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Mittwoch, 21. August 2013

Willkommen im religionsfreien Bezirk!

Eigentlich hätte ich heute gern etwas Nettes, Heiteres gebloggt. Schon um zu dokumentieren, dass ich durchaus nicht immer nur "polemisch" sein will, kann und muss. Aber, um mal Bertolt Brecht zu zitieren: Die Verhältnisse, sie sind nicht so.

Wie der eine oder andere Stammleser meines Blogs wissen wird, hat die schon vor zwei Jahren (und im aktuellen Wahlkampf erneut) vertretene Forderung der Piratenpartei, "Religion [zu] privatisieren" (d.h. aus dem öffentlichen Raum zu verdrängen), erheblich dazu beigetragen, dass ich unter die Blogger gegangen bin. Da fühle ich mich nun aus aktuellem Anlass verpflichtet, darauf einzugehen, welche Fortschritte die Piraten mit der Umsetzung dieser Forderung machen - zumindest im Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg, in dem ich wohne und, horribile dictu, zur Kirche gehe.

Bei der Wahl im Herbst 2011 errangen die Piraten fünf der 51 Sitze in der Bezirksverordnetenversammlung von Friedrichshain-Kreuzberg; das sieht zwar nach nicht sehr viel aus, sichert ihnen in diesem Bezirk aber immerhin eine so einflussreiche Position wie nirgendwo sonst. Da liegt es auf der Hand, dass Friedrichshain-Kreuzberg quasi zu einem Vorposten der Schönen Neuen Piratenwelt avanciert - dazu könnten einem tolle Nazivergleiche einfallen, aber zu diesem Mittel will ich mal lieber nicht greifen (obwohl ich mich natürlich bequem darauf berufen könnte, dass die Piraten schließlich selbst damit angefangen haben, sich mit den Nazis zu vergleichen). Jedenfalls entsteht der Eindruck, dass die Piraten die hiesige BVV als Experimentierfeld für ihre teils wirren, teils unverhohlen totalitären politischen Ideen nutzen und hier einfach mal austesten, wie weit sie damit kommen. Und siehe da, sie kommen erstaunlich weit.

Einen ersten Erfolg landeten sie mit dem Beschluss, die öffentlichen Gebäude des Bezirks mit Unisex-Toiletten auszustatten, um so ein Zeichen gegen das binäre Geschlechtermodell zu setzen. Das wurde im Allgemeinen wohl eher belächelt. Nun gut, Unisex-Toiletten tun ja schließlich niemandem weh. Nun aber wurde ein weiterer durch einen Antrag der Piraten initiierter Beschluss der BVV Friedrichshain-Kreuzberg bekannt: Die Bezirksmedaille, mit der einmal jährlich Einzelpersonen oder Gruppen für ihr ehrenamtliches Engagement im sozialen oder kulturellen Bereich geehrt werden, soll nicht (mehr) an kirchlich bzw. religiös engagierte Personen vergeben werden. In der Antragsbegründung hieß es: "Religion passt nicht zu Friedrichshain-Kreuzberg."

Da reibt man sich die Augen: dass so etwas möglich ist, nicht in einer totalitären Diktatur, sondern in der Mitte der deutschen Bundeshauptstadt. Tatsächlich fasste die BVV Friedrichshain-Kreuzberg diesen Beschluss bereits im Februar, aber erst jetzt drang er an die Öffentlichkeit. Was soll man daraus schließen? Wir diese Ächtung religiösen Engagements als Sommerloch-Thema wahrgenommen, oder hat es etwas mit der bevorstehenden Bundestagswahl zu tun?

Publik gemacht wurde der Fall am vergangenen Montag in Gunnar Schupelius' Kolumne "Mein Ärger" in der B.Z.; ich muss gestehen, das ärgert mich. Die B.Z. ist in meinen Augen ein verwerfliches, schändliches Blatt, und gerade Gunnar Schupelius' "(ge)rechter Zorn" fordert bei mir des Öfteren linken Zorn heraus. Aber noch weit ärgerlicher, als dass ausgerechnet die B.Z. über diesen Skandal berichtete, finde ich es, dass (zunächst) NUR die B.Z. es tat. Da muss man ja schon fast dankbar sein, dass es überhaupt jemand getan hat. Obwohl ich der B.Z. wirklich, wirklich nicht dankbar sein möchte.

Immerhin, seit dem Erscheinen von Schupelius' Beitrag hat die Affäre erhebliche Kreise gezogen. Das Erzbistum Berlin griff das Thema auf seiner Facebook-Seite auf, mehrere katholische Blogger bezogen Stellung (siehe z.B. hier, hier, hier und hier), die Nachrichtenportale kath.net, evangelisch.de und idea.de berichteten, und auch bei Radio Vatikan ist der Fall inzwischen angekommen.

Es fehlt allerdings nicht an Stimmen, die meinen, der BVV-Beschluss sei doch gar nicht so schlimm: Wer sich aus religiöser Überzeugung heraus ehrenamtlich engagiere, dem könne an einer Ehrung durch den Bezirk doch nur wenig gelegen sein. Dieser Einwand hinkt allerdings auf beiden Beinen. Schließlich sollte man doch annehmen, dass auch Menschen, die aus nicht-religiöser Überzeugung ehrenamtlich tätig sind, damit nicht in erster Linie das Ziel verfolgen, die Bezirksmedaille von Friedrichshain-Kreuzberg zu bekommen. Mit dieser Argumentation könnte man die Auszeichnung also gleich ganz abschaffen. - Im Ernst: Es sollte eigentlich auf der Hand liegen, dass eine Ehrung der hier in Frage stehenden Art nicht in erster Linie dazu dient, den Geehrten für sein Handeln zu "belohnen", sondern dazu, ihn der Öffentlichkeit gegenüber als Vorbild herauszustellen. Somit macht der BVV-Beschluss deutlich, dass religiöse Menschen in Friedrichshain-Kreuzberg keine Vorbilder sein (dürfen) sollen. Die Antragsbegründung "Religion passt nicht zu Friedrichshain-Kreuzberg" macht wohl hinreichend deutlich, dass es hier um mehr geht als um eine Medaille. Die diversen vor Ort vertretenen Religionsgemeinschaften gänzlich aus dem Bezirk zu vertreiben, dazu reichen weder der Einfluss der Piraten noch die Befugnisse der BVV insgesamt aus. Was man jedoch tun kann, ist, religiös engagierten Menschen zu verstehen zu geben, dass sie unerwünscht sind. Mit kleinen, aber beharrlichen Nadelstichen. Zu denen auch dieser hier gehört:

Wie ebenfalls Gunnar Schupelius in seiner oben angeführten Kolumne zu berichten weiß,hat die BVV Friedrichshain-Kreuzberg beschlossen, dass "Festveranstaltungen auf der Straße [...] keine religionsnahen Titel mehr tragen" dürfen: "Weihnachtsfeste müssen künftig als 'Winterfeste' und der Ramadan, sofern er in der warmen Jahreszeit liegt, als 'Sommerfest' gemeldet werden." Es scheint, als feiere die Jahresend-Flügelfigur fröhliche Urständ. Und das in einer Zeit, in der der religiöse Gehalt von Weihnachten wohl ohnehin immer weniger Menschen bewusst sein dürfte. Dieser abstruse Beschluss lässt die Religionsfeindlichkeit der Bezirkspolitiker beinahe als panischen Schrecken vor allem Religiösen erscheinen - und das hat ja schon fast wieder was Ermutigendes.

Derweil zeigt die in den letzten Tagen um sich greifende Empörung über den Beschluss, religiös engagierten Menschen die Bezirksmedaille zu verweigern, Wirkung: Vertreter verschiedener am Zustandekommen des Beschlusses beteiligter BVV-Fraktionen beeilen sich plötzlich zu versichern, SO sei das ja gar nicht gemeint gewesen: Selbstverständlich könnten weiterhin auch religiöse Menschen mit der Medaille ausgezeichnet werden, sofern ihr ehrenamtliches Engagement ansonsten den Vergabekriterien entspreche. Eine entsprechende Erklärung der Vorsteherin der Bezirksverordnetenversammlung, Kristine Jaath (Grüne), erschien auf der Internetpräsenz des Bezirks; und selbst die Fraktionsvorsitzende der Piratenpartei, Jessica Zinn, erklärte: "Menschen, die sich im Rahmen der Kirche ehrenamtlich engagieren, können weiter geehrt werden. Wir fanden nur, niemand sollte geehrt werden, nur weil er zum Beispiel evangelisch ist."

-- Also, Entschuldigung, aber da lachen doch die Hühner. Jemandem eine Medaille verleihen, "nur weil er zum Beispiel evangelisch ist" - wer käme denn auf so eine Idee? Das wäre ja fast so, als würde man jemandem einen Umweltpreis verleihen, weil er seinen Müll trennt. Wobei, das könnte ich mir sogar noch eher vorstellen. --

Aber sei dem, wie es sei: Der Eindruck, dass Religion in Friedrichshain-Kreuzberg alles in allem unerwünscht ist, bleibt bestehen, auch wenn Frau Jaath, Frau Zinn und andere plötzlich Kreide fressen. Ginge es hier nur um die Piraten, könnte man sich damit trösten, dass der Höhenflug dieser Partei offenkundig vorbei ist und das Piratenproblem sich innerhalb der nächsten zwei, drei Jahre von selbst erledigen dürfte. Aber das antireligiöse Potential in der Bevölkerung ist damit ja nicht einfach weg. Und dafür, dass Ressentiments gegen Religion(en) in urbanen Zentren wie Berlin-Friedrichshain-Kreuzberg politisch mehrheitsfähig scheinen, haben in diesem konkreten Fall ja nicht nur die fünf Piraten in der BVV gesorgt, sondern auch die Abgeordneten der Grünen, der Linken und, man höre und staune, der SPD. Vielleicht hat es erst der Piraten als Provokateure bedurft, damit die Vertreter der etablierteren Parteien sich zu einem solchen Schritt entschließen konnten. Aber solche Provokateure werden sich immer finden, ob sie nun orangefarbene T-Shirts und Nerd-Brillen tragen oder irgend etwas Anderes. Ich möchte behaupten: Die Religionsgemeinschaften in den jungen, hippen Zentren unserer Großstädte werden sich warm anziehen müssen.

Samstag, 10. August 2013

"...dann gehen wir eben um die Ecke zu den Biertrinkern"

Der Badische Weinbauernverband schlägt Alarm: der Weinbauregion Breisgau gehen die Weinprinzessinnen aus. "Seit zehn Jahren ist es schwierig, Weinprinzessinnen zu finden", klagt Verbands-Bereichsvorsitzender Urban Kerner* (61). "Die Aufgabe der Weinprinzessin ist es, den Breisgauer Wein zu repräsentieren, bei Festeröffnungen eine Ansprache zu halten und mit jungen Leuten in Kontakt zu treten", führt Kerner weiter aus. "Überwiegend sind die Veranstaltungen am Wochenende. Wenn die Weinprinzessin angefordert wird, dann muss sie kommen. Das ist eine Pflichtaufgabe."

Eine Pflicht, der sich offenbar immer weniger junge Frauen unterwerfen wollen. Dabei seien die Anforderungen an das Amt durchaus nicht übertrieben hoch, so Kerner: "Man muss keine Sommelière sein. Man muss Liebe zum Wein haben, gerne ein Glas Wein trinken. Wenn ich nur Saft trinke, dann kann ich keine Weinprinzessin werden. Sie muss keine Winzertochter sein, aber sich im Bereich des Weins gut auskennen." Als weitere unverzichtbare Eignungskriterien nennt der Verbandssprecher: "Bewerberinnen müssen volljährig sein und aus dem Breisgau stammen. Sie dürfen nicht verheiratet sein. Wir suchen einfach eine junge adrette Frau in einem vernünftigen Alter."

Dass die Zahl der Bewerberinnen seit Jahren rückläufig ist, empfindet Urban Kerner als umso unverständlicher, als das Amt der Weinprinzessin durchaus mit einigen Privilegien verbunden sei: "Sie bekommt für ein Jahr ein Auto gesponsert. Kein Porsche, aber ein adrettes, schönes Auto. Die Prinzessin darf kostenlos Wein trinken auf den Festen. Dort ist sie natürlich Ehrengast."

"Adrettes Auto, dass ich nicht lache", widerspricht Insa-Marie Ziepebusch* von der Interessengemeinschaft ehemaliger Weinprinzessinnen e.V.: "Wenn man jedes Wochenende von einem Weinfest zum anderen gondeln muss, dann braucht man einfach ein Auto. Das ist kein Privileg, sondern eine simple Notwendigkeit. Ob das Auto adrett ist oder nicht, ist dabei absolut zweitrangig. Aber der Weinbauernverband hat irgendwie so eine fixe Idee von Adrettheit." Das kostenlose Weintrinken, so fügt sie hinzu, stoße zudem auch schnell an seine Grenzen, wenn man immer mit dem Auto unterwegs sei.

Einig sind sich Kerner und Ziepebusch darin, dass der Mangel an Weinprinzessinnen eine zusätzliche Belastung für die wenigen verbleibenden Amtsträgerinnen darstellt. "Es gibt ja nicht weniger Weinfeste, nur weil es weniger Weinprinzessinnen gibt", seufzt Frau Ziepebusch. "Also ist man noch mehr unterwegs."

Der Badische Weinbauernverband denkt deshalb verstärkt darüber nach, die Anzahl der Weinfeste im Breisgau zu reduzieren oder zumindest auf eine geringere Anzahl von Standorten zu konzentrieren. Doch mit solchen Plänen machen die Funktionäre sich an der Basis keine Freunde. "Das mag für Freiburg funktionieren", merkt der Gastronom Dirk Pichler*, Kreisvorsitzender der Weintrinkervereinigung, dazu an, "für Weintrinker auf dem Land bedeutet aber die Verlängerung einer einfachen Strecke von 30 auf 60 Kilometer, dass Weinfeste praktisch nicht mehr stattfinden werden". Vor allem die älteren Breisgauer würden dann sagen: "Dann gehen wir lieber zu den Biertrinkern um die Ecke." Urban Kerner hält solche Bedenken für übertrieben: "Der ganze Breisgau ist doch nur gut 1.300 km² groß, so weit können die Entfernungen da doch gar nicht sein", gibt er zu bedenken.

Dennoch regt sich an der Basis Widerstand gegen die Zusammenlegungspläne. Woche für Woche gehen beim Weinbauernverband Briefe ein, in denen Alternativen zur Verringerung der Weinfest-Standorte angeregt werden. So wird gefragt, ob es nicht auch Weinfeste geben könnte, bei denen nicht zwingend eine Weinprinzessin dabei sein muss. Bei einem Studientag in Dirk Pichlers Gartenlokal "Naboths fröhliches Weinbergle" erklärte die emeritierte Weinkönigin Lonny Buber-Rebentisch* den 150 Zuhörern, warum der neue Zuschnitt der Weinfestbezirke nur eine Übergangslösung sein könne und der Prinzessinnenmangel grundsätzlich angegangen werden müsse. Zum Beispiel indem man den Pflichtzölibat abschafft oder "Feminae probatae", erfahrene, verheiratete Frauen zu Weinprinzessinnen macht. "Auch die Zulassung von Männern zum Amt der Weinprinzessin", so Buber-Rebentisch, "darf kein Tabu sein."

Urban Kerner hält von derlei Plänen, gelinde gesagt, nicht viel. "Ich warne davor, nur wegen einer momentanen Krise bewährte Traditionen in Frage zu stellen", betont er. Ungemach droht ihm und seinem Verband derweil auch aus einer anderen Richtung: Mehrere lokale GRÜNEN-Politikerinnen sind auf die schwelende Debatte aufmerksam geworden und fordern die generelle Abschaffung des Amtes der Weinprinzessin, da dieses die Monarchie verherrliche und junge Frauen instrumentalisiere, um dem Alkoholismus ein romantisierendes Mäntelchen umzuhängen.



* alle Namen von der Redaktion geändert.


[Quellenhinweis: Dieser Blogbeitrag ist ein spontan zusammengeschusterter "Remix" aus diesem und diesem Presseartikel. Ich fand, das passt irgendwie...]

Mittwoch, 7. August 2013

Der Lauscher an der digitalen Wand…


…hält mich für gefährdungsrelevant!

Prism, Tempora, XKeyscore… Seit Wochen erfährt man, wenn man es denn wissen will, mehr und mehr darüber, wie internationale Geheimdienste – allen voran die US-amerikanische National Security Agency (NSA) – Internetkontakte ausspionieren. Und je mehr man darüber erfährt, umso mehr verfestigt sich der Eindruck, dass die Geheimdienste technisch in der Lage sind, die gesamte Online-Aktivität praktisch jedes beliebigen Internetnutzers zu überwachen. Kein Wunder, dass das in den einschlägigen sozialen Netzwerken derzeit das Aufregerthema Nummer Eins ist. Verwunderlicher könnte man es finden, dass die meisten intensiven Nutzer sozialer Netzwerke – ich selbst bilde da keine Ausnahme – sich durch das Wissen um ihre Überwachbarkeit nicht spürbar in ihren Aktivitäten einschränken lassen.

Das erscheint erst einmal widersinnig, ist es aber nicht unbedingt. Ich zum Beispiel wüsste beim besten (oder schlimmsten) Willen nicht, was internationale Geheimdienste mit den Informationen, die sie über mich sammeln könnten, anfangen wollten; und so dürfte es auch vielen Anderen gehen. Mit dieser Feststellung will ich gar nichts verharmlosen oder entschuldigen: In jedem Fall stellen die genannten Internet-Spionageprogramme eine massive Verletzung der Privatsphäre zahlloser unbescholtener Menschen und damit einen eklatanten Eingriff in die Grundrechte dar. Dagegen zu protestieren, ist mehr als berechtigt – aber das heißt nicht zwingend, dass jeder Einzelne sich durch diese Überwachungsaktivität persönlich bedroht fühlen muss. Also zumindest nicht in dem Sinne, dass man jederzeit damit rechnen müsste, von Männern in schwarzen Anzügen gekidnappt und nach Guantánamo verschleppt zu werden, weil man in einer privaten Facebook- oder WhatsApp-Nachricht einen missverständlichen Scherz gemacht hat.

Oder vielleicht doch? – Möglicherweise ist so eine permanente Rundumüberwachung des Internetverkehrs einfach ein paar Nummern zu groß, als dass man sich wirklich bewusst machen könnte, was für Folgen sie für den Einzelnen haben kann – oder wie so etwas überhaupt funktioniert. Hilfreich kann es da sein, zum Vergleich einen Fall zu betrachten, der um einige Nummern kleiner ist, dafür aber auch näher dran am eigenen Erfahrungsbereich. Einen Fall, in dem – soweit bekannt – nicht die NSA ihre Finger im Spiel hat, sondern „nur“ das Berliner LKA.

In der links-alternativen Szene von Berlin-Mitte und –Prenzlauer Berg regt sich in jüngster Zeit verschärfter Protest gegen Immobilienspekulationen, die die Infrastruktur der „Kieze“ bedrohen; konkreter gesagt: gegen Investoren, die Altbau-Mietshäuser preisgünstig aufkaufen, um dann durch oft sinnlose Luxussanierungen die Mieten in die Höhe zu treiben, Kneipen oder Kultureinrichtungen ebenso aus den Häusern herausdrängen wie langjährige Mieter und auf mittlere Sicht vielfach anstreben, die Immobilien entweder in Bürokomplexe umzugestalten oder häppchenweise als Eigentumswohnungen zu verscherbeln.

Am 12. April 2013 fand in einem der besonders betroffenen Kieze eine Demonstration unter dem Motto „Wir bleiben alle!“ statt; gleichzeitig sprach es sich in gut informierten Kreisen herum, dass das Berliner LKA den Gesellschaftern der Investorengruppe Zelos Properties GmbH mitgeteilt habe, der Wirt einer in einem dieser Gesellschaft gehörenden Haus gelegenen (und von der Kündigung bedrohten) Kneipe gehöre, so wörtlich, zu den „Rädelsführern“ der Proteste. (Tatsächlich nahm der besagte Wirt an der Demonstration gar nicht teil und war nahezu während der gesamten Vorbereitungsphase in Urlaub gewesen.)

Diese gezielte Indiskretion zog Kreise bis ins Abgeordnetenhaus, wo der Abgeordnete Klaus Lederer (Die Linke) am 29. April eine Kleine Anfrage an den Senat stellte – des Inhalts: „Gibt das LKA Informationen über Mieter an Eigentümer weiter?“ – Jedem, der in der rhetorischen Disziplin „sich winden wie ein Regenwurm und mit möglichst geschraubten Formulierungen möglichst wenig sagen“ noch Anschauungsunterricht benötigt, ist zu empfehlen, die Antwort des Innensenators Frank Henkel (CDU) auf diese Anfrage in voller Länge zu lesen. Allen anderen möge eine kurze Zusammenfassung genügen:

Senator Henkel erklärte, das LKA habe „keine derartigen Informationen weitergegeben“; hingegen habe die Berliner Polizei die Immobilieneigentümer über einen im Internet verbreiteten Aufruf zur Demonstration vom 13.04. informiert, da sie „eine Informationspflicht bei gefährdungsrelevanten Sachverhalten“ habe.

Wo genau aber sah das LKA die hier angesprochene „Gefährdungsrelevanz“?

Offenbar in der im Demonstrationsaufruf enthaltenen Forderung, das „weitere Ausbluten der kulturellen Identität dieser Stadt zu stoppen“.

Gefährdung? Okay – aber wer gefährdet da eigentlich wen?

Oder anders gefragt: Wie kann man aus dieser Formulierung herauslesen, den Immobilienbesitzern drohe eine Gefahr, vor der man sie warnen müsse?

Nun, immerhin ist von Blut die Rede. Da ich seit einiger Zeit Deutsch-Nachhilfeunterricht für verschiedene Klassenstufen gebe, möchte ich es nicht ausschließen, dass ein Polizeibeamter, der mit Hängen und Würgen den Mittleren Schulabschluss geschafft hat, zu der semantischen Fehlleistung in der Lage wäre, die Forderung, das „Ausbluten der kulturellen Identität dieser Stadt zu stoppen“, als Aufruf zum Blutvergießen misszuverstehen (früher hätte ich das nicht für möglich gehalten). Für noch wesentlich wahrscheinlicher halte ich es jedoch, dass ein Computerprogramm, das lediglich einzelne Wörter oder Wortbestandteile, nicht aber semantische Zusammenhänge erkennen kann, auf den inkriminierten Satz gestoßen ist. (Dass Senator Henkel es offenbar nicht erklärungsbedürftig fand, weshalb dieser Satz eine „Gefährdungsrelevanz“ implizieren solle, steht freilich auf einem anderen Blatt.)

Wenn wir dieses kleine Fallbeispiel mal gedanklich ins Große übertragen, nämlich auf die NSA und ihre Totalüberwachung der Internet-Kommunikation, erkennen wir ein interessantes Problem. Eine so gewaltige Datenmenge, wie sie Tag für Tag durch den virtuellen Äther rauscht, überhaupt erfassen zu können, ist allein eine Frage der Rechnerleistung, und man darf wohl davon ausgehen, dass diesbezüglich bei den Geheimdiensten kein Mangel herrscht. Es ist aber davon auszugehen, dass die Computerprogramme die eingehenden Daten lediglich mehr oder weniger oberflächlich auf bestimmte Schlüsselbegriffe hin prüfen können und dass ihre Fähigkeiten, komplexe semantische Zusammenhänge zu erkennen, einigermaßen begrenzt sind. Um unter den vermeintlich relevanten Informationen die wirklich relevanten zu erkennen, müssen dann eben doch wieder Menschen ’drübergucken. Und da dürften die Kapazitäten auch des bestausgestatteten Geheimdienstes bald an ihre Grenzen stoßen. Was die Frage aufwirft, wie effizient diese ganze Datensammelei im Internet eigentlich sein kann.

Vor vielen Jahren habe ich mal einen Spionagefilm gesehen, in dem sich Agenten, wenn sie konspirative Gespräche zu führen hatten, in Wohnungen trafen, von denen sie wussten oder annahmen, dass sie abgehört wurden, dort dann ein Tonband abspielten, auf dem ein völlig banales Gespräch (über den letzten Urlaub oder darüber, wie die Kinder sich in der Schule so machen) zu hören war, und dann auf den Balkon gingen, um dort das eigentlich wichtige Gespräch zu führen. Damals habe ich nicht verstanden, warum sie sich nicht gleich an einem Ort treffen, wo sie nicht abgehört werden. Aber eigentlich ist das Prinzip ganz einfach: Noch wirksamer, als die relevanten Informationen bloß vor dem Gegner zu verbergen, ist es, den Gegner darüber hinaus noch mit irrelevanten Informationen zu füttern und dadurch beschäftigt zu halten. Und genau das, sollte man meinen, geschieht im Internet doch auch: Die relevanten Informationen werden durch eine Überfülle von irrelevanten Informationen verdeckt. Der beste Ort, um einen Baum zu verstecken, ist der Wald.

Das schließt natürlich keinesfalls aus, dass eine im Grunde völlig harmlose Äußerung irrtümlich für „gefährdungsrelevant“ gehalten wird. Aber mein Laienverstand sagt mir, dass diese Gefahr eher sinkt, je mehr Daten gesammelt werden. Man kann schließlich nicht jeden verhaften, der „Bombe“ sagt. Darum habe ich für mich persönlich weiterhin keine große Angst vor der NSA oder anderen Geheimdiensten und glaube nicht, dass die sich sonderlich für mich interessieren – nicht einmal für diesen Blogbeitrag. Ungemütlich – und auch das zeigt das oben angeführte Beispiel vom LKA, den Immobilienspekulanten und dem Kneipenwirt – könnte es für viele weit eher dann werden, wenn nicht für die Öffentlichkeit bestimmte Informationen, die mit geheimdienstlichen Mitteln aus dem Internet gezogen wurden, an Dritte weitergegeben werden – sei es an Vermieter, Arbeitgeber, Banken, das Finanz- oder Arbeitsamt, die GEMA oder schlimmstenfalls die Exfrau.

Denn irgendwo hat ja doch jeder etwas zu verbergen. Wenn auch nicht unbedingt vor der NSA.

Montag, 5. August 2013

Die Pastoralen Räume in unseren Köpfen

Ich bin kein regelmäßiger Zeitungsleser - nicht mehr, sollte ich wohl sagen. Ich war es mal, aber während meiner Studentenzeit hat das Grassieren kostenloser Probeabos, die sich, wenn man sie nicht rechtzeitig kündigte, schwuppdiwupp in kopstenpflichtige Dauerabos verwandelten, mir das Medium "Tageszeitung" gründlich verleidet. Inzwischen lese ich Zeitungen praktisch nur noch, wenn sie kostenlos in Cafés ausliegen - oder eben online, aber dann natürlich nur einzelne Artikel.

Mein Überblick über die Presselandschaft ist also bestenfalls als punktuell zu bezeichnen, aber ich habe doch den Eindruck, dass unter den Berliner Tageszeitungen der TAGESSPIEGEL diejenige ist, die am meisten Bereitschaft zeigt, sich mit Themen, die die Katholische Kirche betreffen, nicht nur auf weltpolitischer, sondern auch auf regionaler (sprich: diözesaner) Ebene zu befassen.

Manchmal wünscht man sich allerdings, er würde es lassen.

Jüngstes Beispiel: ein Artikel unter der Überschrift "Kardinales Unverständnis". Ein Frontalangriff auf den - bisher, so suggeriert es der Artikel - durchaus populären Erzbischof von Berlin, Rainer Maria Kardinal Woelki. Den Artikel ziert ein Bild des Kardinals, auf dem sein Gesicht praktisch zur Gänze hinter einer Monstranz verschwindet (das ist, den Unkundigen sei's gesagt, so ein bizarres, typisch katholisches Kultgerät, das v.a. bei Fronleichnamsprozessionen - gruselig! - den Gläubigen vorangetragen wird. Sowas wie die Heilige Sandale von Jerusalem also, nur mit mehr Gold und Glitzer.). Die Aussage des Bildes ist unmissverständlich: Der Blick des Kardinals ist so sehr auf Tradition, Pomp und sakrales Brimborium fixiert, dass er dahinter die Menschen nicht mehr sieht. Und für die sollte die Kirche doch eigentlich da sein, oder?

Man möchte es eigentlich niemandem zumuten, den recht länglich geratenen Artikel aus der Feder der einschlägig vorbest bekannten Claudia Keller zur Gänze zu lesen; speziell die human interest-triefenden Passagen über die Familie Plümpe, die als Fallbeispiel für die von Kardinal Woelki enttäuschten Katholiken fungiert, kann man sich getrost schenken. Ich bin mal so frei, die wirklich wesentlichen Passagen des Artikels hier zu dokumentieren - und zu kommentieren.
"Es hatte doch alles so gut angefangen mit Kardinal Rainer Maria Woelki und den Berliner Katholiken. Die Art, mit der er auf die Menschen zuging, und sein Werben für einen menschlicheren Umgang der Kirche mit Homosexuellen und wiederverheirateten Geschiedenen machten Hoffnung, dass der 56-Jährige vielleicht doch zu den Liberaleren gehört unter den deutschen Bischöfen."
Wohlgemerkt: Im weiteren Verlauf des Artikels geht es um ganz Anderes als den "Umgang der Kirche mit Homosexuellen und wiederverheirateten Geschiedenen". Erwähnt werden müssen sie trotzdem. Was schrieb doch Kardinal Dolan jüngst über die Besessenheit der Medien von "heißen Eisen"? - Womöglich noch bezeichnender: Die Annahme, Kardinal Woelki gehöre "vielleicht doch zu den Liberaleren [...] unter den deutschen Bischöfen", kann ja nichts Anderes gewesen sein als eine Hoffnung. Einen konservativen Erzbischof kann doch niemand wollen.

Was wird dem Berliner Erzbischof denn nun aber konkret vorgeworfen?
"Woelki will das Erzbistum tiefgreifend umstrukturieren, die 100 Gemeinden sollen bis 2020 zu 30 Großpfarreien fusionieren."
Im liberalen Sinne, das wusste schon Loriot, heißt liberal nicht nur liberal; andernfalls könnte man auf die Idee kommen, Rationalisierungsmaßnahmen wären etwas durchaus Liberales, wohingegen es eher konservativ wäre, bestehende Gemeindestrukturen erhalten zu wollen. -- Aber davon mal ganz ab: Natürlich bedeutet die Zusammenlegung von Pfarreien immer schmerzhafte Einschnitte. Das sehe ich auch in meiner eigenen Gemeinde, die schon an der letzten Fusionswelle (2003 wurden die Gemeinden St. Antonius und St. Pius zusammengelegt) einigermaßen zu kauen hatte, obwohl das von der Papierform her ein relativ "leichter Fall" hätte sein sollen (zumal beide Gemeinden schon vor der Fusion vom selben Pfarrer betreut worden waren). Inzwischen, so hörte ich kürzlich in einer Diskussion im privaten Kreis, wohnen einige der aktivsten Gemeindemitglieder eigentlich sowieso nicht mehr im "Einzugsbereich" dieser Pfarrei; dass sie ihre kirchliche Heimat trotzdem noch dort sehen, hat wohl nicht zuletzt auch mit der Person des Pfarrers zu tun, der schon über 40 Jahre in St. Antonius ist - und diese Zahl lässt bereits erkennen, dass er sein Amt nicht mehr unbegrenzt lange wird ausüben können. Auch ohne die anstehenden Strukturreformen wäre die Zukunft des Gemeindelebens von St. Antonius in seiner bisherigen Form also auf mittlere Sicht ungewiss. In vielen anderen Pfarreien mag es ähnlich aussehen. Es liegt aber auf der Hand, dass die angekündigte Schaffung von "Pastoralen Räumen" (wie die projektierten Großpfarreien offiziell genannt werden) die Unsicherheit in den Gemeinden eher erhöht; und ich möchte davor warnen, allzu schnell mit dem Vorwurf bei der Hand zu sein, den Kritikern der Fusionspläne gehe es nur um ihre eigene Bequemlichkeit und Besitzstandswahrung.

Fragen muss man sich allerdings: Was wäre, angesichts von "Mitgliederschwund und [...] Priestermangel", die Alternative zu einer Zusammenlegung von Pfarreien? Der Artikel ist um eine Antwort nicht verlegen. So wird die Frage aufgeworfen,
"warum nicht auch in Berlin qualifizierte Laien Gemeinden leiten können, so wie es in anderen Teilen der Weltkirche der Fall ist. Und ob es sonntags Gottesdienste geben könnte, bei denen nicht zwingend ein Priester dabei sein muss."
Genau! Wieso muss beim Gottesdienst eigentlich unbedingt ein Priester dabei sein? - Keine Sorge, Claudia Keller erklärt es:
"[D]ie katholische Messe beinhaltet immer eine Eucharistiefeier (das katholische Abendmahl), und die darf nur von einem geweihten Priester abgehalten werden."
Nun ja: So richtig viel ist damit ja nicht erklärt. Dass die Eucharistie hier als "das katholische Abendmahl" bezeichnet wird, zeigt, dass die Evangelische Kirche zum Vergleich herangezogen werden soll, um die Katholische zu erklären. Und das kann ja nicht gut gehen, nicht an einem Punkt, an dem die Konfessionen sich so fundamental unterscheiden. Warum müssen die Katholiken denn in jeder Messe ein "Abendmahl" haben? Haben die Protestanten doch auch nicht! - Hier jetzt zu erklären, warum das so ist, was das katholische Eucharistieverständnis vom evangelischen Abendmahl unterscheidet, und dass und warum die Eucharistie das Zentrum ist, auf das die gesamte Messliturgie ausgerichtet ist, während im evangelischen Gottesdienst tendenziell eher die Predigt im Mittelpunkt steht - das alles wirklich verständlich zu machen, wäre vermutlich wirklich ein bisschen ville für einen Zeitungsartikel. Aber vermutlich sollen es die Leser auch gar nicht verstehen, sonst würden sie am Ende gar Kardinal Woelki Recht geben, der "[a]ndere sonntägliche Gottesdienstformen" nicht erlauben will. Andererseits: Wie sollte man von einer TAGESSPIEGEL-Redakteurin erwarten, das ihren Lesern begreiflich zu machen, wenn viele der betroffenen Katholiken es offenbar selbst nicht verstehen?

Ein Theologe könnte es erklären. Bestimmt. Man könnte dazu mal einen Studientag anbieten. Oh, gab's schon? In Gemeinde St. Laurentius in Tiergarten? Tatsächlich:
"Ein emeritierter Theologe erklärte den 150 Zuhörern, warum der neue Zuschnitt der Verwaltungsbereiche nur eine Übergangslösung sein könne und der Priestermangel grundsätzlich angegangen werden müsse. Zum Beispiel indem man den Pflichtzölibat abschafft oder 'Viri probati', erfahrene, verheiratete Männer zu Gemeindeleitern macht."
Aha! Sehr fein, jedenfalls entwaffnet ehrlich, wäre es gewesen, hätte der hier ungenannte emeritierte Theologe seinen Vortrag "Priestermangel als Chance" betitelt. Denn das scheint hier doch die verborgene Agenda zu sein: den Priestermangel zu nutzen, um zwar rein räumlich gesehen "die Kirche im Dorf zu lassen", die Gemeinden also in ihrer bisherigen Form zu erhalten, den schrumpfenden Klerus aber draußen zu lassen und drinnen eine hippe, coole Laienkirche zu etablieren. Die dann natürlich auch viel "näher an den Menschen" ist.

Aussagekräftig ist hier nicht zuletzt ein (ausgerechnet!) "älteren Katholiken" in den Mund gelegter Kommentar zu der Aussicht auf Großpfarreien, in denen der Weg zur Sonntagsmesse sich womöglich vervielfacht: "Dann gehen wir lieber zu den Protestanten um die Ecke." In der Tat: Bei den Protestanten finden die Kirchenbesuchern ja alles, was der Artikel als Ausweg aus dem Dilemma des Priestermangels suggeriert: Gottesdienste, die von Personen geleitet werden, die nach katholischem Amts- bzw. Weiheverständnis keine Priester sind; von Personen, die auch heiraten oder sogar Frauen sein dürfen. Wenn man nun bedenkt, dass hier im Nordosten Deutschlands die Evangelische Kirche in der Fläche wesentlich besser aufgestellt ist als die Katholische, und wenn, wie hier der Eindruck erweckt wird, vielen Katholiken das spezifisch Katholische an ihrer religiösen Praxis weniger wichtig ist als der kurze Weg zur Kirche - warum macht dann das Erzbistum nicht gleich seinen Laden dicht oder fusioniert mit der Evangelischen Landeskirche?

Aber da macht Kardinal Woelki nicht mit. Der will ja nicht mal den Zölibat abschaffen - obwohl "im März sogar der Nuntius, der Botschafter des Papstes in Berlin, erklärt hatte, dass der Zölibat 'kein Dogma' sei und man darüber weltkirchlich diskutieren könne". Angesichts dieser starren Haltung Woelkis kommt Claudia Keller nicht umhin, zu resümieren:
"Woelki gehört nicht zum liberalen Lager, so viel ist klar. Vermutlich hat er genau deshalb 2014 gute Chancen, den Vorsitz der Deutschen Bischofskonferenz zu übernehmen, wenn der Freiburger Erzbischof Robert Zollitsch das Amt aus Altersgründen abgibt."
Da stellt sich freilich die Frage, wie es zu erklären ist, dass der Vorsitz der Deutschen Bischofskonferenz bereits seit über einem Vierteljahrhundert mit Vertretern des "liberalen Lagers" - 1987-2008 Karl Kardinal Lehmann, seither Robert Zollitsch - besetzt ist. Aber die Frage soll der geneigte Leser sich bitte nicht stellen, sondern sich lieber den deutschen Episkopat im festen Würgegriff reaktionärer Dunkelmänner vorstellen. Wer kann da noch helfen? - Wer wohl anders als Papst Franziskus, der Super-Liberale! Auf diesen nämlich "hoffen", so weiß es Claudia Keller, "[v]iele Berliner Katholiken", denn er
"hatte 2010 als Erzbischof von Buenos Aires daran erinnert, dass die Kirche zu den Menschen kommen muss und nicht umgekehrt. Wenn es nicht genug Priester gibt, sollten die verbleibenden 'Garagen mieten und wenigstens von einem Laien Wortgottesdienst mit Kommunion halten lassen'."

Einmal ganz davon abgesehen, dass der damalige Erzbischof von Buenos Aires bei dieser Äußerung wohl entschieden andere Verhältnisse vor Augen hatte als jene, die in der nordostdeutschen Diaspora herrschen, spricht aus seinen Worten doch wohl deutlich genug die Auffassung, dass eine solche Form kirchlichen Lebens nur eine Notlösung sein könne. Bei so einigen "liberalen Katholiken" hierzulande hat man hingegen den Eindruck, dass sie sich genau das für ihre Kirche wünschen: Gemeindeversammlungen in gemieteten Garagen, wo bärtige Pastoralreferenten die alte Kifferhymne "Herr, Deine Liebe ist wie Gras und Ufer" auf der Wandergitarre 'runterklampfen und Brot und Wein in lockerer Runde und ganz ohne Transsubstantiation herumgereicht werden. Zugegeben: Das hat ja was. Jedermanns Geschmack ist es sicher nicht, aber wer's mag, der soll es gerne mögen - und auch machen - dürfen. Gerade wenn in Folge der anstehenden Strukturreformen im Erzbistum (wie auch in anderen Diözesen) zukünftig weniger Eucharistiefeiern pro "Gottesdienststandort" werden stattfinden können als bisher, dürfte kaum jemand etwas dagegen haben, wenn engagierte Laien solche und andere Veranstaltungen organisieren, um das Gemeindeleben auch außerhalb des sonntäglichen Messbesuchs lebendig zu erhalten. Aber ein Ersatz für die Heilige Messe sind derartige Feiern eben nicht.

Samstag, 22. Juni 2013

Getränke und Gentrifizierung

Hallo. 

Ich dachte mir, ich versuch's mal mit 'nem induktiven Einstieg. 

Nehmen wir mal an, jemand springt aus Protest gegen die Schwerkraft aus dem zehnten Stock. Da kann er auf dem Weg nach unten noch so sehr gegen die Schwerkraft protestieren, am Ende schlägt er doch am Boden auf.

Was sagt uns das? - Zunächst einmal, dass es gewisse Realitäten gibt, die man - ob man sie nun gut findet oder nicht - einfach mal als Realitäten anerkennen und sich entsprechend verhalten sollte. Die Frage ist, was für Realitäten es im Einzelnen sind, für die dies ebenso unbedingt gilt wie etwa für die Schwerkraft.

Ein zuweilen dem Hl. Franz von Assisi oder auch dem Hl. Ignatius von Loyola zugeschriebenes, tatsächlich aber wohl von dem US-amerikanischen Theologen Reinhold Niebuhr stammendes Gebet, das mich von jeher stark berührt hat, lautet: "Gott gebe mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden". Man kann heute vielfach den Eindruck gewinnen, dass es mit der Weisheit der Unterscheidung in unserer Gesellschaft nicht sehr weit her ist. Die Einen wollen ständig Dinge ändern, die schlechthin unveränderlich sind; die Anderen erklären beharrlich Dinge für unveränderlich, die man durchaus ändern könnte, wenn man denn wollte.

Dass die Ersteren im Wesentlichen dem linken Spektrum angehören, überrascht nicht sonderlich; eher schon, dass die Letzteren vielfach dem liberalen Spektrum zuzuordnen sind. Man könnte sich fragen, was es denn bitte mit Freiheit zu tun haben soll, wenn einem immerzu gepredigt wird, die Welt-, Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung sei nun mal, wie sie ist, und als solche "alternativlos". Wenn man ein Weilchen darüber nachdenkt, kann man zu dem Schluss kommen, dass die Liberalen - zumindest jene, für die die Freiheit, die sie meinen in erster Linie die des Marktes (und nicht etwa die des Menschen) ist - tatsächlich die größten Deterministen sind, die es gibt. Fortschritt lässt sich nicht aufhalten; der Eigendynamik der wirtschaftlichen Entwicklung darf man nicht in die Speichen greifen; die Marktwirtschaft in ihrem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf. Man könnte die Liberalen nun fragen: Wenn sowieso alles nach inneren Gesetzmäßigkeiten abläuft, die als solche unveränderlich sind - wofür braucht man euch dann noch? - Aber ich schweife ab.

Zu den Dingen, die nach Auffassung vieler im beschriebenen Sinne liberal gesinnten Menschen ebenso wenig auszurichten ist wie gegen die Schwerkraft, gehört zum Beispiel die Gentrifizierung. Schon mehrfach, sowohl in persönlichen Gesprächen als auch in online-Diskussionen, sind mir Äußerungen des Inhalts begegnet, dieses ganze Gerede über Gentrifizierung sei völliger Quatsch, es sei schließlich ganz normal, dass die Mieten in Innenstadtbezirken steigen und dadurch einkommensschwache Mieter früher oder später durch Besserverdienende verdrängt werden. Dazu ist zunächst dreierlei anzumerken:
  1. Das durch den Begriff Gentrifizierung beschriebene Phänomen ist durchaus komplexer als ein bloßes Steigen von Mieten.
  2. Dass es sich bei der Gentrifizierung um einen Prozess handelt, der sich gemäß einer inneren Gesetzmäßigkeit durchaus folgerichtig vollzieht, bestreitet ja gar niemand - abgesehen vielleicht von einigen Ureinwohnern von Berlin-Prenzlauer Berg, die die Gentrifizierung für eine Verschwörung halten, für die sie pauschal "die Schwaben" verantwortlich machen.
  3. Dass dieses Phänomen unter bestimmten gesellschaftlichen und ökonomischen Rahmenbedingungen quasi "naturgemäß" auftritt, heißt nicht zwangsläufig, dass man es gut und richtig finden muss.
Aus der Distanz betrachtet hat es ja durchaus etwas Faszinierendes, wie schlechte und darum billige Wohngegenden sich über einen Zeitraum von ein paar Jahren oder Jahrzehnten erst in subkulturell-alternative Szenebezirke und dann in ebenso teure wie öde Spießbürgersiedlungen verwandeln. Schaut man etwas näher hin, dann sind die dahinter stehenden Mechanismen gar nicht so schwer zu verstehen, und man kann feststellen, dass ganz ähnliche Prozesse auch in allerlei anderen Bereichen unserer Gesellschaft ablaufen. So zum Beispiel nicht nur auf dem Immobilien-, sondern auch auf dem Getränkemarkt.

(Das erinnert mich übrigens daran, wie ich mal in Karlsruhe in einem völlig überfüllten Supermarkt war und eine Durchsage hörte, in der es in schönstem Badisch hieß: "Frau Soundso bitte zum Gedrängemarkt!" Ach so, dachte ich, deshalb ist es hier so voll.)

Zur Sache: Die Gentrifizierung von Getränken lässt sich geradezu idealtypisch an der Geschichte der Marke Bionade darstellen. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wann und wo ich meiner erste Bionade trank. Diese Limo galt damals in den Kreisen, in denen ich mich bevorzugt bewegte, als das "alternative" Getränk schlechthin. Nicht zuletzt auch als alkoholfreie Alternative zu Bier. Denn was tut der passionierte Biertrinker, wenn er mal einen Abend nüchtern bleiben will oder muss? Alkoholfreies Bier ist ja für Viele ein unbefriedigender Kompromiss, außerdem schmeckt es meistens nicht; Wasser macht auf die Dauer einfach keinen Spaß; und die meisten Softdrinks sind der an Herbes gewöhnten Zunge des Biertrinkers schlicht zu süß. Nicht so Bionade. Was aber vermutlich noch wichtiger war als der Geschmack, war der Umstand, dass Bionade das Produkt einer kleinen, ländlichen Brauerei war, ausschließlich aus natürlichen Zutaten bestand und durch biologische Fermentierung hergestellt wurde. Ein moralisch sauberes Produkt, wo gab's sowas schon? Dass das auf dem Kronkorken abgebildete Logo - das eigentlich ein weißes O auf blauem Grund mit rot ausgefülltem Loch in der Mitte darstellen sollte - aussah wie die Kokarde der Royal Air Force, entzückte zudem die Mods und Indie-Popper. Kurz, Bionade war das perfekte Getränk für den urbanen Rebellen der späten 90er und frühen 2000er. Auch die Werbung war darauf ausgerichtet, das Produkt als nonkonformistisch, jung und "alternativ" zu positionieren. Irgendwann gab es dann eine Plakatkampagne, in der Bionade sich als "das offizielle Getränk einer besseren Welt" bezeichnete. Das war allerdings leider auch schon der Anfang vom Ende.

Bionade war einfach zu bekannt und zu populär geworden, um noch "Underground" sein zu können. Plötzlich sah man auch Leute, die man doof fand, Bionade trinken. Zugleich wurde sie teurer. Ab 2005 übernahm Coca Cola den Vertrieb von Bionade. Damit war die Marke für die subkulturellen Kreise, denen sie ihren Aufsteig verdankt, moralisch so gut wie tot: Sie hatte einen Pakt mit dem Satan geschlossen. (Wie tief der Schock über diesen Verrat sitzt, ist auch daran abzulesen, dass sich bis heute das falsche Gerücht hält, die Marke selbst sei an Coca Cola verkauft worden. Tatsächlich gab es zwar wiederholt Übernahmeangebote, diese wurden jedoch abgelehnt. Seit 2012 gehört Bionade allerdings zu Dr. Oetker, was auch nicht unbedingt besser ist.)

Meiner persönlichen Erinnerung zufolge schlug in dem Moment, in dem Bionade sich ans Establishment verkaufte, die große Stunde von Club Mate - bis dahin eher ein Nischenprodukt vor allem für Informatiker und andere Nerds, die es vermutlich vor allem tranken, um die ganze Nacht wach bleiben und an ihren Computern 'rumfrickeln zu können: Club Mate enthält erheblich mehr Koffein als Kaffee, und obendrein verbrennt man sich nicht den Mund daran. Den urbanen Rebellen war der Koffein-Kick der Mate natürlich ebenfalls recht, wenngleich aus anderen Gründen; nach der Enttäuschung über den Verrat der Bionade wurde der Club-Mate sogar ihr uncooles Design  - grobschlächtige 0,5l-Glasflaschen mit beim Öffnen knirschendem Schraubverschluss; viel zu viel Text auf dem Etikett und ein Logo, das vielleicht vor 30, 40 Jahren trendy gewesen wäre - zum Vorteil angerechnet, und dass das Zeug schmeckte wie abgestandene kalorienarme Fassbrause, störte irgendwie auch niemanden.

Als dann aber neben der althergebrachten Halbliterflasche die schlankere, elegantere 0,33l-Variante mit Kronkorken auf den Markt kam (vorzugsweise für den Verkauf in Kneipen und Clubs zu erheblich höheren Preisen als im Einzelhandel), als 2007 erstmals eine Winter-Edition mit Gewürzen herausgebracht wurde, 2009 dann eine Eisteevariante mit dem prolligen Namen " ICE-Tea-Kraftstoff" und schließlich auch noch eine Club-Mate-Cola, da war das schon wieder der Anfang vom Ende. Club Mate war zum Trendgetränk geworden - das hatten wir nicht gewollt!

-- Ein todsicheres Signal dafür, dass ein Getränk aufhört, alternativ zu sein, ist es, wenn Alternativen zu ihm auftauchen. Das erschließt sich ohne nähere Erläuterung. Auf dem Höhepunkt des Bionade-Erfolgs schossen plötzlich ähnliche Getränke mit Markennamen wie Bios, Beo und Aloha wie Pilze aus dem Boden und wurden einem gerade in subkulturellen Kneipen gern angeboten "("Probier' mal. Ist so ähnlich wie Bionade, aber authentischer."). Dasselbe Phänomen ist nun auch bei Club Mate zu beobachten: Einige Treffpunkte der urbanen Rebellenszene haben das ehemalige Kultgetränk bereits aus dem Sortiment verbannt und durch Mio Mio Mate ersetzt. Die ist noch weitgehend unbekannt, im Einkauf billiger, im Design noch unbeholfener als der Marktführer - und, nicht der unbedeutendste Vorteil: sie schmeckt sogar. Mal sehen, wie lange es dauert, bis auch diese Marke gentrifiziert wird. --

Die Beobachtung, dass Erzeugnisse von Subkulturen nahezu zwangsläufig irgendwann Mainstream werden, deutet übrigens auf ein grundlegendes Paradoxon der bürgerlichen Gesellschaft hin: Der Outsider, der Nonkonformist, der Künstler und Rebell ist für den Normalbürger ein Idol. Das hat vermutlich damit zu tun, dass viele "Besserverdiener" es nur zu Wohlstand und gesellschaftlichem Renommé gebracht haben, weil sie damit zu kompensieren versuchten, dass die coolen Kids in ihrer Schule sie früher nie haben mitspielen lassen. Das Dilemma: So sehr der Spießer versucht, verächtlich auf jene herabzulächeln, die früher cooler waren als er, es im Gegensatz zu ihm aber nicht zu einer Eigentumswohnung, einem Auto, einer Frau, einem Zweitwagen, einer Privatschule für ihre Kinder und vier Urlaubsreisen im Jahr gebracht haben -: im Grunde wäre er immer noch gern so cool wie sie. Aber natürlich ohne auf die Annehmlichkeiten seiner bürgerlichen Existenz zu verzichten. Darum trägt auch der Spießer in seiner Freizeit gern Chucks oder Sneakers und karierte Hosen, hört - je nach Temperament und Sozialisation - Heavy Metal, Punk, HipHop oder Dubstep, wählt die Grünen oder neuerdings die Piraten, kauft im Bio-Supermarkt ein -- und trinkt Bionade.

Ärgerlich ist allerdings, dass der Spießer die Eigenschaft eines negativen König Midas besitzt: Alles, was er in die Hand nimmt, wird spießig. Die Avantgarde wendet sich daher mit Schaudern von dem ab, was der Mainstream sich zu eigen gemacht hat, und sucht sich etwas Neues. Was auch nur so lange gut geht, wie es vom Mainstream unbemerkt bleibt. Indem der Mainstream stets mehr oder weniger dicht auf den Fersen der urban-rebellischen Subkultur bleibt, werden die Nonkonformisten ironischerweise zu den Pionieren  der bürgerlichen Gesellschaft, von der sie sich eigentlich abgrenzen wollen. Das ist so ähnlich wie im Wilden Westen, wo die Pioniere ja vielfach auch auf der Flucht vor der Zivilisation waren, gerade durch diese Fluchtbewegung jedoch die ihnen selbst anhaftende Zivilisation in die Wildnis hineintrugen und damit der nachdrängenden bürgerlichen Gesellschaft nolens volens den Weg ebneten. Lederstrumpf könnte ein Lied davon singen.

Bevor ich zum Schluss komme, noch eine ironiefreie Differenzierung. Die Getränke-Gentrifizierung unterscheidet sich natürlich in einigen Punkten wesentlich von derjenigen des Wohnraums. Vor allem wohl darin, dass den urbanen Rebellen im Grunde nichts daran hindern würde, weiterhin Bionade oder Club Mate zu trinken, nur weil es jetzt auch die Spießer tun: er will es bloß nicht mehr. Verdrängt wird er aus dem Kundenkreis dieser Getränkemarken nicht, er zieht sich freiwillig zurück. Eine solche Verdrängung wäre wohl auch nur über den Preis möglich, und ich werde es wohl nicht mehr erleben, dass eine Flasche Bionade oder Club Mate so teuer wird, dass nur noch Besserverdienende sie sich leisten können. Bei den Mieten sieht das erheblich anders aus. Und erst dann, wenn tatsächlich eine Verdrängung stattfindet, offenbart sich die ganze Ironie der Gentrifizierung. Erst haben Studenten, freischaffende Künstler und andere bunte Vögel darniederliegende ehemalige Arbeitersiedlungen in blühende Subkulturlandschaften verwandelt - und dadurch den oben beschriebenen Typus des auch ein bisschen cool sein wollenden Spießers angelockt, der dorthin zieht, weil da "so viel los ist". Weil's da so super viele Konzerte und Galerien gibt. Mit wachsender Spießerquote im Kiez werden die Pioniere dann aber von dort vertrieben, und die Spießer stellen, sobald sie wieder größtenteils unter sich sind, bald fest, dass sie von den ganzen Konzerten und Galerien die Schnauze voll haben und lieber ihre Ruhe haben möchten. Und irgendwann darf dann, wegen Anwohnerbeschwerden, bei der Fête de la Musique nicht mehr auf offener Straße musiziert und bei Vernissagen kein Bier mehr ausgeschenkt werden.

Die Vertreter des "That's Just The Way It Is, Baby"-Liberalismus können hier natürlich mühelos einwenden, man sei doch selber schuld: Man hätte sich ja nur rechtzeitig selbst gentrifizieren, sprich: selbst zum Spießer werden müssen, dann könnte man von ebenjenen Prozessen profitieren, über die man sich jetzt beklagt. Stimmt natürlich. Aber will man das? - Nee. Dann lieber weiterziehen, den nächsten Kiez kultivieren, und den übernächsten, immer auf der Flucht vor der bürgerlichen Gesellschaft, die einem immer hart auf den Fersen bleibt - wie Lederstrumpf. Und wenn man irgendwann nicht mehr weiterziehen kann, sucht man sich eine Nische, in der man als Relikt vergangener Zeiten überdauern kann, als "Original", halb belächelt, halb angestaunt, und geht langsam an Alkohol und Depressionen zu Grunde - wie Chingachgook. Auch eine Art Heldentod.

Montag, 3. Juni 2013

God Gave Rock'n'Roll To You (III)

Hand aufs Herz: Als ich diese kleine Serie eröffnete, kam mir die Möglichkeit, dass das Thema Rock'n'Roll plötzlich eine ganz neue Aktualität, ja Brisanz gewinnen könnte, gar nicht in den Sinn. Und schon gar nicht, dass ich das ausgerechnet dem Bündnis 90/Die Grünen-Vorsitzenden Cem Özdemir zu verdanken haben würde.

Aber doch: Er hat's getan. Er hat eine öffentliche Debatte darüber angestoßen, was für Menschen eigentlich moralisch das Recht haben, Rockmusik zu mögen, und welche nicht. So wie dereinst Edgar Wibeau kategorisch darüber urteilte, welche Menschen berechtigt seien, Jeans zu tragen. Nun gut: Jeans, echte Jeans, waren in der DDR Mangelware, da schmerzte es natürlich doppelt, sie am Hintern von jemandem zu sehen, von dem man fand, der habe so eine Hose charakterlich gar nicht verdient. Aber ich schweife ab.

Vermutlich hatte Cem Özdemir gar nicht vor, eine Grundsatzdebatte anzustoßen, als er am Donnerstag auf seiner Facebook-Seite einen BILD-Artikel über Christian und Bettina Wulffs Besuch eines Bruce-Springsteen-Konzerts verlinkte und wie folgt kommentierte:
"Ein persönliche Bitte: Liebe konservative Politiker, tut was ihr wollt und tut es wo ihr wollt, aber bitte lasst den Rock'n'Roll in Ruhe. Erst von und zu Guttenberg bei ACDC, jetzt Wulffs bei Springsteen. Was kommt noch? Kauder bei Manu Chao? Diese Musik steht so ziemlich für das exakte Gegenteil Eurer Politik. Wann stellt Seehofer, natürlich in der BILD, seine Sex Pistols Plattensammlung vor? Gnade BILD & Co. Habt Erbarmen. Cem"

Die Reaktionen auf diese Einlassung des Grünen-Vorsitzenden schwankten größtenteils zwischen Hohn und Spott. Die Einen argumentierten, Rock'n'Roll sei doch (mittlerweile) selbst stockkonservativ, da habe es schon seine Richtigkeit, wenn die spießigen Wulffs sich die larmoyanten Schmachtfetzen des ollen Springsteen anhören. Andere konnten sich mit der Forderung, verschnarchte Spießbürger, Häuslebauer und peinliche Ex-Bundespräsidenten samt ihren vom Escort-Service georderten Ehefrauendarstellerinnen sollten "den Rock'n'Roll in Ruhe lassen", durchaus anfreunden, empfanden es aber als eher tragikomisch, dass diese Forderung ausgerechnet von einem Cem Özdemir vertreten wird, der es in puncto Spießigkeit und nicht-Rock'n'Rolligkeit locker mit der halben CDU/CSU aufnehmen kann. Zumal, wie der mir ansonsten unbekannte Facebook-Nutzer Martin Hagen es in seinem Kommentar zu Özdemirs Beitrag souverän auf den Punkt brachte, die Grünen nun auch nicht gerade die ultimative Sex&Drugs&Rock'n'Roll-Partei sind: 
"Rock'n Roll steht nicht für Rauchverbot, Glühbirnenverbot und Motorrollerverbot. Rock'n Roll steht nicht für das subventionierte Solardach auf dem Reihenhäuschen. Rock'n Roll steht nicht für Political Correctnes, Binnen-I und Gender-Gap. Rock'n Roll steht nicht für vegetarische Donnerstage in Beamtenkantinen. Rock'n Roll steht für viel, aber ganz bestimmt nicht für grüne Politik!"
Tja: Wer im Schlachthaus sitzt, soll nicht mit Schweinen werfen. Wer mich oder zumindest meinen Blog kennt, wird wenig überrascht sein, dass ich es tendenziell mehr mit der "Cem, du bist doch selber auch nur ein Wulff"-Fraktion halte als mit den Rock'n'Roll-Verächtern. Trotzdem würde ich - und auch das kennt man ja von mir - das Thema gern etwas grundsätzlicher angehen.

Erst einmal: Ist Rock'n'Roll politisch? - erst einmnal nicht. Im frühen Rock'n'Roll dreht es sich textlich nahezu ausschließlich um Mädchen und Autos. Oft in einem Vokabular, bei dem es unklar ist, ob gerade von einem Mädchen oder einem Auto die Rede ist. Der klassische Früh-Rock'n'Roller braucht nicht viel zum Glücklichsein, er will vor allem faaahrn (was nicht umsonst so klingt wie ein in breitem, nachlässigem american english ausgesprochenes "fun") und nach Möglichkeit ein flottes Girl auf dem Beifahrersitz. Fehlt ihm letzteres, dann stimmt er auch schon mal herzzerreißende Klagelieder an. Aber Politik? - Politisch wird der Rock'n'Roller erst und nur, wenn er bemerkt, dass nicht nur Einzelne, wie etwa Eltern, Lehrer und schwer verführbare Mädchen - seinem Traum vom einfachen Glück im Wege stehen, sondern auch gesellschaftliche Strukturen. Das bemerkt er allerdings schon recht früh. 1958 besang Eddie Cochran in "Summertime Blues" das Hadern mit der Notwendigkeit, in den Sommerferien zu jobben, um Geld zu verdienen. In der dritten und letzten Strophe des Songs heißt es:
"I called my congressman and he said - quote! -:
'I'd like to help you, son, but you're too young to vote.'"

[Ich rief meinen Abgeordneten an, und er sagte wörtlich:
"Ich würde dir ja gern helfen, mein Sohn, aber du bist ja noch gar nicht wahlberechtigt."]
Im Kontext dieses Songs ist das wohl eher scherzhaft gemeint, aber die darin zum Ausdruck kommende Haltung der Politik gegenüber zieht sich durch die ganze Geschichte der Rockmusik. Sie lautet: Die Politik interessiert sich nicht für unsere Probleme, weil sie sich nicht für uns interessiert. They Don't Care 'Bout Us. (Der so betitelte Song von Michael Jackson aus dem Jahr 1996 ist zwar von seinen musikalischen Charakteristika her nicht dem Rock-Genre zuzurechnen, von seiner Haltung her aber doch.)

Nun ist es vom Misstrauen und/oder Unbehagen gegenüber den bestehenden politischen Verhältnissen hin zum eigenen politischen Engagement natürlich ein durchaus nahe liegender Schritt, und auf diesem Wege kommt dann eben doch die Politik in den Rock hinein. Klar ist, dass diese grundsätzlich oppositionell ist, und zwar gern radikal oppositionell: extrem links, extrem rechts oder manchmal auch einfach extrem wirr. Positionen der politischen "Mitte" sind hingegen nicht rock-tauglich: Die gehören schließlich der "Erwachsenenwelt" an, gegen die man rebelliert (oder die einen zumindest, wie die Bewohner von Atlantis sagen, "abtörnt"). So ist es auch kaum überraschend, dass eingefleischte Rock'n'Roller ein allzu ausgeprägtes politisches oder auch nur soziales Engagement von Musikern (man denke etwa an Bob Geldof oder Bono) im Allgemeinen eher skeptisch beäugen oder sogar Verrat darin wittern. Vor allem ist dem echten Rock'n'Roller die political correctness ein Dorn im Auge.

Was das alles mit den Grünen zu tun hat, dürfte auf der Hand liegen. Die haben ja immerhin mal als Fundamentalopposition angefangen, aber inzwischen sind sie doch gründlich in der bürgerlichen Mitte angekommen. Und kaum jemand repräsentiert diese Verbürgerlichung der einstigen Bürgerschreckpartei so idealtypisch wie eben Cem Özdemir - während die Co-Vorsitzende Claudia Roth immerhin mal Managerin von Ton Steine Scherben war. Aus Rock'n'Roll-Sicht sind die Grünen heutzutage einfach too old to die young. Diesem Schicksal zumindest scheint die nächste Generation der spätpubertären Antipolitiker - die Piratenpartei - nach derzeitigem Stand der Dinge wohl durch rechtzeitige Selbstzerstörung zu entgehen. Aber die Piraten hören wahrscheinlich keinen Rock'n'Roll. Sondern eher so Elektro-Kram.

(An dieser Stelle mache ich erst mal einen Punkt. Spätere Fortsetzung nicht ausgeschlossen...)

Selbstgebastelter Anhang zum neuen Gotteslob

"Eichstätt - Limburg - Paderborn" - so lautet der Titel eines Beitrags des Kollegen Cicero über Titelbildvarianten des neuen Gotteslobs. Das erste, was mir beim Lesen dieses Titels auffiel, war, dass man ihn auf die Melodie von "New York - Rio - Tokyo", dem einzigen Hit der 80er-Jahre-Popgruppe Trio Rio, singen kann.

Nun müsste ich aber wohl nicht der Tobi sein, wenn ich es dabei bewenden ließe, das einfach nur festzustellen. Neenee! Bei so einer Vorlage heißt es kurz mal den inneren Verseschmied von der Leine lassen - und sowas kommt dann dabei raus:

Eichstätt - Limburg - Paderborn

Was soll das bedeuten?
Was sagt dies Gebilde wohl den Leuten?
Wen will man erreichen
Mit einem schönen, doch abstrakten Zeichen
Auf dem Gotteslobe?
Dabei ist es gar nicht von Adobe!

Nur in
Eichstätt, Limburg, Paderborn
Hält man von diesem Zeichen nix
Und bleibt lieber beim Kruzifix
In Eichstätt, Limburg, Paderborn
Da zeigt des Buches Umschlag schon
Hier dreht es sich um Gottes Sohn!

Doch wir woll'n uns freuen
Dennoch an dem Gotteslob, dem neuen
Und uns nicht groß streiten
Über Bilder auf den Umschlagseiten
'S gibt ja Schutzumschläge
Die sind auch nützlich für des Buches Pflege!

Und in
Eichstätt, Limburg, Paderborn
Und all den andern Bistümern
Da preisen wir ganz laut den HERRN
In Eichstätt, Limburg, Paderborn
Und überall, wohin man sieht:
Singt dem HERRN ein neues Lied!


(Ich gebe zu, ich habe bei der Strophenlänge ein bisschen gemogelt und den C-Teil - "When you dance close to me" usw. - ganz weggelassen. So viel künstlerische Freiheit wird ja wohl drin sein. Nebenbei bemerkt stelle ich mir auch die imposanten Instrumentalpassagen des Songs, auf der Kirchenorgel gespielt, durchaus stimmungsvoll vor. Ich möchte daher schon mal die Aufnahme dieses Songs in den Anhang des Gotteslobs beantragen - mindestens in den Bistümernb Eichstätt, Limburg und Paderborn...)