"? Das klingt so dermaßen nach Loriot-Spießer, das hätte man besser nicht erfinden können. Und ähnlich wie der Name klingt, lesen sich auch die Äußerungen von Hochwürden Brandebusemeyer.
AntwortenLöschenIch hätte mich nicht getraut, das zu schreiben - aber Du darfst das... :-D
LöschenIch spring ja sonst nicht über jedes Stöckchen, aber wenn's dann schon so deutlich ist....:-D
LöschenÜbrigens: dankeschön *artigknickst*, bin schon wieder ganz brav. :-)
Nun für den Pfarrer gibt's ja nun inzwischen eine prominente Steigerung: Der Münchner Kardinal würde lt. Catholic Herald sogar eigenhändig zuschlagen, wenn er mal so einen bösen Braunen erwischt ... http://www.catholicherald.co.uk/news/2015/09/07/german-catholic-church-leader-threatens-to-punch-anyone-making-nazi-salutes-at-migrants/
AntwortenLöschenJa, mit der Feindesliebe ist es nicht mehr so weit her. Die Lehre Christi gilt nur noch unter bestimmten Bedingungen ... Tragisch.
Christus lehrte, die andere Wange hinzuhalten ... oder steht da auch irgendwo etwas von zuschlagen? Ja mei
Der Herald hat den Artikel zurückgezogen. Offenbar handelte es sich bei der vermeintlichen Prügelandrohung des Kardinals um einen Übersetzungsfehler.
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