Unlängst wies mich Franz, mein Gastgeber während der MEHR-Konferenz, auf einen Artikel hin, der auf dem Blog feinschwarz.net erschienen war: "Der dritte Raum. Chancen und Risiken kirchlicher Organisationsentwicklungsprozesse", verfasst von Rainer Bucher, Professor für Pastoraltheologie in Graz. Es kam mir gleich so vor, als hätte ich diesen Herrn vor längerer Zeit schon mal am Wickel gehabt, und bei einer Stichwortsuche in meinem Blog-Archiv fand sich's auch. Aber das wollte ich nur am Rande angemerkt haben.
Was also schreibt Prof. Bucher denn nun in diesem Artikel? - Erst einmal muss ich gestehen, dass ich Mühe hatte, den Text zu lesen, da das sperrige Vokabular und überhaupt die ganze verschrobene Ausdrucksweise mich nervten. Zwischenzeitlich neigte ich zu der Annahme, die ganze Fragestellung des Artikels sei von vornherein verfehlt. Aber rückblickend bin ich doch ganz froh, bis zum Ende durchgehalten zu haben, denn im Schlussteil gewinnt der Text dann doch ganz erheblich. Und Stoff zur Auseinandersetzung bietet er allemal.
Fangen wir aber trotzdem mal vorne an. Bei der Überschrift "Der dritte Raum" musste ich unwillkürlich an eine alte Fernsehwerbung für die Playstation 2 denken, deren Slogan lautete: "Playstation 2 - The third place". Habe ich nie verstanden, was das sollte. Aber jetzt verstehe ich es - dank einer Fußnote in Prof. Buchers Text. Der "dritte Raum", so erfährt man da, ist "in der Raumsoziologie nach Henri Lefebvre als espace vécu jene Wechselwirkung, die sich zwischen dem espace perçu als dem physisch-erfahrenen Raum und dem (mental) konzipierten espace conçu als (sozial) gelebter Raum ergibt." Alles klar? Wenn man mal davon ausgeht, dass die Begriffe "dritter Raum" und "dritter Ort" mehr oder weniger austauschbar sind, dann generiert laut der Firma Sony (bzw. einer von ihr beauftragten Werbeagentur) die Playstation 2 einen solchen sozialen Raum, und einen ebensolchen soll laut Prof. Bucher auch die Kirche eröffnen. Oder? - "Der Begriff 'Dritter Raum' hier ist bescheidener verwendet", versichert er - "wenn er auch in seiner dynamischen Unverfügbarkeit wie Unvermeidlichkeit Bezüge zur raumsoziologischen Begrifflichkeit aufweist." Na immerhin.
Zugegeben, ich mache mich hier ein bisschen lustig über diesen Wortbombast, aber es ist schon ganz gut und richtig, dass Prof. Bucher uns daran erinnert, wie sehr die Pastoraltheologie soziologisch orientiert ist und sich mit dem Vokabular der Soziologie tendenziell auch deren Denkmuster zu eigen macht. Dieser Umstand beschreibt nämlich im Wesentlichen bereits das Problem, das ich mit Teilen dieses Essays habe - aber das ist ein Problem, dem man sich stellen muss.
Das geht gleich damit los, dass Prof. Bucher in einer Bestandsaufnahme der gegenwärtigen Krise der Kirche nicht nur feststellt, dass "die Pfarrgemeinden seit 1950 über 70 Prozent an Reichweite [!]" verloren hätten, sondern darüber hinaus anmerkt, dass "der Rückgang der Taufquoten langfristig die institutionelle Stabilität der Kirche" gefährde. An dieser Stelle frage ich mich bereits: Ist DAS wirklich das Problem? Wenn es nur um die "institutionelle Stabilität" ginge, könnte man dann nicht vielleicht annehmen, dass ein gewisser Schrumpfungsprozess für diese sogar heilsam und gesund sein könnte? Wird diese Stabilität nicht weit eher - wie Martin Recke unlängst auf Commentarium Catholicum darlegte - durch die Vielzahl weitgehend inaktiver Mitglieder gefährdet, die gewisse Vollzüge der Kirche dennoch als "Dienstleistung" in Anspruch nehmen? (Diesen Aspekt spricht Prof. Bucher freilich auch an, indem er anmerkt, dass "die Sakramente nur noch selektiv und mit oft sehr eigenwilligen Sinnzuschreibungen genutzt" werden - wobei die Vokabel "genutzt" an sich schon einigermaßen verräterisch ist.) Glaubt man hingegen an die Heilsnotwendigkeit des Taufsakraments, dann ist der Rückgang der Taufquoten tatsächlich ein schwerwiegendes Problem - aber auch dann nicht in erster Linie für die Kirche, sondern gerade für die, die ihr nicht angehören.
Weiter heißt es:
"Unübersehbar ist auch, dass sich eine Vielzahl von (Lebenstil-)Milieus unserer Gesellschaft kaum mehr in kirchlichen Räumen (wieder-)finden. Offenkundig kann die organisierte Kirche die Vielfalt heutigen Lebens nicht mehr adäquat abbilden."
Hm. Stimmt wohl, aber: Ist bzw. wäre das die Aufgabe der Kirche? - Das kommt wohl darauf an, wie man diesen Satz konkret versteht. Die Dominanz bestimmter sozialer Milieus im kirchlichen Raum - bei weitgehender Abwesenheit aller anderen - ist durchaus ein Problem, zumal der Auftrag Jesu an Seine Kirche in diesem Punkt eindeutig ist: "Macht ALLE Menschen zu meinen Jüngern" (Mt 28,19). Gleichwohl erweckt die Formulierung "die Vielfalt des heutigen Lebens [...] abbilden" bei mir intuitiv den Verdacht, hier liege die (möglicherweise recht "volkskirchentypische") Vorstellung vor, man könne die Menschen zu Jüngern Jesu machen und sie aber gleichzeitig so lassen, wie sie sind. KANN man das? (Darauf komme ich noch zurück.)
Prof. Buchers Evaluation des krisenhaften Ist-Zustands der Kirche gipfelt in einem Zitat aus einem Essay von Valentin Dessoy, "Nur Mut. Vom Pfad abweichen und den Systemwechsel vorbereiten. Wie Kirchenentwicklung in Gang kommen kann", der zuerst in einem Themenheft der Hauptabteilung Seelsorge des Bistums Würzburg mit dem super-modernen Reihentitel "heute.glauben.leben" (Mai 2015) veröffentlicht wurde:
"Alle Energie geht in die 'Produktion', in überkommene Standards für ein Publikum, das in zehn Jahren nicht mehr sein wird."
Nun sagen mir allerdings erfahrene Seelsorger: Dass es dieses "Publikum" in absehbarer Zeit nicht mehr geben würde, hat man vor 30 Jahren auch schon gedacht, und bis jetzt hat sich diese Einschätzung nicht bestätigt. Aber weiter:
"Das geschieht zu allem Überfluss in einer überdimensionierten und dazu kaum noch anschlussfähigen 'Vertriebsstruktur', deren Aufrechterhaltung den größten Teil der Ressourcen in Anspruch nimmt."
Nun ist das mit dem Verheizen von Ressourcen durchaus so eine Sache. Auch dazu hat Martin Recke in seinem oben bereits angesprochenen "Kulturkatholizismus"-Essay einiges zu sagen. Indessen ist Valentin Dessoys BWL-Vokabular natürlich ganz schauderhaft. Was ist das überhaupt für einer? Ach so, er ist Gesprächspsychotherapeut, Familientherapeut, Trainer, Supervisor, Coach und Organisationsberater. Na dann.
An diesem Punkt hätte ich also, wie schon angedeutet, fast schon aufgegeben, aber dann sagte ich mir "Irgendeinen Grund wird es schon gehabt haben, dass der Franz mir den Link geschickt hat", und las weiter. Und etwas später wurde es dann auch tatsächlich ganz interessant.
"Freilich: Religiöse Organisationen organisieren das Unorganisierbare: persönliche Frömmigkeit, rituelle Praktiken, Erfahrungen von Umkehr und Gnade, individuelle Nächstenliebe. Sie organisieren also Räume, damit in ihnen geschieht, was nicht organisierbar ist, für das es aber diese Organisation braucht und gibt. Neben dem ebenso berechtigten, wie relativ leicht zu realisierenden Ziel der effizienteren Ressourcenverwendung kann das zentrale Ziel kirchlicher Organisationsentwicklungsprozesse also nur sein, die Chance zu erhöhen, dass in den Räumen der kirchlichen Organisation(en) persönliche Frömmigkeit, rituelle Praktiken, Erfahrungen von Umkehr, Gnade und Nächstenliebe möglich werden. Kirchliche Organisationsentwicklungsprozesse können das 'Eigentliche' nie direkt erreichen und bewirken, wohl aber die Organisation so umbauen, dass sich die Chance erhöht, dass das 'Eigentliche'geschieht."
Auch hier wieder viel Fachchinesisch, aber immerhin: Dass hier mal ein Pastoralstratege den geistlichen "Zweck" kirchlicher Organisationsformen so explizit in den Blick nimmt und konkret benennt, anstatt den kirchlichen "Apparat" lediglich unter funktionalen Gesichtspunkten zu betrachten und damit mehr oder weniger implizit zum Selbstzweck zu erheben, lässt schon mal hoffen.
Gleich darauf ist die Hoffnung aber größtenteils schon wieder z'nicht', wenn es heißt:
"Und wie verbessern wir die Chance, dass dieses Eigentliche sich ereignet? In postmodernen, also fluiden und unübersichtlichen Zeiten ist dies notwendig nur in einem trial and error-Verfahren möglich."
Hach, was sind wir postmodern und fluid. Gähn. P.S.: Tömtitöm, die Küche brennt. - Postmodern und fluid geht es auch weiter, wenn Prof. Bucher von den "HörerInnen der Botschaft" schreibt. So richtig gender-p.c.-mäßig up to date ist das große Binnen-I zwar nicht, weil heteronormativ (richtig müsste es "Hörer*innen" heißen, wenn nicht gar "Hörx"), aber die schlechte Absicht zählt. Doch zurück zum Inhalt: Welche Rolle spielen denn nun die Hörx der Botschaft? Eine "doppelte":
"Sie sind Adressaten und Adressatinnen [Rainer!!!] der Botschaft, aber auch ein wesentlicher Teil ihres Inhalts."
Der Rest des Absatzes ist dann aber wieder interessant und bedenkenswert:
"Denn die christliche Rede vom gnädigen Gott, der unsere Erlösung will, spricht nicht von einem radikal transzendenten Gott ohne Nähe zu uns, sondern sie redet vom befreienden Gott der konkreten Menschen heute. Die Kirche kann nicht 'ihren' Gott an jenen Menschen vorbei verkünden, an die sie sich wendet. Denn dieser Gott hat sich schon an jene Menschen gewandt, bevor die Kirche es tut. Seine Kommunikation mit ihnen ist früher als ihre."
Diese Feststellung ist ohne Zweifel ebenso richtig wie wichtig, und es kann gewiss nicht schaden, darüber mal eine Weile zu meditieren. Welche Schlussfolgerung zieht aber nun der Verfasser daraus?
Symbolbild; Bildquelle hier. |
"Ein wesentliches Ziel eines kirchlichen OE-Prozesses heute muss also sein, drohende Exkulturationsprozesse der Kirche zu stoppen."
-- MUSS es das? Da ich gerade bis über beide Ohren in der Lektüre von Rod Drehers "The Benedict Option" stecke, regt sich bei mir an dieser Stelle prompt Widerspruch: Nö, ganz im Gegenteil! Exkulturation jetzt! -- Ich weiß, das ist eine überraschende und durchaus auch provozierende Forderung. Bei genauerer Betrachtung ist es aber auch eigentlich gar keine Forderung, sondern lediglich die Einsicht in eine Notwendigkeit. Die Exkulturation des Christlichen ist in unserer Gesellschaft schließlich längst in vollem Gange; das hat die Kirche natürlich nicht so gewollt, aber sie hat es offensichtlich auch nicht verhindern können, und nun muss sie damit leben. Weiter oben schreibt Prof. Bucher:
"Die typisch kirchliche Trias von exklusiver Mitgliedschaft, lebenslanger Gefolgschaft und umfassender religiöser Biografiemacht schwindet unwiederbringlich dahin."
Das wirft nun natürlich auch wieder Fragen auf. Ist das so? Oder umgekehrt gefragt: Wenn sie "unwiederbringlich dahinschwindet", scheint das ja zu implizieren, dass es sie zu irgendeinem Zeitpunkt der Vergangenheit mal gegeben hat. Wann soll das gewesen sein? Und wenn dieser angebliche frühere Zustand sich nun einmal nicht wiederherstellen lässt - was folgt dann daraus für die Praxis?
"Eine Organisation, die auf diese völlig neue Situation nicht reagiert, wird marginalisiert werden und irgendwann in der Bedeutungslosigkeit versinken."
Weitere Fragen erheben ihr Haupt: Welche Situation ist inwiefern "völlig neu"? Davon abgesehen ist es natürlich eine Binsenweisheit, dass man auf eine neue Situation irgendwie reagieren muss. Das Wie dieser Reaktion ist hier doch wohl die entscheidende Frage. Und da scheint mir die Angst vor "Marginalisierung" und "Bedeutungslosigkeit" ein ausgesprochen schlechter Ratgeber, gerade vor dem Hintergrund der Zusage Jesu, die Pforten der Hölle würden die Kirche nicht überwinden (Mt 16,18). Diese Zusage gilt, solange die Kirche daran festhält, Kirche Jesu Christi zu sein. Ist sie das nicht mehr, ist sie überhaupt nichts mehr - oder allenfalls noch ein mehr oder weniger schlecht organisierter Dienstleistungsanbieter auf dem Markt für Weltanschauung und Lebenshilfe, den als solchen aber im Grunde kaum noch jemand braucht - und umso weniger braucht, je weniger sein "Angebot" sich von anderen auf diesem Markt unterscheidet. Hier kommt das sogenannte "Identität-Relevanz-Dilemma" an seinen thermodynamischen Nullpunkt: Man kann vielleicht auf kurze Sicht scheinbar gut damit fahren, im Interesse größerer gesellschaftlicher Relevanz die Betonung dessen zurückzunehmen, was die eigene Identität ausmacht; aber wenn überhaupt keine Identität mehr erkennbar ist, ist es mit der Relevanz auch vorbei.
Als Heilmittel gegen diesen schleichenden Identitätsverlust durch Assimilation an den zunehmend antichristlichen gesellschaftlichen Mainstream empfiehlt Rod Dreher in The Benedict Option gerade die entschlossene Exkulturation - den "strategischen Rückzug" in entschieden christliche Gemeinschaften in Form lokaler Basisgruppen, in denen der Glaube intensiv gelebt wird. Das ist natürlich die denkbar radikalste Antithese zu gängigen pastoraltheologischen Konzepten, und die Einwände dagegen kann man sich unschwer ausmalen. Der aus meiner Sicht gewichtigste wäre die Frage, ob eine solche "Wagenburg"- oder "Ghetto-Strategie" nicht im Widerspruch zum oben bereits angesprochen Missionsauftrag Jesu stehe - also dazu, alle Menschen zu Jüngern zu machen. Dreher selbst sieht hier jedoch keinen Widerspruch - im Gegenteil: Gerade dann, und nur dann, wenn die Kirche sich den herrschenden gesellschaftlichen bzw. kulturellen Trends gegenüber als DAS GANZ ANDERE darstelle, könne sie auch andere Menschen von ihrer Sendung überzeugen bzw. für diese gewinnen. Und zwar nicht einfach der Kontrastwirkung wegen, sondern weil das nun mal ihre Sendung ist.
"Es geht nicht nur um unser eigenes Überleben", stellt Dreher klar. "Wenn wir für die Welt das sein wollen, von dem Christus will, dass wir es seien, dann werden wir mehr Zeit abseits von der Welt verbringen müssen, in tiefem Gebet und umfangreichem spirituellem 'Training' - ebenso wie Jesus sich zum Gebet in die Wüste zurückzog, ehe er die Menschen lehrte. Wir können der Welt nicht geben, was wir selbst nicht haben."
-- Doch zurück zu Rainer Bucher: Kirchliche Organisationsentwicklungsprozesse, so meint er, könnten u.a. auch dazu dienen, "zu verhindern, dass eigene Sehnsüchte zur Basis kirchlicher Zukunftsgestaltung werden". Wenn ich das lese, denke ich an Grusel-Visionen einer "Kirche der Zukunft", wie sie der Essener Generalvikar Klaus Pfeffer vor gut zwei Jahren vorgelegt hat; Prof. Bucher hingegen hat an dieser Stelle einen Link zu einem von ihm verfassten Artikel hinterlegt, der als Antwort auf die Aufsehen erregendene (und besonders in konservativen Kreisen gefeierte) Streitschrift "Kurskorrektur?!" des Münsteraner Ex-Pfarrers Thomas Frings gedacht ist und davor warnt, in "Idyllen" zu "flüchten". Den Artikel habe ich allerdings nicht gelesen, das wollte ich meinen Nerven nicht antun. Die Warnung vor der Flucht in die Idylle taucht in Buchers Text auch noch an anderer Stelle auf - nämlich in Form der Warnung, kirchliche OE-Prozesse müssten notwendig
"scheitern [...], wenn sie auf die Wiederherstellung einer problemärmeren Vergangenheit ('kirchliche Totalinklusion', Stopp des Nutzungswandels von Religion) durch Aktivierung des verbliebenen Restes hoffen".
Hier wäre nun die oben bereits aufgeworfene Frage zu wiederholen, was für eine "problemärmere Vergangenheit" er denn meint. Gab es die je? Waren die Probleme "früher" nicht einfach bloß andere? Nun, wenn es eine solche "problemärmere Vergangenheit" einmal gegeben haben sollte, dann kommt die jedenfalls nicht zurück - das sieht auch Rod Dreher so:
"Mit der Benedikt-Option versuchen wir nicht, siebenhundert Jahre Geschichte zurückzudrehen, als ob das möglich wäre. [...] Wir versuchen lediglich, eine christliche Lebensweise aufzubauen, die als Insel der Heiligkeit und Beständigkeit inmitten des Hochwassers der fluiden [meine Übersetzung - sorry, Rainer!] Moderne steht."
Das ist nun freilich ziemlich genau das, was Prof. Bucher als "Aktivierung des verbliebenen Rests" bezeichnet - und ablehnt. Er würde es wohl auch als "Flucht" bezeichnen, und vielleicht würde Dreher da gar nicht widersprechen; aber mit Idylle hat es nichts zu tun - sondern vielmehr mit harter Arbeit. Was allerdings vermutlich für viele (oder alle) vermeintlichen Idyllen gilt.
Auf den Punkt mit dem "Nutzungswandel von Religion" gehe ich lieber nicht näher ein; hier verrät einmal mehr die Sprache sich selbst. Aber Prof. Bucher nennt noch weitere Kriterien für das "Scheitern" kirchlicher OE-Prozesse, bei denen ich ihm durchaus zustimmen kann: Scheitern, so meint er, müssten diese Prozesse auch, "wenn sie sich auf effizientere Ressourcenverwendung beschränken" oder "wenn sie das Volk Gottes nur als externe 'Adressaten' behandeln und nicht als jene Personen, aus denen die Kirche selber besteht".
Erst im vorletzten Absatz kommt Prof. Bucher dann auf den im Titel angesprochenen "dritten Raum" zu sprechen, "der sich erst jenseits der zunehmend ausgezehrten traditionell-kirchlichen wie der schnell technokratisch verengten OE-Kultur zeigt". Okay, das habituelle Eindreschen auf den "traditionell-kirchlichen" Bereich sind wir mittlerweile gewöhnt, Schwamm drüber. Was der Verfasser weiter über den "dritten Raum" sagt, lässt jedenfalls aufhorchen:
"Theologisch gesehen ist dies der Raum des Heiligen Geistes. Der aber hat mindestens drei verstörende Eigenschaften: Er weht, wo er will, hat daher ein eher gebrochenes Verhältnis zu Institutionen, Grenzen und Regeln, und man erkennt ihn nur an seinen Wirkungen."
Man mag hier den Eindruck haben, Prof. Bucher vertrete eine Auffassung vom Wirken des Heiligen Geistes, wie sie etwa auch in dem wirklich schlimmen NGL-Klassiker "Wenn der Geist sich regt" von Norbert Weidinger (Text) und the one and only Ludger Edelkötter (Musik) artikuliert:
"Wenn der Geist sich regt
Und Feuer legt
Und verbrennen will
Was ihr noch pflegt [...]
Füllt den neuen Wein nicht in die alten Schläuche!
Zwängt die junge Kirche nicht in alte Bräuche!"
Bitte um Erlaubnis, mal kurz kotzen zu gehen. -- Gleichzeitig kann der kleine Charismatiker in mir mit der Berufung auf das Wirken des Heiligen Geistes aber doch auch eine ganze Menge anfangen. Wobei ich angesichts der Aussage, der Heilige Geist habe "ein eher gebrochenes Verhältnis zu Institutionen, Grenzen und Regeln", gern auf das Schreiben Iuvenescit Ecclesia der Glaubenskongregation verweisen möchte, das sich mit der "Beziehung zwischen hierarchischen und charismatischen Gaben im Leben und der Sendung der Kirche" befasst und in dem es u.a. heißt,
"dass es in den Schrifttexten keinen Gegensatz zwischen den verschiedenen Charismen gibt, sondern vielmehr eine harmonische Verbundenheit und Komplementarität. Die Gegenüberstellung einer institutionellen Kirche jüdisch-christlicher Prägung und einer charismatischen Kirche paulinischer Art, wie sie von gewissen verkürzenden ekklesiologischen Interpretationen behauptet wurde, findet im Neuen Testament kein Fundament. Weit davon entfernt, die Charismen auf der einen und die Institutionen auf der anderen Seite zu sehen oder einer Kirche 'der Liebe' eine Kirche 'der Institution' gegenüberzustellen, nennt Paulus in einer einzigen Aufzählung Charismen der Leitung und der Liebe [...]. Sowohl er als auch Petrus geben den Charismatikern Anweisungen, wie die Charismen zu gebrauchen sind. Sie nehmen die Charismen wohlwollend an und sind davon überzeugt, dass sie göttlichen Ursprungs sind; sie betrachten sie aber nicht als Gaben, die dazu berechtigen, sich dem Gehorsam gegenüber der kirchlichen Hierarchie zu entziehen, oder das Recht auf einen unabhängigen Dienst gewähren. Paulus ist sich bewusst, dass die ungeordnete Ausübung der Charismen in der christlichen Gemeinschaft Schaden anrichten kann."
Gleichwohl ist an Buchers Charakterisierung des Wirkens des Heiligen Geistes tendenziell schon was dran, und sich das bewusst zu machen, kann auch durchaus hilfreich sein. Gerade wenn man den Hinweis auf das "eher gebrochene Verhältnis zu Institutionen, Grenzen und Regeln" auf solche Strukturen innerhalb der Kirche bezieht, die gerade nicht "Hierarchie" im eigentlichen Sinne des Wortes, nämlich heilige Ordnung sind - also auf so allerlei Gremien- und Verbandsstrukturen. Solche Strukturen beim Organisationsaufbau mehr oder weniger links liegen zu lassen, dürfte durchaus auch im Sinne der Benedict Option sein - auch wenn Rainer Bucher das wohl eher nicht gemeint hat.
Abschließend zitiert der Verfasser einen Essay von Maren Lehmann (Leutemangel. Mitgliedschaft und Begegnung als Formen der Kirche, in: Jan Hermelink/Gerhard Wegner [Hrsg.]: Paradoxien kirchlicher Organisation. Niklas Luhmanns frühe Kirchensoziologie und die aktuelle Reform der evangelischen Kirche, Würzburg 2008):
"Vielleicht ist … dies der Fehler … so vieler Reformversuche der Kirche als Organisation, dass sie nach zu viel Ordnung und zu viel Regelung suchen, wo es doch darauf ankäme, nach brauchbarer Unordnung oder … nach 'brauchbarer Illegalität' zu suchen."
Ich weiß zwar nicht, was Frau Lehmann - oder eben Prof. Bucher, indem er sie zitiert - nun genau unter "brauchbarer Illegalität" versteht, aber ich muss zugeben: der Begriff als solcher gefällt mir. Er klingt nach Punk.
Eine durchaus schön langsam immer kritischer werdende Bemerkung zu Rod Dreher gibt's auch noch, aber einstweilen:
AntwortenLöschenDaß in einem Werk gleichzeitig von
>>in der Raumsoziologie nach Henri Lefebvre [!]
und dann auch noch von
>>brauchbarer Illegalität
die Rede ist, regt die Schmunzelmuskeln doch ganz gewaltig an.
Das ging mir durchaus auch so :)
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