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Freitag, 8. April 2016

Skandal in Mississippi

Ach, der SPIEGEL. Nachdem Deutschlands meistes Nachrichtenmagazin pünktlich zu Ostern mal wieder daran erinnert hat, wie gefährlich Religionen sind (und zwar, wenn man dem knalligen Titelbild glauben darf, ganz besonders die christliche Religion), wartete das Blatt jüngst mit einer Meldung auf, deren schockierende Überschrift lautete: 


Im Teaser-Absatz las man: "Der Gouverneur des US-Bundesstaates Mississippi hat ein Gesetz unterzeichnet, das die Rechte Homosexueller massiv einschränkt." -- Echt jetzt? Kann ich mir irgendwie gar nicht vorstellen. Nun habe ich es mir allerdings seit einiger Zeit zur Gewohnheit gemacht, deutschen Medienerzeugnissen, wenn es um Nachrichten aus dem USA geht, prinzipiell kein Wort zu glauben -- jedenfalls nicht, ehe ich die Angaben mit Quellen von jenseits des Atlantik abgeglichen habe. Fragen wir also Onkel Google: 
-- Ups. Dann also doch lieber zurück zum SPIEGEL. "Phil Bryant, republikanischer Gouverneur von Mississippi, hat seine Unterschrift unter ein Dokument gesetzt, dass von vielen als pure Diskriminierung angesehen wird", weiß das Nachrichtenmagazin. Es handelt sich um die House Bill 1523, ein von beiden Kammern des Kongresses von Mississippi verabschiedetes und nun eben vom Gouverneur unterzeichnetes Gesetz mit dem Titel "Religious Liberty Accommodations Act" (etwa: "Gesetz zum Schutz der Religionsfreiheit"). Der Titel wird im SPIEGEL-Artikel übrigens nicht genannt. Laut letzterem geht es in dem Gesetz nämlich nicht um Religionsfreiheit, sondern vielmehr um "weitreichende Einschränkungen für Homosexuelle im Süden der USA". 

-- "Süden der USA" - klingelt's? Rassentrennung und so? Gerade Mississippi galt ja lange Zeit als der rassistischste aller US-Bundesstaaten. Dürfen künftig Homosexuelle in Mississippi nicht mehr aus denselben Wasserhähnen trinken wie Heterosexuelle? Könnte man denken. Auch auf der US-amerikanischen (und für dortige Verhältnisse ausgesprochen "linken") Nachrichten-Website Slate zog der Journalist Mark Joseph Stern eine derartige Parallele und bezeichnete die House Bill 1523 als "LGBTQ segregation bill"; er äußerte, das Gesetz sei "essentially an attempt to legalize segregation between LGBTQ people and the rest of society" ("im Wesentlichen ein Versuch, eine Trennung zwischen LGBTQ-Personen und dem Rest der Gesellschaft zu legalisieren") - was David Harsanyi im Federalist als "gross overstatement" ("krasse Übertreibung") bezeichnete. Doch dazu später. Was sagt denn nun der SPIEGEL konkret zum Inhalt des Gesetzes?
"Künftig dürfen private Geschäftsleute, Staatsbedienstete, Kirchen oder Wohltätigkeitsorganisationen Menschen ihre Dienste verwehren - wenn sie aus religiösen Gründen Probleme mit deren Lebensstil haben. Das ist jetzt amtlich." 
Das klingt in der Tat dramatisch. Und es wirft Fragen auf. Private, staatliche und kirchliche Einrichtungen dürfen Menschen, mit deren "Lebensstil" sie nicht einverstanden sind, "Dienste verwehren"? Welche Dienste? Etwa alle? Muss man sich demnach darauf einstellen, dass sich diverse Dienstleister im Staate Mississippi Schilder ins Fenster hängen, auf denen steht "Schwule werden hier nicht bedient"? Dann wäre der Vergleich mit der "im Süden der USA" einstmals praktizierten Rassentrennung in der Tat nicht weit hergeholt. Und das sollte, dem vom SPIEGEL verschwiegenen Titel des Gesetzes zufolge, mit Religionsfreiheit gerechtfertigt werden?

Nun, zum Glück gibt es ja dieses tolle Ding namens Informationsfreiheit, und somit kann man mit minimalem Rechercheaufwand den genauen Wortlaut des umstrittenen Gesetzes online finden. Nämlich hier. Was also steht nun wirklich drin in der House Bill 1523?

Zunächst: Ziel und Zweck des Gesetzes werden in der nun von Gouverneur Phil Bryant unterzeichneten Urkunde dahingehend definiert, Einzelpersonen, religiöse Organisationen und private Vereinigungen davor zu schützen, seitens des Staates aufgrund ihrer religiösen oder moralischen Überzeugungen diskriminiert bzw. bestraft zu werden. Laut Section 2 des Gesetzestexts betrifft dies konkret die Überzeugungen, dass 
  • Ehe als Verbindung zwischen einem Mann und einer Frau definiert ist bzw. sein sollte,
  • sexuelle Beziehungen ihren legitimen Platz in einer so verstandenen Ehe haben und 
  • dass die Begriffe "männlich"/"Mann" und "weiblich"/"Frau" sich auf das unveränderliche biologische Geschlecht bezieht, wie es zum Zeitpunkt der Geburt anatomisch und genetisch objektiv festgelegt ist. 
Wohlgemerkt, und ehe hier ein Sturm der Entrüstung ausbricht: Das Gesetz behauptet nicht, dass diese Überzeugungen richtig wären. Es erkennt lediglich an, dass es Personen (und ganze Religionsgemeinschaften) gibt, die diese Überzeugungen haben, und gesteht diesen das Recht zu, gemäß dieser Überzeugungen zu handeln. Innerhalb gewisser Grenzen jedenfalls - und diese Grenzen definiert das Gesetz ziemlich gründlich. 

Ich denke, es ist nicht nötig, dass ich hier den gesamten Gesetzestext paraphrasiere - wer es ganz genau wissen will, kann den Originalwortlaut ja selbst nachlesen -, aber ein paar Beispiele mögen einen Eindruck davon vermitteln, in welche Richtung das Ganze geht. Subsection 3,1a des Gesetzes verbietet staatliche Sanktionen gegen religiöse Organisationen, die es aufgrund der oben genannten Überzeugungen ablehnen, bestimmte Paare zu trauen oder Dienstleistungen, Räumlichkeiten etc. für Hochzeitsfeiern zur Verfügung zu stellen. Nun weiß ich ja nicht, wie es den religiös Ungebundenen unter meinen Lesern damit geht, aber ich würde behaupten, das ist nicht mehr als recht und billig. Es wäre doch bizarr, wenn beispielsweise eine katholische, griechisch-orthodoxe oder altlutheranische Kirchengemeinde vom Staat dazu gezwungen werden könnte, eine Trauung zu vollziehen, die der in ihrer Glaubenslehre verankerten Auffassung von  Ehe diametral zuwiderläuft - oder auch nur, wenn sie gezwungen werden könnte, der Hochzeitsgesellschaft einen Saal zu vermieten. Subsection 3,1b und c sichern religiösen Organisationen das Recht zu, Entscheidungen z.B. über die Einstellung oder Entlassung von Mitarbeitern oder über Verkauf, Vermietung oder Verpachtung von ihnen gehörigen Immobilien bzw. Räumlichkeiten von der Übereinstimmung der Beschäftigten, Mieter etc. mit ihren religiösen und moralischen Überzeugungen abhängig machen. Nun, sagen wir mal so: Wer eine Polyamoristen-WG aufmachen will, sollte sich dazu vielleicht nicht unbedingt ausgerechnet die Kirche als Vermieter aussuchen. Was die Einstellung oder Entlassung von Mitarbeitern angeht, mag sich der aufmerksame Beobachter an Debatten über das kirchliche Arbeitsrecht in Deutschland erinnert fühlen - und wird feststellen können, dass Subsection 3,1b der mississippianischen House Bill 1523 nicht gar so weit entfernt ist von der diesbezüglichen Rechtsprechung des deutschen Bundesverfassungsgerichts. Skandalös? - Die Einen sagen so, die Anderen so

Ab Subsection 3,3 des umstrittenen Gesetzes geht es dann nicht mehr um religiöse Organisationen, sondern um Privatpersonen. Der besagte Abschnitt legt fest, dass Adoptiv- und Pflegeeltern die ihnen anvertrauten Kindern im Einklang mit ihren religiösen und moralischen Überzeugungen erziehen dürfen. Dass das manch Einem nicht passt, kann ich mir schon vorstellen. Es dürfte nicht mehr lange dauern, bis dies auch hierzulande zu einer strittigen und umkämpften Frage wird. -- Subsection 3,4 verbietet Zwangsmaßnahmen gegen Personen, die sich aufgrund der oben genannten Überzeugungen weigern, an medizinischen Maßnahmen im Zusammenhang mit oder mit dem Ziel einer Geschlechtsumwandlung mitzuwirken. Es wird jedoch explizit klargestellt, dass aus dieser Passage des Gesetzes keine Rechtfertigung dafür abzuleiten sei, einer Person eine notwendige medizinische Behandlung zu verweigern. 

Besonders spannend, weil quasi maßgeschneidert für Fälle, über die es in jüngster Zeit in den USA allerlei heftige Kontroversen gab, sind die Abschnitte 3,5 und 3,8. In Subsection 3,5 geht es um Dienstleistungen für Hochzeitsfeiern - explizit genannt werden z.B. Fotografie, Discjockey-Dienste, die Herstellung bzw. Lieferung von Blumenschmuck, Kleidern und Backwaren, Limousinenservice und die Vermietung von Räumlichkeiten. Das Gesetz legt fest, dass niemand gezwungen werden darf, solche und ähnliche Dienste für Hochzeiten zur Verfügung zu stellen, die er aus religiöser Überzeugung ablehnt. Man könnte meinen, unabhängig von den Gründen für die Ablehnung wäre es einfach eine Angelegenheit der unternehmerischen Freiheit, wenn ein Bäcker oder Florist einen Auftrag ablehnt. Tatsächlich gab es in den letzten Jahren aber einige Fälle, in denen in verschiedenen US-Bundesstaaten massive Strafen wegen solcher Weigerungen verhängt wurden. Zum Teil wurden die betroffenen Dienstleister dadurch zur Geschäftsaufgabe gezwungen. Ist das verhältnismäßig? Wo das jeweils betroffene Braut- oder Bräutigamspaar doch auch einfach zu einem anderen Bäcker hätte gehen können, um seine Hochzeitstorte zu bekommen? Die Meinungen sind geteilt.

Subsection 3,8 betrifft die Ausstellung von Heiratsurkunden durch Staatsbedienstete. Erinnert sich noch jemand an den Fall Kim Davis? Die Standesbeamte des Rowan County im Bundesstaat Kentucky saß eine Woche in Beugehaft, weil sie sich weigerte, Heiratsurkunden für gleichgeschlechtliche Paare mit ihrem Namen zu unterzeichnen. In Mississippi sollen derartige Konfliktfälle zukünftig ausgeschlossen werden: Dem neuen Gesetz zufolge haben Staatsbedienstete das Recht, aus Gewissensgründen den Vollzug oder die Beurkundung von Eheschließungen zu verweigern - allerdings nur unter der Voraussetzung, dass legale Eheschließungen dadurch nicht behindert oder verzögert werden. Simpel gesagt: Wenn ein Standesbeamter sich weigert, ein gleichgeschlechtliches Paar zu trauen oder die Ehe zu beurkunden, dann muss es ein anderer tun.

Werfen wir an dieser Stelle einen Blick auf den größeren Kontext. Mit seiner Entscheidung im Fall Obergefell vs. Hodges vom 26.06.2015 hat der Oberste Gerichtshof der USA bundesstaatliche Gesetze, die gleichgeschlechtliche Paare von der Ehe ausschließen, für ungültig erklärt. Daraus folgt, dass jeder US-Bundesstaat es gleichgeschlechtlichen Paaren erlauben und ermöglichen muss, zu heiraten. Die Entscheidung wurde mit denkbar knapper Mehrheit gefällt, und selbstverständlich sind auch außerhalb des Richtergremiums längst nicht alle US-Amerikaner damit einverstanden. Es gibt zum Beispiel ganze Religionsgemeinschaften, die daran festhalten, dass eine Ehe nur zwischen genau einem Mann und genau einer Frau möglich sei. Nun ist es freilich ein Charakteristikum von Recht und Gesetz, dass sich auch diejenigen daran halten müssen, die damit nicht einverstanden sind. Somit hat kein Standesbeamter, kein Bäcker und kein Florist in den USA das Recht, ein gleichgeschlechtliches Paar am Heiraten zu hindern; ob er aber gegen seine Überzeugung aktiv daran mitwirken muss, ist eine andere Frage. Der Staat Mississippi hat entschieden, die Gewissensfreiheit derjenigen seiner Bürger, die dies nicht wollen, zu schützen. Und deshalb die ganze Aufregung? Eine Einschränkung der Rechte Homosexueller kann ich in diesem Gesetz nirgends entdecken. Mit einzelnen - oder allen - Bestimmungen des Gesetzes nicht einverstanden zu sein, Kritik daran zu üben, ist in einer Demokratie selbstverständlich legitim. Aber haben wir nicht gerade festgestellt, dass sich an Recht und Gesetz auch jene zu halten haben, die damit nicht einverstanden sind?

Ich komme darauf noch zurück; allerdings muss ich zuvor noch auf Subsection 3,6 eingehen, die ich vorläufig übersprungen hatte. An dieser Stelle des Gesetzestextes bin ich nämlich beim ersten Lesen erst mal leicht zusammengezuckt. Der betreffende Abschnitt behandelt das Recht von Personen, "geschlechtsspezifische Standards oder Regeln bezüglich der Kleidung und Körperpflege von Angestellten oder Schülern" oder bezüglich des Zugangs zu Toiletten, Waschräumen, Duschen, Umkleideräumen usw. aufzustellen. Hier, und nur hier, schien mir die doch sehr allgemein gehaltene Formulierung des Gesetzestexts allerlei Willkür zuzulassen - wobei: Ich hatte auch schon mal einen Job, in dem alle männlichen Mitarbeiter Krawatten tragen mussten, und obwohl ich es gehasst habe, wäre ich nicht auf die Idee gekommen, es wäre Sache des Staates, dagegen vorzugehen. Viel interessanter als der Punkt mit den geschlechtsspezifischen Kleidungsvorschriften ist ja ohnehin der mit den Toiletten und Waschräumen. "If we believe government should micromanage which boys or girls can use the bathroom, then what doesn’t government have a right to micromanage?", fragt David Harsanyi in seinem bereits zitierten Artikel im Federalist; das übersetze ich mal nicht, weil mir partout kein geeignetes Äquivalent für den schönen Begriff to micromanage einfällt. Aber wie man sich denken kann, steckt hinter dieser Passage des Gesetzes mehr, als man auf den ersten Blick annehmen möchte. Tatsächlich tobt in den USA schon seit einiger Zeit eine heftige Debatte über Transgender Bathroom Rights. Die Frage lautet: Soll eine Transgender-Person das Recht haben, die Toilette zu benutzen, die seinem/ihren momentanen geschlechtlichen Selbstbild entspricht, oder soll er/sie die Toilette benutzen müssen, die seinem/ihren angeborenen biologischen Geschlecht zugeordnet ist? Unlängst hat sich sogar Präsident Obama in die Debatte eingeschaltet und sich auf die Seite derer gestellt, die freie Toilettenwahl für Transgender-Personen fordern. Einzelne Bundesstaaten haben bereits entsprechende Regularien erlassen; konservative Kritiker warnen hingegen vor Missbrauchsgefahr. Wer das ganze Thema für eher skurril hält, der sei darauf hingewiesen, dass die Debatte neuerdings auch schon in Deutschland angekommen ist. Der Staat Mississippi hat derweil mit Subsection 3,6 der House Bill 1523 eine im Grunde sehr pragmatische Antwort auf die Frage gefunden, wer welche Toilette benutzen darf; sie lautet: Das soll der Besitzer der Toilette entscheiden. Man kann das Willkür nennen oder einfach Eigentumsrecht; klar dürfte sein: Ein Staat kann in seinen eigenen Einrichtungen Unisex-Toiletten einrichten, soviel er lustig ist -- private Einrichtungen wird er kaum dazu verpflichten können.

Kehren wir nach dieser notwendigen Abschweifung zurück zu der Frage: Warum löst dieses Gesetz so viel Wut und Empörung aus? David Harsanyi stellt fest, dass viele Medien in den USA den Begriff "Religionsfreiheit" in diesem und ähnlichen Zusammenhängen meist nur in Anführungsstrichen verwenden, und folgert: "Der Großteil der Medien will nicht anerkennen, dass Amerikaner, die sich weigern, an schwulen Hochzeiten mitzuwirken, dafür ernsthafte Glaubens- und Gewissensgründe haben könnten. Für sie gibt es da nur Hass." Die Öffentlichkeit, so Harsanyi weiter, werde über das Wesen der Religionsfreiheit in die Irre geführt, indem die Debatte über gleichgeschlechtliche Ehen "als Kampf zwischen weltoffenen, nach bürgerlichen Rechten strebenden Schwulen und einem Haufen bigotter Hinterwäldler, die Angst vor dem Fortschritt haben", dargestellt werde. Für eine derartige Schwarzweißmalerei ist es natürlich hilfreich, die Positionen der Gegenseite krass zu überzeichnen und so zu tun, als erlaube es die House Bill 1523 den örtlichen religiösen Fanatikern, homosexuelle Mitbürger auf dem Marktplatz zusammenzutreiben und auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen. Differenzierungen der Art, dass eine Auffassung von Ehe, die gleichgeschlechtliche Partnerschaften per definitionem ausschließt, nicht gleichbedeutend mit "Hass gegen Homosexuelle" sei, sind unerwünscht. So herrscht in der öffentlichen Debatte - und beileibe nicht nur in den USA - vielfach die Tendenz vor, religiös begründete Vorbehalte gegen die Ausweitung des Ehebegriffs auf gleichgeschlechtliche Partnerschaften rundheraus für illegitim zu erklären. Das ist eine besorgniserregende Entwicklung - besonders wenn man bedenkt, dass das Recht auf Gewissens- und Religionsfreiheit geradezu zu den Gründungsprinzipien der USA zählt (und übrigens auch in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, Artikel 18, garantiert wird).

Betonen wir noch einmal, dass es in der House Bill 1523 nicht darum geht, homo- oder transsexuellen Menschen irgendwelche Rechte vorzuenthalten, sondern lediglich darum, die Gewissensfreiheit derer zu schützen, die aufgrund ihrer religiösen oder moralischen Überzeugungen nicht aktiv an gleichgeschlechtlichen Eheschließungen - oder auch an Geschlechtsumwandlungen - mitwirken wollen. Wenn in diesem Zusammenhang von "Hass" die Rede ist, dann muss ich sagen, dass ich den Hass eher auf der anderen Seite der Debatte wahrnehme. Um nochmals David Harsanyi (in freier Übersetzung) zu zitieren:
"Es geht nicht um die Bürgerrechte einer Gruppe. Vielmehr handelt es sich um einen Konflikt, in dem die Interessen zweier verschiedener Gruppen einander gegenüberstehen. Und derzeit legt nur eine dieser Gruppen das Verlangen an den Tag, die andere zu etwas zu nötigen." 
Wie diese Nötigung aussehen kann, dafür gibt der ebenfalls "im Süden der USA" gelegene Bundesstaat Georgia ein illustratives Beispiel. Dort hatten die beiden Kammern des Kongresses erst kürzlich mit großer Mehrheit ein ähnliches Gesetz zur Religionsfreiheit verabschiedet; allerdings war die House Bill 757 aus Georgia erheblich weniger weitreichend als ihr Pendant aus Mississippi - so garantierte der Gesetzentwurf lediglich Gewissensfreiheit für religiöse Organisationen, nicht für Privatleute. Dennoch gab es auch hier massive Proteste - bis hin zu Boykottdrohungen von Großunternehmen wie Disney, Apple und TimeWarner gegen den Bundesstaat. Die National Football League (NFL) warnte, Georgia riskiere mit diesem Gesetzesvorhaben seine Bewerbung um die Ausrichtung des SuperBowl in Atlanta. Schließlich beugte sich Gouverneur Nathan Deal dem Druck und verweigerte dem Gesetz seine Unterschrift. Funktioniert so Demokratie? Ich weiß ja nicht.
 
Ehe ich meine Leser nun ihren jeweils eigenen Gedanken über diese Vorgänge überlasse, möchte ich - einfach so, ohne jeden inhaltlichen Zusammenhang - ein Zitat aus einem Roman über die Revolution von 1848/49 loswerden, auf das ich kürzlich gestoßen bin:
"Das ist also die Freiheit dieser Freiheitshelden -- Vernichtung ohne Erbarmen allen Denen, die nicht wollen und denken wie sie!" 
Das schrieb Sir John Retcliffe (alias Hermann Goedsche) im Jahre 1862. So richtig viel scheint sich seitdem nicht geändert zu haben. 



Dienstag, 5. April 2016

Dunning und Kruger lachen sich einen Ast

In einer Folge der Zeichentrickserie SpongeBob Schwammkopf erwartet der Nachbar und beste Freund des Titelhelden, der exemplarisch dämliche, faule und verfressene Seestern Patrick, Besuch von seinen Eltern und ist extrem nervös, da er bestrebt ist, einen guten Eindruck auf sie zu machen. SpongeBob schlägt vor, ihm zu helfen, indem er bei diesem Besuch ebenfalls zugegen ist und sich so extrem dumm stellt, dass Patrick im direkten Vergleich mit ihm intelligent wirkt. Leider spielt SpongeBob seine Rolle so überzeugend, dass Patrick bald selbst anfängt zu glauben, er sei klüger als sein Freund und Nachbar. Als SpongeBob es schließlich satt hat, für dumm gehalten zu werden, und zu beweisen versucht, dass er in Wirklichkeit viel klüger ist, glaubt man ihm nicht, und Patrick spricht die klassischen Sätze: 
"War doch klar, dass du so was sagen würdest. Dumme Leute haben meistens überhaupt keine Ahnung davon, wie dumm sie eigentlich sind." 
Der Witz besteht hier natürlich darin, dass Patrick, ohne es zu merken, über sich selbst spricht. Die Aussage selbst ist nämlich korrekt. Es gibt sogar eine quasi-wissenschaftliche Bezeichnung für dieses Phänomen: den Dunning-Kruger-Effekt

Benannt ist dieser Effekt nach David Dunning und Justin Kruger, die dieses Phänomen erstmals 1999 in einer populärwissenschaftlichen Publikation beschrieben und dafür im Jahr 2000 mit dem satirischen Ig-Nobel-Preis im Bereich Psychologie ausgezeichnet wurden. Dunning und Kruger verwendeten nicht den pejorativen Begriff "Dummheit", sondern sprachen stattdessen von "Inkompetenz"; aber jedenfalls kamen sie zu dem Ergebnis, dass "weniger kompetente Personen" dazu neigen, ihre eigenen Fähigkeiten zu überschätzen, und somit das Ausmaß ihrer eigenen Inkompetenz nicht erkennen können; und mehr noch, sie sind auch unfähig, die überlegenen Fähigkeiten Anderer zu erkennen. Kurz und dreckig gesagt, je dümmer jemand ist, desto mehr neigt er dazu, Personen für dumm zu halten, die tatsächlich viel klüger sind als er selbst. Und da wird es nun interessant. 

Wie der Kollege Josef Bordat unlängst berichtete, existiert eine aktuelle Studie des Brain, Mind & Consciousness Lab der Case Western Reserve University in Cleveland, Ohio, aus der hervorgeht, was viele Atheisten schon immer vermutet oder behauptet haben: nämlich, dass das analytische Denken bei Atheisten ausgeprägter sei als bei Menschen, die an Gott glauben. Interessanterweise freuen sich die Atheisten aber gar nicht so richtig darüber -- denn dieselbe Studie, die auf den Ergebnissen von acht psychologischen Tests an 2212 Versuchspersonen basiert, stellt zugleich fest, dass das im Vergleich zu gläubigen Menschen stärker ausgeprägte analytische Denken der Atheisten mit einem Mangel an Empathie und Moral einhergeht. "Die Betonung eines Hirnabschnitts geht zu Lasten des anderen", erklärt der FOCUS in einem Bericht über die Studie. "Das führt dazu, dass gläubige Menschen über mehr Mitgefühl und moralische Prinzipien verfügen, die Nicht-Gläubigen dafür intelligenter und nüchterner sind. Die rationale Fokussierung rückt Atheisten in die Nähe von Psychopathen, in dem Sinn, dass sie selbstbezogener und kaltherziger sind, und weniger von moralischen Überzeugen geleitet werden." Im Interesse maximaler Polarisierung versieht der FOCUS seinen Artikel folgerichtig mit der Überschrift "Was Atheisten mit Psychopathen gemeinsam haben"

Über die empörten Reaktionen eingeschworener Kampfatheisten, die sich von ihrer vermeintlich besten Verbündeten, der empirischen Wissenschaft, verraten sehen (noch vor nicht einmal einem halben Jahr berichtete der FOCUS über eine andere Studie, derzufolge religiöse Kinder "weniger großzügig" seien als atheistisch erzogene; da scheint ein gewisser Widerspruch vorzuliegen, aber so funktioniert der Wissenschaftsbetrieb nun mal), ließe sich durchaus Einiges sagen, aber das hat im Wesentlichen bereits Josef Bordat getan. Ich verzichte daher darauf, seine Anmerkungen hier zu wiederholen; im Zuge dessen, worauf ich hier hinaus will, möchte ich jedoch seine fundamentale Infragestellung der Aussagekraft derartiger Studien zitieren: 
"[E]in solches Urteil kann in der allgemeinen Diktion nur falsch sein. Es kommt immer auf den Einzelnen an. 'Wer an Gott glaubt' ist ebensowenig eine sinnvolle wissenschaftliche Kategorie wie 'das Gehirn von Atheisten'. Beides gibt es nicht im suggerierten Singular. Jeder kennt wohl Beispiele kaltherziger Katholiken, egoistischer Evangelikaler und scharfsinniger Juden, kennt Moslems ohne Mitleid, Atheisten mit Anstand und hochempathische Heiden. Und wenn nicht, wird es Zeit, sie kennenzulernen. Oder auch nicht. Und der Unglaube allein sorgt nicht notwendig für überragende Intelligenz." 
Tatsächlich widerspricht laut FOCUS auch der Leiter der betreffenden Studie, Tony Jack, einer Deutung seiner Untersuchungsergebnisse, die darauf hinausliefe, dass Atheisten gläubigen Menschen grundsätzlich intellektuell überlegen wären. "Man kann gleichzeitig religiös und ein guter Wissenschaftler sein", betont Jack und "beruft sich auf die Nobelpreisträger von 1901 bis 2000: 90 Prozent gehörten einer von 28 Religionen an. Nur zehn Prozent bezeichneten sich als Atheisten, Agnostiker oder Freidenker." 

Dafür, dass ein Mensch an Gott glaubt und ein anderer Atheist ist, kann es eine Vielzahl von Ursachen geben; mit Intelligenz hat das jedoch nicht notwendigerweise etwas zu tun. Dass einem ebendies dennoch vielfach suggeriert wird, und zwar vor allem von Seiten kämpferischer Atheisten selbst, hat - meiner persönlichen Beobachtung zufolge - mit einem funktionalistischen Religionsverständnis in Verbindung mit einer bestimmten Spielart von Fortschrittsdenken zu tun: Religion wird verstanden als veraltetes Welterklärungsmodell, das früher einmal nützlich und sinnvoll gewesen sein mag, durch den Fortschritt der Wissenschaften jedoch obsolet geworden sei; und wer dennoch daran festhalte, der sei eben geistig zurückgeblieben - insofern, als er nicht in der Lage sei, die Realität ohne die "Krücke" des Glaubens an Gott zu erfassen. Simpler ausgedrückt: Glauben wird fälschlich als eine unvollkommene Vorform des Wissens verstanden; wer genug wisse, der brauche nicht zu glauben

Nun könnte man meinen, eine Einstellung dem Glauben gegenüber, die auf einem fundamentalen Unverständnis dessen basiert, was Glauben eigentlich bedeutet, sei als Ausweis geistiger Überlegenheit eher untauglich. Ironischerweise ist sie aber gerade deshalb so populär, und das hat mit dem oben beschriebenen Dunning-Kruger-Effekt zu tun. Das Fehlurteil, oder sagen wir, die Behauptung, Atheismus sei prinzipiell ein Kennzeichen überlegener Intelligenz, macht den Atheismus besonders für dumme Menschen attraktiv. Zahllose Menschen, die in früheren Zeiten, als Atheismus gesellschaftlich geächtet oder sogar illegal war, brav jeden Sonntag zur Kirche gegangen wären - sei es aus Angst vor der Hölle oder vor dem Gerede ihrer Nachbarn -, gerieren sich heute als Atheisten, weil ihnen dies eine Möglichkeit eröffnet, sich Milliarden von Mitmenschen, die sich zu einer Religion bekennen, haushoch überlegen zu fühlen. 

Was dabei herauskommt, kann man beispielsweise anhand eines Beitrags der NDR-Satiresendung "Extra 3" beobachten - wobei, wie sollte es im Zeitalter der Sozialen Netzwerke auch anders sein, die Kommentare zum Video auf Facebook noch erheblich dümmer sind als das Video selbst. Kostproben gefällig? (Rechtschreibung und Zeichensetzung unverändert.) 
"Die Antwort ist so Simpel wie das Hirn des Menschen! Also am Anfang waren Götter die Erklärung für einfach alles! Mystisch, und dem Volke dienlich, den Herrschern! Christentum, es gibt nur einen Gott, tja wer sich das ausdachte, war sehr klug, die ihm folgten sehr dumm! Es entstand der größte Konzern auf Erden, der Kriege befahl und Sklaverei, der Ungläubige richtete, und Gläubige Buße tun ließ! Alles im Sinne der Macht und Reichtum anhäufenden Kirchenelite! Im Hightech Zeitalter hat Gott und Götter ausgedient, weil der Glaube alles moderne nur behindern würde und früher auch tat, wir erinnern uns, wir leben auf einer Scheibe!" 
"Ich sage einmal, in vielen Jahren haben diese Religionen keine Bedeutung mehr! Nur geistig einfältige Wesen brauchen Gott oder Götter! Es gibt Sie / ihn nicht! Wenn es Gott gäbe wäre es ein Kind, das nicht weiß was es da tut! Sage ich immer! Denn wenn es Götter gebe, hätte es Hittler und viele andere schlechte Menschen nie gegeben! Oder doch weil sie der Teufel sind?" 
"Wer will eigentlich Jungfrauen? Wozu? Die haben null Erfahrung im Bett und von eher durchschnittlichen Praktiken sind sie total entsetzt. Und wenn du richtig loslegen willst, dann machen sie spätestens zu und du musst abbrechen." 
"Wiedergeburt in eine besseren Welt, den sog. Himmel, wenn man der Kirche genug Geld spendet sowie die Hexenverbrennungen im Mittelalter, wenn eine Frau von einem Pfaffen schwanger wurde, habt ihr vergessen."  
Nun, seien wir ehrlich: Natürlich habe ich mit Absicht einige besonders dumme Äußerungen herausgesucht. Und natürlich sind es nicht ausschließlich Atheisten, die glauben, sie müssten die Welt via Social Media an dem teilhaben lassen, was so an "Gedanken" in den großen leeren Korridoren ihres Gehirns herumirrt, auch wenn sie nicht den blassesten Schimmer von dem haben, worüber sie reden. Und umgekehrt gibt es natürlich auch kluge Atheisten. Allerdings werden die, wenn sie wirklich klug sind, sich nicht einbilden, sie wären deshalb Atheisten, weil sie so verdammt klug sind

Richtig ist, dass religiöser Glaube auf Grundannahmen beruht, die weder beweisbar noch widerlegbar sind. Das betrifft jede Religion - aber es betrifft genauso auch jede nicht-religiöse Weltanschauung, wenngleich der durchschnittliche Atheist sich dessen weniger bewusst sein mag als der durchschnittliche Gläubige. Ein grundlegender Irrtum derjenigen Atheisten, die jede Form von Religiosität für dummes Zeug halten, besteht in der Auffassung, ihre eigene Grundannahme - "Es gibt keinen Gott" - sei vernunftgemäßer als jene Grundannahme, die sie ablehnen: "Es gibt einen Gott". Aus der falschen Voraussetzung, die Annahme, es gebe einen Gott, sei per se unvernünftig, folgt die Vorstellung, jegliche Folgerungen aus dieser Grundannahme - und somit sämtliche Glaubenslehren der verschiedenen Religionen - könnten ebenfalls nur Quatsch sein. Damit erübrigt ich jede Notwendigkeit, sich eingehender damit auseinanderzusetzen, was die verschiedenen Religionen denn nun tatsächlich lehren - und so kommen dann solche kruden Urteile zustande, wie ich sie weiter oben zitiert habe. Das Ironische daran ist unschwer einzusehen: Indem die Religionsverächter ihre eigenen verzerrten Vorstellungen von Religion(en) auf die Gläubigen selbst projizieren und sich darüber lustig machen, wie man so dumm sein könne, an so etwas zu glauben, machen sie sich - ohne es zu merken - tatsächlich über ihre eigene Dummheit lustig. 

Aber Ironie hin oder her: Frustrierend ist es doch, wenn man, sei es im Netz oder in der Kneipe, in Diskussionen mit Atheisten gerät, die glauben, sie seien von Natur aus klüger als gläubige Menschen. Und die aufgrund ebendieser Annahme völlig unempfänglich sind für Argumente - geschweige denn für Fakten, die ihre Vorurteile widerlegen. Denn aus ihrer Sicht ist man als gläubiger Mensch eben unheilbar dumm - dümmer als sie jedenfalls. Trösten kann man sich in solchen Fällen höchstens noch mit einem Spruch, der - aus Gründen, offenbar - immer mal wieder als Meme durch die Sozialen Netzwerke geistert: 
"Mit dummen Menschen zu streiten, ist wie mit einer Taube Schach zu spielen. Egal, wie gut du Schach spielst, die Taube wird alle Figuren umwerfen, auf das Brett kacken und herumstolzieren, als hätte sie gewonnen." 


Samstag, 2. April 2016

Wo geht's denn hier zum Christentum?

Am Ostermontag unternahm ich mit meiner Liebsten einen Ausflug zum Kloster Chorin, einer Zisterzienserabtei aus dem 13. Jahrhundert. Die Abtei war - als Filiale des rund 150 Kilometer entfernten, bereits 1180 gegründeten Klosters Lehnin - im Jahr 1258 gegründet worden, zunächst allerdings an einem anderen Standort, auf der damaligen Insel Pehlitzwerder im Parsteiner See. An den heutigen Standort verlegt wurde das Kloster im Jahr 1273; 1542 wurde es im Zuge der Reformation aufgehoben. Und wer ist schuld daran? Kurfürst Joachim II. von Brandenburg natürlich -  der, wie nicht wenige Landesfürsten seiner Zeit, von der Einführung der Reformation in seinem Land vor allem finanziell profitierte, indem er nämlich die Klöster enteignete und damit einen Teil seiner erheblichen Schulden deckte. Sein Vater und Vorgänger Joachim I. hatte seine Erben noch testamentarisch ermahnt, "die Mark Brandenburg für alle Zeiten dem katholischen Glauben zu erhalten". Tja. Seufz. Heute ist das Kloster Chorin nur noch eine Ruine, aber auch als solche noch durchaus imposant: 




Offenbar ebenfalls eine Folge der Reformation ist es, dass es im ehemaligen Kloster - genauer gesagt, im ehemaligen Brüdersaaal der Mönche - zwar eine evangelische Kapelle gibt, in der regelmäßig Gottesdienste stattfinden, das katholische Dekanat Eberswalde hingegen die Räumlichkeiten des Klosters nur gelegentlich nutzen kann und darf, zum Beispiel für seine Dekanatstage


Abgesehen von dieser kleinen Kapelle erinnert fast nur noch die Architektur des Gebäudekomplexes an seinen ehemaligen religiösen Charakter. Das ehemalige Refektorium wird derzeit zum Konzertsaal umgebaut, im ehemaligen Infirmarium wird eine Kunst-, oder sagen wir, Gemäldeausstellung ("Augenweiden" von Christina Pohl) gezeigt. Die Bilder waren zum Teil recht hübsch und dekorativ, aber ob man das nun gerade als Kunst bezeichnen würde - nun, das mag Geschmackssache sein. In einem ehemaligen Wirtschaftsgebäude, dem so genannten Brausaal, ist eine Reihe von Infotafeln zur Geschichte der Abtei und der Ortschaft Chorin zu sehen - unter der Überschrift "Ein Dorf im Schatten des Klosters". Als wäre das etwas Schlimmes, ja geradezu Bedrohliches. Okay, das Kloster wurde am Ort einer slawischen Siedlung errichtet, die, wie Ausgrabungsbefunde nahe legen, zu diesem Zweck niedergebrannt wurde. Was aus den Bewohnern wurde, weiß man nicht so genau. Schon ganz schön böse, diese Kirche - oder zumindest die askanischen Markgrafen, die auch sonst nicht gerade zimperlich mit der slawischen Landbevölkerung umgingen und sich zur Kolonisierung der Mark gern der fleißigen Zisterziensermönche bedienten. Wenn heutzutage ganze Dörfer niedergerissen und ihre Bewohner umgesiedelt werden, zum Beispiel weil sie dem Braunkohletagebau oder einem geplanten Stausee im Wege sind, dann hat das wenigstens nichts mit Religion zu tun. -- Und dann gab es noch einen Raum, in dem der Chorin Verein e.V. Hefte mit Vorträgen zur Lokalgeschichte feilbot - für 2 € das Stück. Ich war kurzzeitig versucht, eines der Heftchen zu erwerben: "Häretiker im Mittelalter (800-1550)" von Hans-Dieter Winkler - das Manuskript eines am 19.03.2011 im Verein gehaltenen Vortrags. Ich blätterte ein wenig darin. Der letzte Absatz hob hervor, dass die Katholische Kirche heute zwar keine Ketzer mehr verbrenne, immerhin aber kritischen Theologen wie Hans Küng, Eugen Drewermann oder Leonardo Boff die Lehrerlaubnis entziehe. Was, wie man daraus wohl schließen soll, ja annähernd genauso schlimm ist wie Verbranntwerden bei lebendigem Leibe.

Wie wir schon auf dem Weg zur Abtei festgestellt hatten, fand übrigens ganz in der Nähe ein Mittelaltermarkt statt - und einige der in martialische pseudo-mittelalterliche Gewänder gekleideten Gestalten, zum Teil auch mit entsprechender Bewaffnung, hatten sich auch auf das Klostergelände und sogar in die Ruine selbst verirrt. "Die Heiden fallen in das Kloster ein", raunte ich meiner Liebsten zu, doch die wandte ein: "Wieso überhaupt Heiden? Inwiefern sollte denn das Mittelalter heidnisch gewesen sein?" -- "Na jaaa", erwiderte ich gedehnt, "die ganze Christianisierung war doch nur oberflächlich. Jedenfalls wenn man dieser Sorte von Mittelalterfreaks glaubt. Die einfache Landbevölkerung blieb natürlich insgeheim heidnisch, ist ja auch klar, woher wären denn sonst die Millionen von Hexen gekommen, die die Kirche verbrannt hat." -- Da mir bewusst ist, dass Ironie, besonders in schriftlicher Form, oft schwer als solche zu erkennen ist, füge ich sicherheitshalber hinzu: Ich weiß sehr wohl, dass in Europa keine "Millionen von Hexen" verbrannt wurden, schon gar nicht von "der Kirche" und schon gar nicht im Mittelalter. Aber versuch das mal einem eingefleischten Fan des modernen Phantasie-Mittelalters beizubringen. Na, mehr zu diesem Thema später. Zunächst möchte ich noch erwähnen, dass in direkter Konkurrenz zum Mittelaltermarkt auch auf dem Klostergelände ein Markt stattfand. Ein Ostermarkt nämlich. "GärtnerInnen verkaufen Frühblüher, Kunsthandwerker ihre Kreationen und regionale GastronomInnen und HändlerInnen regionale (Bio-)Produkte", verriet die Broschüre "Ostertage im Kloster Chorin". "In den Mittagsstunden begleiten MusikerInnen das Marktgeschehen. Für den kulinarischen Genuss gibt es u.a. Klosterbrot, Bio-Crêpes, Flammkuchen, Räucherfisch und Schweizer Käsespezialitäten." Na wie fein. Angesichts des gnadenlosen Öko-plus-Gender-Sprechs der Broschüre dürfte es keine große Überraschung darstellen, dass auf diesem  Markt allerlei Esoterik-Klumpatsch feilgeboten wurde, vom Heilkräutertee über Halbedelsteine bis hin zum Traumfänger. Auch abgesehen von diesem Markt bot das Programm der "Ostertage im Kloster Chorin" nichts, absolut überhaupt gar nichts, was einen Bezug  zum christlichen Osterfest hergestellt hätte. Stattdessen gab's am Karfreitag eine "Kräuterwanderung" und am Ostermontag einen Flechtworkshop ("Kinder und Erwachsene können nach einer Einführung der Designerin und Dozentin Andrea Tuve selbst ein Osternest, einen Ostervogel oder ein anderes Unikat erschaffen"). Oh, ich sehe gerade, am Ostersonntag gab es ein Blechbläserkonzert mit geistlicher Barockmusik, sogar unter dem Motto "Glanz und Glaube". So viel Kulturchristentum ist also doch gerade noch vertretbar. Aber meine Liebste und ich waren ja wie gesagt am Ostermontag da, hatten das Konzert also bereits verpasst und wussten nichts davon, und somit dachte ich, noch viel heidnischer könne es nun auf dem Mittelaltermarkt auch nicht mehr werden. Tja, hatte ich eine Ahnung.

"Handgezimmertes Mittelalterdorf", hieß es in der Ankündigung
Irgendwie neugierig war ich ja schon, auch wenn das vermutlich mehr mit "Faszination des Grauens" zu tun hatte als mit irgendetwas Anderem. Präzise ausgedrückt handelte es sich bei diesem Markt um das "27. Oster-Kloster-Fest Chorin", veranstaltet von der Gruppe SPILWUT, die sich rühmt, "die Ost-Mittelalterszene begründet" und "die deutsche Sackpfeife neu erfunden" zu haben. Gemessen daran, dass man (wie ich zu Recht vermutete) für alles, was man auf dem Marktgelände so machen konnte, noch mal extra bezahlen musste, fand ich den Eintrittspreis etwas happig: 

Mic dûht, ez ist betruoc. 

Zu kaufen gab es allerlei - Gewänder natürlich, Schmuck und auch Waffen (allerdings stumpfe); und auch jede Menge Speis und Trank. Ich hatte mich schon auf Buchweizengrütze und eine Ratte am Spieß gefreut, aber tatsächlich wimmelte das Speisenangebot von Anachronismen (Kartoffelecken zum Beispiel. Finde den Fehler.) Zudem konnte man sich im Bogenschießen oder Axtwerfen üben. Gratis gab es pseudo-mittelalterliche Live-Musik (Sackpfeife in Endlosschleife).  



Und wir erlebten gerade noch den Schluss der interaktiven Aufführung "Der Drachenritt und der Kampf um das Ei" mit. Der Drache spuckte zwar kein Feuer, aber immerhin Dampf. Die Kinder waren begeistert. (Man beachte auch, im zweiten Bild, die weiß gewandete Frau mit dem Kopfputz aus Widderhörnern.Weiteres dazu später.) 



Anschließend stand laut Flyer "Winteraustreiben mit Drachen und Osterfeuer - ein Mysterienspiel" auf dem Programm. Unter einem Mysterienspiel würde ich mir zwar etwas Anderes vorstellen, aber hey, man kann ja von den Veranstaltern eines Mittelaltermarktes nicht erwarten, dass sie erst mal Mediävistik studieren. Jedenfalls: Winteraustreiben! Osterfeuer! Heidnisches Brauchtum! -- Zwecklos, darauf hinzuweisen, dass das Osterfeuer fester Bestandteil der katholischen Osternacht-Liturgie ist und als weltlicher Brauch erstmals anno 1559 belegt ist, wo das Mittelalter ja wohl schon so ziemlich vorbei war. Nein, was ein echter Mittelalterfreak ist, der liebäugelt mehr oder weniger ernsthaft mit dem Neopaganismus und ist daher überzeugt, dass Ostern ursprünglich ein heidnisches Jahreszeitenfest war. Und im Brauchtum sollen diese heidnischen Wurzeln noch immer auffindbar sein. Dass das aus der Perspektive seriöser historischer und volkskundlicher Forschung hanebüchener Blödsinn ist, braucht ja die Gruppe SPILWUT nicht zu kümmern -- die auf ihrer Website in der Rubrik "Philosophie" (sic!) schreibt: 
"Das Christentum kam in unsre germanischen Urwälder mit den Römern, die es aus dem Orient eingeschleppt hatten[,] und es setzte sich zuerst in den römischen/romanischen Städten [durch]. Karl beschleunigte die Mission mit Mord und Totschlag flächendeckend auch im platten Land. Zentralistisches Reich braucht zentralistische Religion. Oberflächlich hatte er Erfolg[,] doch blieb dem biedern deutschen oder wendischen Landmann - auch der Landfrau (!) und den Welschen – die religiöse Monokultur des alten Männergeheimbundes viel zu abstrakt." 
Ja, klar. Am Rande des Drachenei-Spiels habe ich auch einen Darsteller gesehen, der so etwas Ähnliches wie eine Mönchskutte trug. Das war dann wohl der Bösewicht des Spiels. -- Früher am Tag, um 13 Uhr, hatte es laut Programmzettel eine Aufführung mit dem Titel "Die Passion des Propheten [!] Jesus" gegeben. "Kranke, Blinde und Hinkende können hier den Heiland auf die Probe stellen und alle anderen sich bestens unterhalten!" Bin ganz froh, dass wir das verpasst haben. Am Ostersonntag lief auf Phoenix zur Prime Time "Strafsache Jesus - Der Faktencheck mit Petra Gerster", und anschließend "Jesus und die verschwundenen Frauen - Vergessene Säulen des Christentums". Habe ich mir natürlich auch nicht angesehen. Dieser Drang, alljährlich ausgerechnet das höchste Fest der Christenheit zum Anlass zu nehmen, den christlichen Glauben dekonstruieren zu wollen, nervt einfach nur. 



Ein Thema für sich wäre die starke Präsenz von Figuren mit Bocksschädeln und -hörnern auf diesem Mittelaltermarkt; an prominenter Stelle war eine solche Satyrgestalt ausgestellt, die zudem noch mit einem auffälligen erigierten Glied ausgestattet war. Konsultieren wir nochmals die "Philosophie"-Abteilung der SPILWUT-Website, um uns über die Phantasien der Veranstalter vom ach so geilen Heidentum zu orientieren: 
"So waren es sicher Freudenfeste und in der Hoffnung synergetischer Effekte vollzogene Riten[,] die das Ende des Winters begleiteten. Das wurde nicht allein den Schamanen überlassen, sondern es vögelten die Bauern auf dem von der Märzsonne erwärmten Acker[,] um ihn mit ihrem Beispiel zu Fruchtbarkeit anzuregen. In einigen Gegenden hat dies wohl auch nach der Christianisierung noch vereinzelt oder gemeinschaftlich stattgefunden. Niedergeschlagen hat sich dies z.B. in den Geschichten von der Walpurgisnacht – Zaubertränke köchelnde Weiber, Nackte tanzen durchs Feuer, kopulierende Leiber allenthalben; schrecklich bemalte Gestalten mit gehörnten Masken [...].
Im Ernst: Es handelt sich um handfesten und sinnlich empfundenen Synergiezauber.
Da mögen auch mal Drogen im Spiel gewesen sein – das Kopfgehirn ein wenig zu besänftigen, die Geister aus dem Bauch sprechen zu lassen.
Die große 'Begeisterung' erreicht uns allerdings ohnedies mit dem Wiedererwachen der Natur. (im Freien befreit freien…)
[...] Man freute sich an allem was das deutlich sichtbar werden lässt und sinnbildlich verkörpert: Hasen - schnelle Ficker und Werferinnen, Katzen lautstark und enthusiastisch Liebende, die Vögel - fleißig brütend, die Kröten auch in früher Zeit, denn auch sie sehr fruchtbare Mondtiere und natürlich – der Bock!
Da hätten wir sodann auch gleich die Hörner, obwohl die auch manch anderm männlich' Tier gut stehen. Stellt euch die Freude vor: Nach Monaten im dunklen engen Stall, nur kümmerlich genährt von Abfall, Heu und Stroh, zieht Hirt und Herde 'raus zu frischem saft'gen Grün - geführt von Pan dem Ziegengott mit seiner Syrinx. [...]
Der wurde dann bekanntlich den Christen zum Bild des Teufels.
Naja, is' schon geil so'n Ziegenbock!" 

Keine weiteren Fragen, Euer Ehren. Außer vielleicht eine: Sollte man zu solchen Veranstaltungen wirklich Kinder mitnehmen

Schön wäre es ja, wenn sich angesichts der enormen Beliebtheit von Mittelaltermärkten mal jemand die Mühe machte, einen solchen Markt zu gestalten, der ein adäquateres Bild des mittelalterlichen Christentums abgäbe. Mit gregorianischen Gesängen, heilkundigen Nonnen und prächtigen Prozessionen. Vielleicht mit einer schön imposanten Klosterruine als Kulisse... ach nein. 


Donnerstag, 31. März 2016

Das Bistum Münster und das Lehramt der Theologen

Als Gotthold Ephraim Lessing anno 1767-69 in zweimal wöchentlich erscheinenden Fortsetzungen seine Hamburgische Dramaturgie publizierte, warfen ihm einige Leser vor, er ziehe darin in ungebührlicher Weise über seinen Kollegen Voltaire her. Lessings klassische Antwort darauf findet sich im 70. Stück der Dramaturgie, erschienen am Neujahrstag 1768: 
"Ein kritischer Schriftsteller, dünkt mich, richtet seine Methode auch am besten nach diesem Sprüchelchen ein. Er suche sich nur erst jemanden, mit dem er streiten kann: so kömmt er nach und nach in die Materie, und das übrige findet sich. Hierzu habe ich mir in diesem Werke, ich bekenne es aufrichtig, nun einmal die französischen Skribenten vornehmlich erwählet, und unter diesen besonders den Hrn. von Voltaire." 
Nun will ich mich wahrhaftig nicht mit Lessing auf eine Stufe stellen; aber gleichwohl wird es regelmäßigen Lesern meines Blogs schon aufgefallen sein, dass ich mir zum Zwecke der Auseinandersetzung mit der Social-Media-Arbeit kirchlicher Dienststellen vorzugsweise die Facebook-Präsenz des Bistums Münster als Gegner "erwählet" habe. Nur pars pro toto, versteht sich. Es hätte genausogut Osnabrück oder Rottenburg-Stuttgart sein können. Zum Beispiel. Wenn man aber erst einmal damit angefangen hat, sich auf eine spezielle Social-Media-Redaktion einzuschießen, dann geht einem der Stoff nicht so leicht aus

Unlängst allerdings ergab sich ein Anlass, der mich grübeln ließ, ob ich den Kollegen aus Münster nicht womöglich doch ein wenig Abbitte leisten müsse. Nämlich, weil mich plötzlich der Eindruck beschlich, die Neigung der Münsteraner FB-RedakteurInnen, im Zweifel lieber unverbindliche Wohlfühlbotschaften mit Blümchenbildern zu posten als etwelche Beiträge zur Neuevangelisierung im Geiste der katholischen Lehre, könne noch ganz andere Ursachen haben als ich bislang vermutet hatte. 

"Wenn wir Menschen über Fakten reden, ist häufig kein Platz für Gefühle. Der Hauptantrieb Gottes für Ostern war aber ein Gefühl: Liebe.
Denn so sehr hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eigenen Sohn gab.
Weil Gott die Menschen liebt – weil Gott Dich liebt -, wurde Jesus stellvertretend für uns – für Dich – gekreuzigt.
Aber wäre das denn nicht auch anders gegangen, fragst Du jetzt vielleicht.
Musste er denn gleich sterben? Nein, es wäre nicht anders gegangen.
Der Himmel ist ein Ort ohne Sünde. Da wir aber tagein, tagaus Dinge falsch machen, also sündigen, können wir unter normalen Umständen nicht in den Himmel kommen. Irgendeiner musste also büßen für unsere Sünden. Entweder jeder einzelne Sünder selbst. Oder ein Stellvertreter, der so mächtig ist, dass er für alle Sünden der Welt eintreten kann. Und jetzt kommt Jesus ins Spiel, Gottes Sohn. Das war seine Aufgabe.
Weil er, weil Gott die Welt und Dich so sehr liebt." 
Nun ist es (natürlich) nicht so, dass ich daran überhaupt nichts auszusetzen gehabt hätte; beispielsweise würde ich einwenden, dass Liebe, anders als es uns etwa Sat 1 oder RTL einreden möchten, mehr ist als ein bloßes Gefühl. Und die Grafik, mit der die Redaktion ihren Morgenimpuls illustrierte, fand ich sooo gelungen nun auch nicht. Aber dass auf dieser Seite tatsächlich mal - wenn auch naturgemäß in recht vereinfachter Form - das stellvertretende Sühneopfer Jesu Christi angesprochen und erläutert wurde, fand ich denn doch ausgesprochen beachtlich. 

Kritik an diesem Beitrag ließ nicht auf sich warten. "Jetzt kommen wir also alle in den Himmel?", motzte ein FB-Nutzer namens Michael Hölscher. "Was ist mit der persönlichen Freiheit eines jeden Menschen, trotzdem sündigen zu können?" Nanu, dachte ich, was ist denn da los? Vom ersten Eindruck her hätte es sich um einen Dunkelkatholen handeln können, der in dem Beitrag die Irrlehre der Apokatastasis (Allerlösung) witterte; nur dass in dem Text aus Münster überhaupt keine Rede davon war, dass dank des Opfertods Christi nun alle in den Himmel kommen - sondern lediglich, dass ihnen die Möglichkeit dazu eröffnet worden ist. Darauf wies ich Herrn Hölscher auch in einer Antwort auf seinen Kommentar hin, aber damit war die Sache noch nicht ausgestanden. "War das wirklich ein offizieller Beitrag des Bistums?", wunderte sich ein Nutzer namens Dieter Bauer; und Hölscher sekundierte: "Das habe ich mich auch sehr ernsthaft gefragt!" Nun konnte ich mich nicht enthalten, anzumerken: "Da gibt's hier aber ganz andere Beiträge, bei denen ICH mich das frage..." Michael Hölscher jedoch legte nach: "Hallo, Bistum Münster? Bitte klärt uns auf, was es mit diesem Text auf sich hat!" Was mich aber endgültig aus den Socken haute, war die Antwort der Redaktion auf diese aggressive Ansprache:
"Lieber Herr Hölscher,
Vielen Dank für Ihren Kommentar. Wenn Sie Ihre Anmerkungen etwas konkretisieren könnten, dann würde ich das diese Woche in der Redaktionskonferenz zur Diskussion stellen und an das Impuls-Team weitergeben. Bis dahin wünsche ich Ihnen noch gesegnete Ostern und einen friedvollen Tag." 
Unfassbar! Bislang hatte ich den Eindruck gehabt, die FB-Redaktion des Bistums Münster kenne hinsichtlich des Umgangs mit Kritik an ihren Beiträgen ausschließlich die Methoden "Ignorieren", "Bocken" ("Wir finden das aber richtig, was wir machen, und vielen unserer Leser gefällt es") und "Lächerlichmachen des Kritikers"; und nun soll sogar die Redaktionskonferenz darüber beraten, ob es tunlich sei, auf der Facebook-Seite eines katholischen Bistums Glaubenslehren der Katholischen Kirche zu vertreten? Dieses Einknicken dem "lieben Herrn Hölscher" gegenüber konnte ich mir nur damit erklären, von wem die Kritik ausging; also schaute ich mir die Herren Hölscher und Bauer mal ein wenig genauer an. Und richtig: Michael Hölscher ist Dozent für Neues Testament an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz; und Dieter Bauer arbeitet beim Katholischen Bibelwerk als Bildungsreferent und Redakteur biblischer Zeitschriften und zeichnet u.a. für die Bibel in Leichter Sprache verantwortlich

Was diese beiden Herren Diplomtheologen nun daran zu bemängeln hatten, dass die Bischöflich Münsteraner FB-Redaktion sich ausnahmsweise mal in theologische Gefilde wagte, liegt einigermaßen auf der Hand: Die - wie gesagt, recht "niederschwellig" formulierten - Aussagen zum stellvertretenden Sühnetod Christi entsprächen nicht dem Stand der theologischen Wissenschaft. Dass sie hingegen sehr wohl der Lehre der Katholischen Kirche entspricht, wie sie etwa im Katechismus (unter Nr. 601-605) niedergelegt ist, fällt demgegenüber offenbar nicht groß ins Gewicht; so mahnte Michael Hölscher - der Aufforderung Folge leistend, seine Kritik zu konkretisieren - "eine (fundamentaltheologische?) Auseinandersetzung mit der Satisfaktionslehre" an. 

Es liegt wohl einigermaßen nahe, diese Auseinandersetzung im Kontext der "neuerliche[n] Debatte um das Verhältnis der akademischen Theologie zum Lehramt von Papst und Bischöfen" zu sehen, die durch die Schlusserklärung des Internationalen Kongresses "Das Konzil 'eröffnen'" vom 8. Dezember 2015 ausgelöst worden ist. Der Regensburger Bischof Rudolf Voderholzer antwortete exakt einen Monat später in einer Instructio an die Priesteramtskandidaten der Bistümer Regensburg und Passau auf diese Erklärung, und abermals einen knappen Monat darauf schaltete sich auch der Passauer Bischof Stefan Oster in die Debatte ein - via Facebook. Ich mag den Verlauf der Debatte hier nicht im Einzelnen nachzeichnen; wer Lust und ausreichend Sitzfleisch hat, kann ja den Links folgen und sich selbst ein Bild machen. Ganz ganz knapp zusammengefasst könnte man sagen, die Bischöfe von Regensburg und Passau werfen insbesondere "liberalen" Theologen vor, sie versuchten ein akademisches Gegen-Lehramt zum von apostolischer Autorität getragenen Lehramt von Papst und Bischöfen zu etablieren. Einen Absatz aus der Instructio von Bischof Voderholzer möchte ich hier jedenfalls zitieren: 
"In der 'Schlusserklärung' wird [...] das Thema 'Religionsfreiheit' innerkirchlich gewendet zur Forderung der Anerkennung der Freiheit der Theologie als wissenschaftlicher Reflexionsform. Man fragt sich, wo diese Freiheit denn im Ernst in einem bedrohlichen Maße begrenzt ist! Wo ist denn in den letzten Jahren das kirchliche Lehramt eingeschritten? Bei alldem fehlt vor allem die Anerkennung des Rechtes des bischöflichen Lehramts, qua apostolischer Autorität doch darüber wachen zu dürfen und zu müssen, ob eine bestimmte theologische Lehre noch mit der Lehre der Schrift und der Tradition übereinstimmt. Die Freiheit der theologischen Lehre ist begrenzt durch die Vorgaben, die jedem Theologie-Treiben gegeben sind; an die sich der Theologe und die Theologin, aber eben auch der Bischof treu halten müssen." 
Wie eine Antwort auf Bischof Voderholzers rhetorische Frage, wo denn die "Freiheit der Theologie [...] im Ernst in einem bedrohlichen Maße begrenzt" sei, mutet ein Artikel des "Kölner Stadtanzeigers" vom 22. März an, der aus dem Wächteramt der Bischöfe über die Einhaltung der kirchlichen Lehre einen Skandal zu stricken versucht: "Treueeid verlangt - Erzbistum Köln verschärft Gangart gegenüber Theologen", liest man da. Was ist da passiert? "Erstmals seit Jahrzehnten verlangt Generalvikar Dominik Meiering einen schriftlichen Nachweis über die Ableistung eines speziellen Glaubensbekenntnisses, der 'Professio fidei'. Neue Professoren sollten zusätzlich zu einem 'Treueid' verpflichtet werden", weiß der Kölner Stadtanzeiger zu berichten. "Nicht nur im Erzbistum wird nach dem harten Vorgehen Meierings die Frage laut, wie dieser Kurs zu dem Ruf der Liberalität und Offenheit passe, den sich Kardinal Woelki erworben hat." Schockschwerenot! Hochschullehrer, so heißt es weiter, sähen "ihre wissenschaftliche Freiheit eingeschränkt, wenn sie schwören müssen, dass sie 'alle Lehren meiden werden, die dem Glaubensgut widersprechen' oder 'in christlichem Gehorsam' dem 'Folge leisten werden, was die Bischöfe als authentische Künder und Lehrer des Glaubens vortragen oder als Leiter der Kirche festsetzen'." Weil, schließlich, das fehlte gerade noch! 

Mal im Ernst gesprochen: Natürlich befindet sich die akademische Theologie in einem Dilemma, wenn sie einerseits eine wissenschaftliche Disziplin unter anderen wissenschaftlichen Disziplinen sein will und andererseits im Dienst der Kirche stehen soll. Denn der Wissenschaftsbetrieb verlangt es, ständig "neue Erkenntnisse" zu produzieren - oder zumindest neue Theorien, und die haben es nun einmal an sich, dass sie nur dann "neu" sind, wenn sie bisherigen Lehrmeinungen zumindest tendenziell widersprechen. Die Kirche jedoch geht von ewigen Wahrheiten aus, woraus folgt, das alles, was die Kirche einmal verbindlich als wahr anerkannt hat, ein für alle Mal als wahr zu gelten hat. Insofern gibt es da tatsächlich eine gewisse Einschränkung der Forschungsfreiheit, aber diese resultiert nicht aus bösem Willen, Engstirnigkeit oder "Machtbesessenheit" (oder was man der Kirche sonst noch so alles vorwirft), sondern aus der Verantwortung gegenüber dem depositum fidei

Gleichzeitig fragt Bischof Voderholzer im oben zitierten Absatz aber zweifellos zu Recht: "Wo ist denn in den letzten Jahren das kirchliche Lehramt eingeschritten?" Ich möchte behaupten, alle diejenigen katholischen Theologen, die in den letzten drei, vier Jahrzehnten von deutschen Bischöfen wegen Verstößen gegen die kirchliche Lehre gemaßregelt wurden, sind jedem halbwegs interessierten Beobachter namentlich bekannt und lassen sich an einer Hand abzählen. Oder sagen wir es andersherum: Würden die Hüter des kirchlichen Lehramts tatsächlich mit aller ihnen theoretisch zu Gebote stehenden Strenge und Konsequenz gegen "Dissidenten" an den theologischen Fakultäten vorgehen, woher kämen denn dann die Leute, die solche Manifeste wie die oben angesprochene "Schlusserklärung" oder gar das Memorandum "Kirche 2011: Ein notwendiger Aufbruch" verzapft haben? Tatsächlich sitzen die nämlich an ihren jeweiligen Lehrstühlen oder Assistentenstellen vielfach ziemlich fest im Sattel - was nun wiederum die Frage aufwirft, ob die "Freiheit der Theologie" nicht in Wirklichkeit von ganz anderer Seite bedroht wird, als das ewige Genöle über die ach so autoritäre Kirche es vermuten lässt. Nicht umsonst wirft Bischof Oster in seinem erwähnten Facebook-Beitrag die Frage auf, ob denn auch konservativere, sprich: lehramtstreuere Theologen - derer man unter den Unterzeichnern der "Schlusserklärung" nämlich keine findet -, ob also auch "diejenigen aus dem 'anderen Lager' [...] zum erwünschten 'Lehramt der Theologie' gehören würden – oder ob 'Lehramt der Theologie' nur das sein dürfte, was in der Erklärung von den Unterzeichnern als Stoßrichtung formuliert worden ist". Man könnte hier noch weit schärfer fragen: Birgt nicht die Dominanz "liberaler" Theologen an den Universitäten die Gefahr, dass dem theologischen Nachwuchs eventuell noch vorhandene Neigungen zur Lehramtstreue konsequent ausgetrieben werden - oder dass, wenn das Austreiben nicht gelingt, zumindest dafür Sorge getragen wird, dass die "Konservativen" es im akademischen Betrieb nicht allzu weit bringen? Denn, machen wir uns nichts vor: Was "autoritäre Strukturen" angeht, kann der Wissenschaftsbetrieb es mit der Kirche noch allemal aufnehmen. 

Was das alles mit dem wütenden Widerspruch der Diplomtheologen Hölscher und Bauer gegen einen Beitrag auf der Facebook-Seite des Bistums Münster zu tun hat, wird vielleicht deutlich, wenn man Michael Hölschers (von seinem Kollegen Bauer kräftig be-applaudierte) Forderung nach einer fundamentaltheologischen Auseinandersetzung mit der Satisfaktionslehre mit einer Passage aus der besagten "Schlusserklärung" abgleicht, in der "eine[] grundlegende[] Neubestimmung von Dogmatik und Fundamentaltheologie" gefordert wird - was, auf Hochdeutsch gesagt, auf eine Aushebelung des Dogmas hinausliefe. Denn Dogmen, das haben wir ja bereits festgestellt, stehen ja doch nur der Freiheit der Wissenschaft im Weg. Vergessen wir in diesem Zusammenhang nicht, dass der Wissenschaftsbetrieb nicht zuletzt auch ein Jahrmarkt der Eitelkeiten ist; da kommt es dann schon mal vor, dass die Herren von der theologischen Zunft sich für klüger halten als die gesamte kirchliche Hierarchie nicht nur der Gegenwart, sondern auch der gesamten Kirchengeschichte. Und dann kommen einem irgendwelche Social-Media-Praktikanten mit Sühneopfertheologie. So ein alter Hut. Dabei haben doch schon Wolfgang Huber, Nikolaus Schneider, Eugen Biser und nicht zuletzt Burkhard Müller, ach, geh mir doch weg. Nein, so geht das nicht, da muss eine Redaktionskonferenz einberufen werden! 

Kurz, und um zum Ausgangspunkt meiner Bemerkungen zurückzukehren: So ein bisschen kann ich die Bischöflich Münsteraner FB-Redaktion ja schon verstehen, wenn sie unter solchen Umständen meist lieber auf Gefälliges und Unverfängliches setzt. Nicht jeder eignet sich zum Märtyrer... 



Sonntag, 27. März 2016

Betonkirchen-Triduum

Einen Job zu haben, in dem man auch an Sonn- und Feiertagen arbeiten muss, bringt, wenn man bekennender Dunkelkathole ist, durchaus gewisse Komplikationen mit sich, und in der Heiligen Woche zwischen Palmsonntag und Ostern wirkt sich das naturgemäß besonders stark aus. Aber in der Großstadt-Diaspora Berlins ist das in den allermeisten Fällen ein lösbares Problem. Zumindest, wenn man ein bisschen Mühe darauf verwendet, Gottesdienstzeiten an verschiedenen Standorten sowie die entsprechenden Verkehrsverbindungen und Fahrzeiten zu recherchieren - und wenn man in ästhetischer Hinsicht etwas kompromissbereit ist. 

Nachdem ich am Palmsonntag in der 8-Uhr-Frühmesse in der Unterkirche von St. Hedwig ("Die 8-Uhr-Frühmesse ist gewissermaßen das zerbrochene Fenster der Hedwigskathedrale", merkte meine Liebste an, die mich dankenswerterweise trotzdem dorthin begleitete) und am Dienstag, an dem ich vormittags frei hatte, am selben Ort (allerdings in der Oberkirche) in der tatsächlich sehr schönen und feierlichen Missa Chrismatis gewesen war, standen mir für die Missa in Coena Domini am Gründonnerstag nur solche Kirchen zur Auswahl, in denen diese Messe erst um 20 Uhr gefeiert wurde und die von meinem Arbeitsplatz aus einigermaßen schnell und unkompliziert erreichbar waren. Meine Wahl fiel auf St. Ansgar im Hansaviertel, eine Kirche, die ich bislang nur von außen kannte. - St. Ansgar, erbaut 1957, ist eine der ersten Betonkirchen Deutschlands und galt seinerzeit als vorbildlich für den "modernen Sakralbau". Heute ist sie - wie viele Betonkirchen der "ersten Generation" - baufällig. Nach noch nicht 60 Jahren, wohlgemerkt. Als Erklärung für diesen Umstand hört man zuweilen, die Architekten hätten das ihnen nicht vertraute Baumaterial nicht richtig einschätzen können. Well. Ich verstehe wenig von Architektur und buchstäblich nichts von Baustatik, aber rein symbolisch betrachtet empfinde ich den Zustand dieser frühen Betonkirchen als irgendwie bezeichnend für den Gesamtzustand der Katholischen Kirche in Deutschland - und dessen Ursachen. Da wollte man den kostbaren alten Wein partout in neue Schläuche füllen, und im Nachhinein zeigt sich, dass das Material dieser Schläuche schlicht ungeeignet ist. 

St. Ansgar gefiel mir von innen allerdings gar nicht so schlecht: 

St. Ansgar im Hansaviertel: Der Innenraum ist schlicht, aber geschmackvoll gestaltet. Als Fasten-Hungertuch eine Foto-Reproduktion des Turiner Grabtuchs zu verwenden, finde ich ausgesprochen gut. 

Durchaus reizvoll gestalteter Kreuzweg in St. Ansgar. 
Die Kirche war, wenn auch nicht direkt proppevoll, doch sehr gut besucht, und zwar von Menschen aller Altersstufen und verschiedenster Herkunft. Das gefiel mir. Und die Zelebration der Gründonnerstags-Liturgie war erheblich würdiger, feierlicher und korrekter, als ich es erwartet hätte.  Eine Fußwaschung gab es nicht; damit konnte ich persönlich ziemlich gut leben. Ein paar Abzüge in der B-Note gab's aber dennoch. So zum Beispiel, dass die Orgel auch nach dem Gloria weiterhin die Gemeindegesänge begleitete. Und zur Kommunion sang der Chor - der insgesamt durchaus gut war - ein recht "neugeistlich" anmutendes Lied, von dessen Text ich zwar nur Bruchstücke verstand, aber diese Bruchstücke genügten schon, um meine Häresie-Sensoren in Alarmbereitschaft zu versetzen. Meine Liebste merkte das sofort und warf mir einen verschmitzten Blick zu. -- Im Nachhinein konnte ich mit Hilfe der wenigen Textpassagen, die bei mir hängen geblieben waren, sowie mit Unterstützung von Onkel Google ermitteln, um was für ein Lied es sich handelte: Es hieß "Tischgebet" und stammte aus der Feder von none other than Huub Oosterhuis. Na klasse.
"Der nach menschlicher Sitte mit einem eigenen Namen genannt wurde, als er in einer fernen Vergangenheit geboren wurde weit von hier: den die Seinen nannten Jesus, Sohn des Josef, Sohn des David, Sohn des Jesse, Sohn des Juda, Sohn des Jakob, Sohn des Abraham, Sohn des Adam, Sohn des Menschen, der auch Sohn von Gott genannt wird, Heiland, Vision des Friedens, Licht der Welt, Weg zum Leben.

Von Jahrhundert zu Jahrhundert wurde er uns überliefert in Sprache und Zeichen, stets geliebt, oft unverstanden. Ein Geheimnis wird er bleiben, eine eigenartige Geschichte, so wie ich ihn kennenlernte – heute nenne ich ihn Bruder.
[...] 

Der so starb für seine Freunde, liegt im Acker wie ein Samen. Und er wartet einen Winter in der Stille seines Todes. Er ist Korn und wird geerntet. Er ist Brot und will verteilt sein, will zum Frieden Gottes werden."
Man weiß nicht recht, was man davon halten soll. Um den Text definitiv als häretisch zu bezeichnen, ist er letztlich einfach zu schwammig - wie so oft bei Oosterhuis. Es bleibt die Frage: Tut das not? Ausgerechnet zur Kommunion am Gründonnerstag?

Nach der Übertragung des Allerheiligsten vom Tabernakel auf einen Seitenaltar wurde der Schmuck im Altarraum nicht einfach nur abgeräumt, sondern der Zelebrant verwüstete den Altarraum geradezu - indem er z.B. die Altardecke zerknüllt liegen ließ und einige der sechs schweren Leuchter zwar nicht umwarf, aber so zu sagen "umlegte". Die symbolische Aussage - wenn der Herr nicht im Tabernakel ist, ist der ganze Altarschmuck nur wertloser Plunder - fand ich durchaus überzeugend; ein bisschen lustig anzuschauen war es derweil, dass die jungen Ministrantinnen sich nicht so recht trauten, sich die Nonchalance, mit der der Pfarrer etwa die Sitzkissen zu Boden fegte, zu eigen zu machen, sondern sich weiterhin recht ehrfürchtig benahmen. 

Soweit also der Gründonnerstag. Ein Besuch der Feier vom Leiden und Sterben Christi am Karfreitag um 15 Uhr ließ sich in diesem Jahr beim besten Willen nicht einrichten. Von der Arbeit frei nehmen? Keine Chance, zwei Kollegen waren im Urlaub und einer krank. Immerhin fand ich heraus, dass es in einer Kirche, die nicht allzu weit von meinem Arbeitsplatz entfernt lag, vor Beginn meiner Arbeitszeit eine Kreuzweg-Andacht gab. Na gut, dachte ich, dann gehe ich da hin - besser als nichts. Diese Einschätzung erwies sich allerdings als falsch... Nun ja, immerhin begleitete mich meine Liebste auch dorthin - in die Kirche St. Judas Thaddäus in Tempelhof. Ebenfalls eine frühe Betonkirche - erbaut 1958/59 -, und ebenfalls baufällig. 

Aus gebührender Entfernung betrachtet, hat die Architektur von St. Judas Thaddäus in Tempelhof durchaus ihren Reiz, irgendwie. 
Aus der Nähe registriert man auch hier die Baufälligkeit. 
Direkt gegenüber dieser Kirche befand sich übrigens ein Lokal namens "Biertempel". Aber ich musste ja noch zur Arbeit. 

Jüngstes Gericht an der Altarwand, rechts eine irritierend stämmige und muskulöse Madonna. Und Sichtbeton bis zum Abwinken! 
Die Kreuzwegandacht war eher schwach besucht, aber das überraschte mich nicht besonders. Eine schmächtige grauhaarige Dame verteilte Heftchen mit den Meditationstexten zum Kreuzweg. Der Einzug wurde angeführt von einem bärtigen, fast schon ein bisschen zu klischeehaft nach '68er-Altlinkem aussehenden Diakon mit einer donnernden Stimme, und ich dachte: wenn der die Meditationstexte vorträgt, mit dieser Stimme, dann wird's anstrengend. Tatsächlich trug aber gar nicht er die Texte vor, sondern die Dame, die die Heftchen ausgeteilt hatte. Und das war nicht unbedingt weniger anstrengend, denn die Dame hatte - was wir ihr nicht persönlich verübeln wollen - keine besondere Befähigung zum Lektorendienst: Sie sprach leiernd und unsicher und verhaspelte sich häufig. Zwischenzeitlich phantasierte ich darüber, sie von ihrem Kreuz zu erlösen, indem ich sie vom Mikrofon wegschubste und den Vortrag der Meditationen selbst übernahm. Ich kam jedoch bald zu dem Schluss, dass sich das nicht lohnte: Dafür waren die Texte nämlich einfach zu schlecht

Immerhin, eins haben wir gelernt: Den wahren Messias erkennt man an seinem (lässig um den Hals geschlungenen) TROMPETENSCHAL!  
Nicht nur, dass sich auf annähernd jeder der 25 Seiten des Heftchens - und mit "annähernd jeder" meine ich: auf jeder außer einer, nämlich Seite 15 - ein bis sieben Rechtschreib-, Grammatik- und Satzbaufehler fanden; hinzu kamen allerlei ungelenke Formulierungen, die semantisch entweder nicht das aussagten, was sie vermutlich aussagen sollten, oder von denen man nicht erkennen konnte, was sie überhaupt bedeuten sollten, und die in vielen Fällen durch Versprecher bzw. Lesefehler der Lektorin noch weiter verballhornt wurden.

Ein paar Beispiele gefällig?
"der uns wieder den Weg zu Kindern Gottes geebnet hat" (S. 1)
"wenn es Abend wird mit seinen verschiedenen dunklen Seiten" (S. 4)
"wo Jesus mit dem Kreuz auf seinen Schultern lang musste" (S. 10)
"Lass alle ein Tuch der Hilfe erfahren, die nicht mehr mit ihrem Leben klar kommen." (S. 11)
"von der Gewalt, die Jesus unerbittlich antreibt" (S. 12)
"vom Fall des Warums aufzustehen" (S. 13)
"Richte alle auf, die mit dem Leben nicht mehr klar kommen und den Suizid vollziehen wollen." (S. 17)
"Entblöße in allen, die meinen, die Welt auszubeuten zu [sic] müssen auf Kosten der Ärmsten dieser Welt, um ihren Reichtum zu mehren, dass das letzte Hemd keine Taschen hat und sie nichts mitnehmen können." (S. 19) 
Bei den Worten "Jesus - Angenagelter" auf S. 20 war ich dann endgültig raus, denn dabei musste ich unwillkürlich an den Otto-Waalkes-Klassiker "Richter Ahrens und der Fall des angesägten Mastes" denken: "Angenagter! Ihnen wird zur Last gelegt, sie hätten an dem Mast gesägt!"

Der kontemplativen Vertiefung in die Passion Christi war all das natürlich nicht gerade förderlich. Da half nur noch Flucht. "Ich hab mich sowieso schon gefragt, wie lange du es da drin aushältst", scherzte meine Liebste, als wir draußen waren. Ich schätze, es war wirklich ein Glück, dass sie mitgekommen war. Auch für die anderen Kirchbesucher. Denn, wer weiß - wenn niemand auf mich aufgepasst hätte, hätte ich womöglich wirklich der Lektorin das Mikrofon weggenommen.

Der Schutzheilige für hoffnungslose Fälle ist als Patron dieser Kirche jedenfalls eine gute Wahl. 
Nun ja: Vielleicht wurden die Meditationstexte von einem Nicht-Muttersprachler verfasst. Oder von einem Legastheniker. In diesem Fall sollte man wohl die gute Absicht honorieren. Aber selbst dann wäre es immer noch eine Zumutung für alle Beteiligten, diese Texte zu verwenden, ohne sie zuvor noch einmal Korrektur lesen zu lassen. Erschwerend kommt hinzu, dass die sprachliche Form noch lange nicht das einzige Ärgerliche an diesen Kreuzweg-Meditationen war. Sofern man in diesem Geschwurbel überhaupt eine inhaltliche Aussagetendenz erkennen konnte, bestand diese darin, dass Christus sich in Seinem Leiden solidarisch mit dem Leiden der Menschen zeige. Von Ferne winkt die Befreiungstheologie. Die Ladenhüter der gesundheitslatschentragenden Kirchenkritik durften dabei auch nicht fehlen: "Richte uns auf, wenn wir unserer Kirche misstrauen, weil sie auf vielen [sic] Fragen keine Antwort hat", heißt es auf S. 17 - dabei besteht das Problem doch wohl eher darin, dass die Leute die Antworten der Kirche auf ihre Fragen einfach nicht hören wollen. Und gleich darauf, auf S. 18: "Nicht Paläste, nicht weltlicher Reichtum, Prunk und Protz ist [sic] für den Herrn wichtig." Na gut, das muss man wohl sagen in einer so kargen, potthässlichen und abbruchreifen Betonkirche.

Das wäre jetzt, rein kompositorisch gesehen, vielleicht ein ganz stimmiger Schlusssatz, aber ich will doch nicht unerwähnt lassen, dass ich nach diesen eher gemischten Eindrücken schließlich eine sehr schöne Osternacht feiern durfte - in Herz Jesu in Prenzlauer Berg, mit allem Drum und Dran, gut drei Stunden lang. Das versöhnt einen dann doch mit Vielem. Dennoch gibt die Lust der Kirche an der Selbstzerstörung, die sich, wie man gesehen hat, mancherorts selbst und gerade in der Heiligen Woche austobt - viele meiner katholischen Facebook- und Twitter-Freunde berichteten von ähnlichen oder noch schlimmeren Grausamkeiten liturgischer und inhaltlicher Art -, ganz erheblich zu denken...