Aufgemerkt, Leser -- während ich diesem Logbucheintrag den letzten Schliff verpasse und dann auf die Schaltfläche "veröffentlichen" klicken werde, befinde ich mich in Zürich, von wo aus ich in Kürze in die berüchtigte Mafia-Hochburg St. Gallen weiterreisen werde. Aber auch das ist noch nicht das Ziel der Reise. Näheres zum Wohin und Warum folgt weiter unten; wenden wir uns wie üblich zunächst einmal der zurückliegenden Woche zu...
Was bisher geschah: Wie bereits angekündigt, unternahm ich am Montagnachmittag mit meiner Tochter einen "Besuch-die-Mami-bei-der-Arbeit-Tag", damit Mutter und Kind wenigstens in den Pausen zwischen Unterricht und Lehrerkonferenz sowie zwischen Lehrerkonferenz und Elternabend etwas Zeit miteinander verbringen konnten. Als ich mit meiner Tochter, die gerade im Kinderwagen eingeschlafen war, vor dem Schulgebäude in einer ungenannten Kleinstadt im Umland von Berlin ankam, wurde ich allerdings erst mal Zeuge einer dramatischen Auseinandersetzung zwischen zwei Schülerinnen im höheren Teenageralter. Anscheinend waren die beiden vor einiger Zeit ein Paar gewesen, und nun warf die eine der anderen vor, ihre neue Beziehung zu sabotieren, oder sowas Ähnliches. Ich wollte nicht indiskret sein und hörte daher nicht so genau hin. Was mir aber auffiel, war das filmreife Pathos, mit dem die beiden Mädchen agierten; unwillkürlich schaute ich mich nach einer Kamera um, aber es schien keine zu geben. Waren wir in dem Alter auch so theatralisch? Na ja, ich vielleicht schon, aber unter den typischerweise eher nüchtern-pragmatischen und etwas maulfaulen Butjenter Deerns hätte ich wohl schwerlich eine gefunden, mit der ich in aller Öffentlichkeit eine solche Liebestragödie hätte aufführen können. Wie Heinz Rudolf Kunze sagte bzw. sang: "Die verführen sich nicht, die entführen sich höchstens". Wahrscheinlich hängt mir dieser Mangel an Dramatik in meiner Jugend bis heute nach. -- Wie dem auch sei, wir verbrachten den Nachmittag und frühen Abend am Arbeitsplatz meiner Liebsten, zeitweilig saß ich lesend und Kaffee trinkend im Lehrerzimmer, zeitweilig spielte ich mit meiner Tochter auf dem Schulflur Fußball mit einem Gehirnmodell aus Gummi. Am Dienstag fand im Anschluss an unsere wöchentliche Lobpreis-Andacht die erste Vorstandssitzung des unlängst gegründeten Fördervereins unserer Kirchengemeinde statt; meine Liebste, die ja den Vereinsvorsitz übernommen hat, hatte diesen Termin vergessen, wurde aber gerade noch rechtzeitig daran erinnert, da die stellvertretende Vereinsvorsitzende an unserer Andacht teilnahm. Der Mittwoch stand ganz im Zeichen des Büchereiprojekts: Am Vormittag klapperte ich, mit meiner Tochter im Kinderwagen, vier Büchertelefonzellen in Reinickendorf, Wedding und Gesundbrunnen ab, um 40 aus dem Büchereibestand aussortierte Bücher loszuwerden, und nahm dafür 13 andere mit (darunter George Orwells "Mein Katalonien", Maxim Gorkis "Wanderungen durch Russland", aber auch Nick Hornbys "About a Boy" und "High Fidelity"), und am Nachmittag verbrachten Kollegin Claudia und ich ein paar Stunden damit, etwas Struktur und Ordnung in die Bücherregale zu bringen. Am Donnerstag ließen meine Liebste und ich kurzentschlossen beide Veranstaltungen sausen, die wir am Abend zur Auswahl gehabt hätten; die Woche war auch so schon vollgepackt genug. (Zumindest das "Picknick mit Papst Franziskus" wäre allem Anschein nach wohl eher gruselig als erbaulich gewesen.) Richtig abenteuerlich wurde es dann am Wochenende: Wie angekündigt, nahm meine Liebste mich und das Kind mit auf einen Kollegiumsausflug ins Biosphärenreservat Schorfheide-Chorin; der Hauptprogrammpunkt sollte dabei eine Fahrt mit dem Forschungsschiff Solar Explorer sein. Wobei die Bezeichnung "Schiff" schon sehr hoch gegriffen ist: Das Boot stellte sich als viel kleiner heraus, als ich es mir anhand des Fotos auf der Internetseite vorgestellt hatte, und quasi in letzter Sekunde fasste ich den Entschluss, nicht mitzufahren. Wenn ich mit vielen Leuten auf engem Raum zusammengepfercht bin und obendrein die Aussicht auf einen möglicherweise langweiligen Vortrag dräut, dann brauche ich einfach einen Fluchtweg, und wenn kein anderer solcher zur Verfügung steht als der, kurzerhand über Bord zu springen, dann --- lieber nicht. Auch mein Kind wollte ich dieser Erfahrung lieber nicht aussetzen, also gingen wir stattdessen lieber auf einen nahe gelegenen Spielplatz und anschließend Bier trinken. Also ich, während das Kind einen verspäteten Mittagsschlaf pflog. Die Bootstour dauerte geschlagene zwei Stunden, danach verabschiedete sich ein Teil des Kollegiums, und mit den anderen ging's zur "Europäischen Jugend- und Begegnungsstätte Werbellinsee". Eine sehr weitläufige Anlage, die mich ein bisschen an das "Kellerman Resort" aus "Dirty Dancing" erinnerte, nur dass hier alles ein bisschen heruntergekommener und DDR-mäßiger wirkte. Wie ich im Nachhinein erfuhr, handelte es sich bei der Anlage um die ehemalige "Pionierrepublik Wilhelm Pieck". Noch Fragen? Schön, ja sehr schön war es allerdings, sich mit der Liebsten und ihren Lehrerkollegen nachts am zur Ferienanlage gehörenden Abschnitt des Seeufers zu versammeln, Rockklassiker aus dem Internet zu hören, Dosenbier zu trinken und ins seichte Wasser des Sees zu waten. Toller Abend, ohne Quatsch. -- Am Samstag schauten wir dann mal bei der "Kommunität Grimnitz" vorbei -- und zwar, anders als letzte Woche angedacht, ohne uns zuvor telefonisch anzukündigen. Was vermutlich ganz gut war, denn die ca. drei aktuellen Mitglieder der Kommunität hatten ausgerechnet an diesem Tag ihren jährlichen Küchen-Großputz, und hätten wir das vorher gewusst, wären wir wohl nicht hingefahren. So aber waren wir nun mal da und durften uns auf eigene Faust den Garten und den Andachtsraum anschauen. Die Eindrücke, die wir von dort mitnahmen, waren recht gemischt; fangen wir mal mit dem Positiven an: Es ist eine absolut traumhafte Location, und die Leute, die wir dort antrafen, waren - so wenig Zeit sie auch für uns hatten - ausgesprochen nett. Indes war es unverkennbar, wiewohl keineswegs überraschend, dass diese ganze Kommunität ein typisches Projekt kirchlicher Alt-'68er ist, mit allen für dieses Milieu charakteristischen fragwürdigen Begleiterscheinungen, wozu eine Verengung und Verzerrung der Frohen Botschaft ins rein Diesseitige, Sozial-Politische ebenso gehört wie eine offene Flanke in Richtung Esoterik und Synkretismus. Schon ein flüchtiger Blick ins Bücherregal der Kommunität sprach diesbezüglich Bände (pun intended). Ein Großteil von dem, was da so rumstand, wäre in "meinem" Büchereiprojekt ein Fall für den Giftschrank. Dass die Kommunität zudem den Anschein erweckt, sie werde mangels Nachwuchs in recht absehbarer Zeit aussterben, ist vor diesem Hintergrund... nun ja... auch nicht sonderlich überraschend. Aber schade. Sehr, sehr schade. Und wieder einmal stellt sich die Frage: Wieso gibt's sowas in der Art nicht auf rechtgläubig?
Was ansteht: Wie erwähnt, befinde ich mich gerade auf dem Weg nach St. Gallen; von dort aus geht es weiter über die österreichische Grenze zur Erlöserpfarre Lustenau, wo seit gestern und noch bis kommenden Sonntag die "Woche der Begegnung" stattfindet -- ein jährliches Neuevangelisations-Event mit internationalen Gästen. Heute Abend ab 19:15 Uhr hält dort Rod Dreher einen Vortrag über die "Benedikt-Option", und ich bin dafür als Übersetzer engagiert worden. Das Vortragsmanuskript hat Rod mir schon am Freitag per Mail zukommen lassen, und ich finde es brillant. Davon abgesehen freue ich mich natürlich sehr darauf, Rod wiederzusehen -- und auf weitere interessante Begegnungen. Ebenfalls bei der "Woche der Begegnung" in Lustenau ist Pater Paulus-Maria Tautz von den Franziskanern der Erneuerung, allerdings findet sein Programmbeitrag erst am Mittwoch statt, und ich fliege morgen Vormittag schon wieder zurück -- hauptsächlich deshalb, weil ich mich nicht länger als unbedingt nötig von meiner Tochter trennen mag. Ein weiterer Grund ist, dass diesen Mittwoch wieder das "Dinner mit Gott" ansteht; nachdem die Sommerurlaubssaison nun wohl allmählich vorbei ist, darf man vielleicht mal wieder auf etwas stärkere Beteiligung hoffen als bei den letzten Veranstaltungen. Ebenfalls zurück aus der Sommerpause ist die Community Night im Baumhaus, die ab dieser Woche wieder jeden Donnerstag stattfinden soll. Da wollen meine Liebste und ich auf jeden Fall mal wieder hin, wahrscheinlich sogar öfter; die beste Kati von allen hat auch in Aussicht gestellt, da mal mitkommen zu wollen. Ob es aber diese Woche schon klappt, bezweifle ich eher. Ebenfalls am Donnerstag findet der Stammtisch der CDU Tegel statt. Da habe ich zwar so rein von den Vibes her erheblich weniger Lust drauf als aufs Baumhaus, aber ein bisschen Networking im eigenen Kiez könnte trotzdem seine Vorteile haben, gerade mit Blick auf den Kirchen-Förderverein... Und es ist praktisch um die Ecke, man wäre also schnell wieder zu Hause. Whatever -- das soll mal die Liebste entscheiden, sie ist schließlich die Vereinsvorsitzende. -- Am Sonntag habe ich morgens Lektorendienst, erwäge aber, trotzdem abends nochmals zur Kirche zu gehen, denn da ist "Firm-Informations-Tag", kurz FIT; ein Akronym der eher peinlichen Art. Erst "Jugendmesse", dann Treff im Gemeindehaus. Ich wäre ja schon neugierig auf die angehenden Firmlinge (und darauf, was denen - und/oder ihren Eltern - da so erzählt wird). Na, mal sehen.
aktuelle Lektüre:
Gelesen habe ich in der zurückliegenden Woche so viel, wie meine sonstigen Aktivitäten (siehe oben) es gerade erlaubten. Allerdings bin ich damit noch nicht über die fünf Bücher hinausgekommen, die ich schon in der Woche davor am Wickel hatte. Beginnen wir mal mit Joachim Seyppels "Ein Yankee in der Mark"; das betrachte ich ohne Wenn und Aber als einen Glücksgriff, denn wie sollte man ein Buch nicht lieben, in dem Sätze stehen wie:
"Aber [...] es ist eben vier Uhr und Feierabend, und die Vor- und Frühgeschichte wird auch morgen früh noch da sein, wo sie nun schon so lange da war." (S. 150)Oder:
"Nachmittags, wenn ich vom Ausflug zurückkomme, liegt der Pyjama artig gefaltet auf dem Bett, als hätte er nie arge Gedanken gehabt; das Kopfkissen hat in der Mitte eine Kerbe, mit der Handkante gehauen, wie nach einem Karateschlag, doch mit mehr Zärtlichkeit." (S. 180)Aber das Buch ist nicht nur schön geschrieben, sondern auch als zeitgeschichtliches Dokument hochinteressant. So ist der Autor gerade in Potsdam, als er von der Ermordung Martin Luther Kings erfährt, seine Familie ist hingegen zeitgleich ausgerechnet in Atlanta, Kings Geburtsstadt, wo er auch bestattet werden soll, und Seyppel macht sich Sorgen, dass nun Rassenunruhen ausbrechen; später, in Brandenburg an der Havel, erfährt er dann vom Attentat auf Rudi Dutschke und kommentiert:
"Eigentlich wollte ich bis lange nach Ostern bleiben, jetzt läßt einem die Zeitgenossenschaft keine Ruhe." (S. 207)Gerade an solchen Stellen dringt natürlich immer mal wieder durch, dass Seyppel die Bundesrepublik zumindest tendenziell und potentiell für einen faschistischen Staat und die DDR folglich für das bessere Deutschland hält, und das kann einem zuweilen den Spaß an dem Buch ebenso vergällen wie der davon letztlich nicht ganz zu trennende Atheismus des Autors - etwa, wenn er meint, das Attentat auf Dutschke (das allerdings an einem Gründonnerstag stattfand) gebe dem "Karfreitag [...] einen neuen Sinn", "der Schimmer von Christentum, der seit zweitausend Jahren besteht", sei damit "endgültig verschwunden", und am Anschluss daran darüber sinniert, man solle sich "seinen eigenen Kalender machen", sich "nicht von Zweitausendjährigen die Zukunft vorschreiben lassen" (S. 208) -; aber rasch versöhnt ist man, wenn man sieht, dass sein Kokettieren mit dem Sozialismus immer wieder ironisch gebrochen wird. Sehr hübsch ist in diesem Zusammenhang, was Seyppel aus einem (echten oder fiktiven?) Brief seiner Tochter an ihren nicht mitgereisten Bruder zitiert; im Kontext geht es um unsozialistische Gepflogenheiten der Bedienung in einem Restaurant in der Prignitz:
"Daddy wollte schon den Geschäftsführer rufen, aber wir haben ihm das ausgeredet, Daddy redet dann immer nur davon, wie er sich den 'Sozialismus' vorstellt, und wird ganz aufgeregt und hält lange ideologische Vorträge, die niemand versteht." (S. 229f.)Man sieht, Seyppel war geradezu prädestiniert zum DDR-Dissidenten, und obendrein hatte er für den real existierenden Sozialismus einfach zu viel Humor. -- Sehr bemerkenswert fand und finde ich, was Seyppel einen "Professor N." im Rahmen eines von aus heutiger Sicht geradezu lächerlich fortschrittsoptimistischen Monologs über das Rheinsberger Atomkraftwerk sagen lässt:
"Vulgärmaterialismus, also kurzfristige Ziele wie Konsumversorgung, Laster wie Selbstzufriedenheit und Spießertum angesichts der drei F - Futter, Fernsehen und Fernreisen -, sind die ärgsten zu überwindenden Überbleibsel." (S. 240)Zweifellos -- aber Überbleibsel wovon? Der bürgerlichen Gesellschaft? Möglich. Dann war die DDR aber wohl, sofern es legitim ist, sie anhand ihrer heute noch auffindbaren Mentalitäts-Überreste zu beurteilen, sehr bürgerlich; womöglich mehr als die Bundesrepublik nach '68.
Ein bisschen schade fand ich es aus wohl nachvollziehbaren Gründen, dass der Werbellinsee in Seyppels Buch nicht vorkommt (obwohl einem dort auf Schritt und Tritt "Fontane war hier"-Gedenkplaketten begegnen). Mit einer gewissen boshaften Genugtuung erfüllt es mich hingegen, dass Seyppel sich lang und breit über Rheinsberg inklusive Schloss und Schlosspark auslässt, dabei aber Tucholsky, der wohl das berühmteste Buch über Rheinsberg geschrieben haben dürfte, nur ein paarmal am Rande erwähnt. Wenn das mal keine tolle Überleitung ist:
Je weiter ich mit "Panter, Tiger & Co" vorankomme, desto besser glaube ich Tucholskys "System" bei der Verwendung seiner diversen Pseudonyme zu verstehen; wobei man zugeben muss, dass er dies ja teilweise im (für diesen Auswahlband praktischerweise "wiederverwendeten") Vorwort zu seinem noch zu Lebzeiten erschienenen Sammelband "Mit 5 PS" schon selber erklärt. Wie dem auch sei: Ich erwähnte ja schon letzte Woche, dass die unter dem Pseudonym "Peter Panter" veröffentlichten Texte Tucholskys mir tendenziell am besten gefallen. Nun findet sich in dem mir vorliegenden Bändchen auf S. 68-72 ein Panterscher Reisebericht über eine Sauftour ins Fränkische unter dem Titel "Das Wirtshaus im Spessart", und direkt hintendran auf S.72-75, ein Text, der ziemlich so ähnlich losgeht, es kommen sogar dieselben saufseligen Nebenfiguren "Jakopp" und "Karlchen" drin vor, aber mittendrin erblickt der Ich-Erzähler das bombastisch-militaristische Denkmal am Deutschen Eck (nach dem der Text denn auch heißt), und darob geht ihm der Humor flöten; der Text wird politisch (und mithin garstig), Witz hat er durchaus weiterhin, aber eben keinen Humor mehr, sondern nur mehr Sarkasmus der bittersten Sorte, und darum zeichnet der Autor hier nicht mit "Peter Panter", sondern mit "Ignaz Wrobel". Isso. Nun werden meine Leser sicherlich wissen, dass ich im Prinzip überhaupt nichts gegen Sarkasmus habe, aber wenn einem großen Humoristen (und das war Tucholsky in seiner Rolle als Peter Panter) der Humor abhanden kommt, hat das Ergebnis durchaus was Erschreckendes. Kurz und gut, den Ignaz Wrobel mag ich nicht, und fast alle Texte von Tucholsky, die ich nicht mag, scheinen unter diesem Pseudonym erschienen zu sein. Wobei ich durchaus nicht alles, was den Verfassernamen Ignaz Wrobel trägt, schlecht finde; den Text "Die Essayisten" etwa dürfte sich ruhig noch heute so manches Mitglied der schreibenden Zunft gern hinter den Spiegel stecken. Umgekehrt finde ich auch nicht alles von Peter Panter gut. In "Einer aus Albi" etwa schreibt er zunächst zu meinem wohlwollenden Erstaunen über die Kathedrale jener südfranzösischen Stadt, sie erinnere ihn "an gar nichts" außer "[a]n Gott. Ihr Anblick schlägt jeden Unglauben für die Zeit der Betrachtung knockout", aber dann muss er partout hinzufügen, die Kathedrale sei, "im Gegensatz zu den Ereignissen in Lourdes, ein wahres Wunder". Eine völlig überflüssige und zudem von typisch bildungsbürgerlichem Snobismus motivierte Spitze gegen die katholische Kirche. Ein Proletarier wie Christy Brown ("Mein linker Fuß" -- da hätten wir die nächste brillante Überleitung) hat dagegen sehr deutlich wahrgenommen, dass in Lourdes Wunder geschehen. und das, obwohl er selbst dort nicht geheilt wurde. Nur der Vollständigkeit halber sei klargestellt, dass ich mit "Wunder" hier nicht ausschließlich unerklärliche Heilungen vermeintlich unheilbarer Kranker meine, wenngleich es die in Lourdes sehr wohl gibt; so meint es auch Christy Brown nicht, wenn er dieses Wort gebraucht, aber meine Güte, das kann man ja sogar aus einem so schrottigen Trivialfabrikat wie "Die Dienstagsfrauen" lernen. In der Verfilmung von "Mein linker Fuß" kommt die Pilgerreise des 18jährigen Christy Brown nach Lourdes übrigens bezeichnenderweise nicht vor, im Buch hingegen ist sie ziemlich zentral, und das nicht nur von den Seitenzahlen her. Übrigens habe ich "Mein linker Fuß" schon fast durch, daher verschiebe ich alle weiteren Anmerkungen zu diesem Buch auf das Gesamtfazit in der nächsten "Kaffee & Laudes"-Folge.
Der spannendste Teil meiner derzeitigen Lektüre ist ohnehin der Quervergleich zwischen "Und Gott schuf Ben" von John Fischer und "So stark wie das Leben" von Francine Rivers. Beide Bücher haben auf den ersten Blick bemerkenswert viel gemeinsam: In beiden geht es um evangelikale Vorstadtgemeinden in Südkalifornien, und es ist sogar in beiden explizit davon die Rede, dass das jeweilige Kirchengebäude im klassischen Neuengland-Stil erbaut wurde. Obendrein sind die Autoren gleichaltrig, beide sind Jahrgang 1947. Das ist nicht zuletzt deshalb interessant, weil Francine Rivers im direkten Vergleich erheblich konservativer wirkt als John Fischer; und zwar - was nicht zwangsläufig miteinander einhergehen muss - sowohl "konservativ" im Sinne von "altmodisch" als auch im Sinne von "streng evangelikal". Es ist vielleicht nicht ganz von der Hand zu weisen, dass das etwas damit zu tun hatte, dass Fischer, ebenso wie die beiden kindlichen Helden seines Romans, ins evangelikale Milieu hineingeboren wurde, während Francine Rivers sich erst im Alter von fast 40 Jahren bekehrt hat. Tatsächlich hat sie auch schon vor ihrer Bekehrung Trivialromane geschrieben, aber jetzt tut sie es für den Herrn. Es liegt nicht fern, darin eine Ursache für einen wesentlichen Unterschied zwischen den beiden Romanen zu vermuten: "Und Gott schuf Ben" ist einfach eine coole und unterhaltsame Geschichte, die es wert ist, um ihrer selbst willen erzählt zu werden und nicht in erster Linie zu dem Zweck, eine Message 'rüberzubringen. In "So stark wie das Leben" spürt man auf
jeder Seite, ja nahezu in jedem Absatz, dass es darum geht, eine Message 'rüberzubringen.
Das heißt nicht, dass das Buch deswegen schlecht wäre. Zuweilen trägt die liebe Francine ein bisschen arg dick auf, aber im Ganzen liest sich "So stark wie das Leben" durchaus süffig, und inhaltlich ist es ungefähr so interessant, wie ich gehofft hatte. Allerdings bin ich mit der Tendenz des Romans nicht vollständig einverstanden. Der junge, hochmotivierte Pastor, der zu Beginn der Romanhandlung angeheuert wird, um einer überalterten, vom Aussterben bedrohten Vorstadtgemeinde neues Leben einzuhauchen, entwickelt sich überraschend schnell zur Negativfigur, und dies gerade durch seine Erfolge. Anfangs wird nicht so ganz klar, was die Autorin ihm eigentlich vorwirft (abgesehen davon, dass er zu wenig Zeit für seine Familie hat), aber zur Mitte des Buches wird es immer deutlicher, dass er sich allzu sehr an weltlichen Erfolgsmaßstäben orientiert, auch im Umgang mit Gemeindemitgliedern und Mitarbeitern ein allzu pragmatisches Kalkül an den Tag legt und alles in allem eher wie ein Manager agiert als wie ein Seelsorger. Und das alles, um aus dem Schatten seines Vaters, eines berühmten Fernsehpredigers und Megachurch-Leiters, zu treten, von dem er nie die ersehnte Anerkennung erhalten hat. Na toll. Mal abgesehen davon, dass ich es gar nicht für besonders realistisch halte, dass die Gemeinde dank einer "sucherorientierten" (im deutschen Volkskirchensprech würde man sagen "niederschwelligen") Pastoral so stark wächst (die Erfahrung zeigt nämlich, dass Menschen, wenn sie von einer Kirche zu einer anderen wechseln, eher zu strenggläubigeren Konfessionen tendieren; umgekehrt hören sie eher ganz auf, zur Kirche zu gehen), ist mir die Kritik der Autorin an der Strategie "Gemeindewachstum um jeden Preis" (Lieblingsargument: "Wachstum ist nicht immer ein Zeichen von Gesundheit -- Krebs wächst auch") auch aus #BenOp-Sicht durchaus sympathisch und bestärkt mich in meiner Skepsis gegenüber Gemeindeerneuerungs-"Erfolgsrezepten" à la "Rebuilt". Allerdings zeigt die Autorin für meinen Geschmack erheblich zu viel Sympathie für die Fraktion der alten Säcke, die sich aus Prinzip gegen jede Art von Veränderung sträuben. Deren Verhalten ist schließlich offenkundig widersinnig: Sie sehen zwar, dass es in ihrer Gemeinde nicht so weitergehen kann wie bisher - genau deswegen engagieren sie ja den neuen Pastor -, aber gleichzeitig wollen sie, dass alles so bleibt, wie es schon immer war. Vielleicht reagiere ich nicht zuletzt deshalb so allergisch darauf, weil solche Leute mir bei der Basisarbeit zu Hause in Tegel mehr zu schaffen machen als irgendwelche "progressiven" Kryptohäretiker, aber so oder so finde ich, die liebe Francine macht zwischen der "Wachstum durch Wischiwaschi"-Strategie des Pastors und der Wagenburgmentalität der "Das-haben-wir-schon-immer-so-gemacht"-Fraktion (Besser, die Gemeinde stirbt mit uns aus, als dass wir uns an neue Musik im Gottesdienst gewöhnen müssen) eine falsche Alternative auf. Vielleicht meint sie, der richtige Weg bestünde in einem Kompromiss zwischen diesen beiden Positionen, aber dieser Meinung bin ich nicht; ich denke vielmehr, beide sind gleichermaßen falsch. Was mich übrigens daran erinnert, dass ich meinen angefangenen Lang-Essay zum Thema "Lagerdenken in der Kirche" mal weiterschreiben muss. Ja, wenn ich mal Zeit hätte...!
Übrigens spielt der geplante Neubau eines großen, modernen Gemeindezentrums eine zur Mitte des Romans zunehmend zentrale Rolle, und das ist natürlich irgendwo auch als Metapher zu verstehen ("Wenn der HERR nicht das Haus baut, so arbeiten umsonst, die daran bauen", zitiert die Autorin nicht von ungefähr schon in ihrer einleitenden Danksagung auf S. 4 aus Psalm 127,1), und wen wundert's, dass mich das an "Spur der Steine" erinnert. Bei diesem Vergleich kommt "So stark wie das Leben" allerdings nicht besonders gut weg; was Francine Rivers über die technische Seite des Bauprojekts schreibt, bleibt recht vage und unanschaulich, und darunter leidet auch die metaphorische Absicht dieser Passagen. Dazu übrigens einmal mehr Joachim Seyppel:
"Bauen heißt ja heute nicht mehr nur einfach Bauen, und zwar mit Ziegel und Mörtel, sondern gesellschaftlich bauen, also mit Ziegel und Mörtel und auf den Menschen bezogenen Ideen." (S. 191)
Was nun allerdings "Und Gott schuf Ben" angeht, bin ich geneigt, es als einen geradezu unglaublichen Glücksgriff zu betrachten, dass mir dieser Roman in der Büchertelefonzelle am Letteplatz in Berlin-Reinickendorf in die Hände gefallen ist. Wie ist er da überhaupt hingekommen? -- Egal. Übrigens muss ich wohl geahnt haben, dass die schon vorige Woche angemerkte beiläufige Erwähnung eines katholischen Nachbarsjungen sowie der Tatsache, dass die Eltern des Ich-Erzählers es nicht gern sehen, wenn ihr Sohn Umgang mit Katholiken hat, nicht folgenlos bleiben würde. Tatsächlich lernt der Ich-Erzähler in der zweiten Hälfte des Romans eine altmodische irischstämmige Katholikin kennen, die den Heiligen Antonius um Hilfe anruft, wenn sie etwas verlegt hat, und eine Marienstatue in ihrem Haus hat, die der Ich-Erzähler natürlich zunächst für ein Götzenbild hält. Ein Herz-Jesu-Bild sieht er in ihrem Haus auch; das betrachte ich ja fast schon als einen Fingerzeig Gottes. Jedenfalls spielt diese Katholikin eine entschieden positive Rolle in der Romanhandlung, und ich habe den vagen Verdacht, bei Francine Rivers würde so etwas nicht vorkommen.
Ebenfalls ganz und gar nicht Francine-like, dafür aber sehr erheiternd sind die Passagen, in denen der Ich-Erzähler sich über die strikte "Gesetzlichkeit" seiner Eltern auslässt -- beispielsweise über ihre entschieden ablehnende Haltung gegenüber Spielfilmen. "Was ist, wenn Jesus wiederkommt, und du sitzt in einem Kino?" (S. 146) -- Ich könnte mir durchaus Schlimmeres vorstellen; zum Beispiel, in einer Lehrerkonferenz zu sitzen, wenn Jesus wiederkommt. Ich gebe allerdings zu, dass dieser Gedanke wohl vor allem dadurch veranlasst worden ist, wo ich gerade war, als ich diesen Satz las.
Ebenfalls ganz und gar nicht Francine-like, dafür aber sehr erheiternd sind die Passagen, in denen der Ich-Erzähler sich über die strikte "Gesetzlichkeit" seiner Eltern auslässt -- beispielsweise über ihre entschieden ablehnende Haltung gegenüber Spielfilmen. "Was ist, wenn Jesus wiederkommt, und du sitzt in einem Kino?" (S. 146) -- Ich könnte mir durchaus Schlimmeres vorstellen; zum Beispiel, in einer Lehrerkonferenz zu sitzen, wenn Jesus wiederkommt. Ich gebe allerdings zu, dass dieser Gedanke wohl vor allem dadurch veranlasst worden ist, wo ich gerade war, als ich diesen Satz las.
Linktipps:
Ein Erfahrungsbericht über den sozialen Druck, seine Kinder möglichst früh in Fremdbetreuung abzugeben. Inhaltlich nicht unbedingt etwas Neues, speziell wenn man selbst kleine Kinder hat; aber sehr eindringlich dargestellt, und man wundert sich, dass so ein Artikel es in die "Zeit" geschafft hat. Die negativen (trotzigen, wütenden) Leserkommentare sprechen da Bände -- und erst recht bezeichnend ist es, dass der Artikel unter Pseudonym erschienen ist, um "die Anonymität der Autorin zu schützen" (!).
Der Titel dieses Artikels enthält bereits seine These: Kann es sein - fragt die Kulturkritikerin Mary Eberstadt, die übrigens auch in der "Benedikt-Option" zitiert wird -, dass die Identitätskrise des postmodernen Menschen, die sich in der pathetisch überhöhten Identifikation mit nach Merkmalen wie Rasse, Geschlecht, sexueller Orientierung etc. definierten "Opfergruppen" ausdrückt, ihre Wurzel in der Erosion traditioneller Familienbindungen hat? Also darin, dass die ewige Frage "Wer bin ich?" ihre Antwort nicht mehr, wie früher™, im Raum der Familie findet? -- Lang, aber lesenswert.
Heiliger der Woche:
Dienstag, 3. September: Hl. Gregor der Große (ca. 540-604), Kirchenlehrer, Kirchenvater, Papst von 590 bis zu seinem Tod. Aus #BenOp-Sicht nicht zuletzt deshalb interessant, weil er die erste Vita des Hl. Benedikt verfasst hat; allerdings gibt es (wenige) Forscher, die Gregors Dialogi für eine Fälschung halten, und dann auch noch solche, die zwar die Verfasserschaft Gregors für echt, den Inhalt aber für fiktiv und somit den ganzen Benedikt für eine Erfindung Papst Gregors halten. Ich würde mal schätzen, diese Art von Historikern ist in etwa so ernst zu nehmen wie jene, die meinen, Karl den Großen habe es nie gegeben. Oder Napoleon.
Aus dem Stundenbuch:
Kamen Worte von dir, so verschlang ich sie; dein Wort war mir Glück und Herzensfreude; denn dein Name ist über mir ausgerufen, Herr, Gott der Heere. (Jeremia 15,16)
Oh, du warst in Zürich! Da bin ich seit einigen Jahren zu Hause. :-)
AntwortenLöschenAls fleißige Leserin hätte ich dich ja gerne mal getroffen.
Was so Orte wie die Kommunität Grimnitz angeht und die Frage "Wieso gibt's sowas in der Art nicht auf rechtgläubig?" - da stimme ich dir von Herzen zu. Ich träume schon seit ein paar Jahren so vor mich hin, im ländlichen Süddeutschland, wo ich aufgewachsen bin, einen alten Bauernhof zu einer christlichen Kommune umzufunktionieren, das örtliche Kirchenleben (oder eher Kirchensterben) aufzumischen, z.B
sich an der aktuell SCHRECKLICHEN Firmkatechese zu beteiligen, vielleicht eigene Gebetsabende, Treffen, Kurse usw. zu veranstalten, offen zu sein für alle Armen, seltsamen Gestalten und wer sonst noch so auftaucht, einen Garten zu bewirtschaften... Als Gegenpol zu den Hippie- oder sonstwie atheistischen Wohnprojekten und Aussteigerkommunen, die es bei uns in erstaunlicher Menge gibt, und die lauter schamanistische Seminare und sonstigen Zinnober anbieten. Deren Lebensstil finde ich toll, aber ich hätte sowas gerne in rechtgläubig katholisch! Mit Kapelle und Anbetung... Es bleibt leider bislang beim Phantasieren. Aber wer weiß was noch kommt...