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Samstag, 22. Juni 2013

Getränke und Gentrifizierung

Hallo. 

Ich dachte mir, ich versuch's mal mit 'nem induktiven Einstieg. 

Nehmen wir mal an, jemand springt aus Protest gegen die Schwerkraft aus dem zehnten Stock. Da kann er auf dem Weg nach unten noch so sehr gegen die Schwerkraft protestieren, am Ende schlägt er doch am Boden auf.

Was sagt uns das? - Zunächst einmal, dass es gewisse Realitäten gibt, die man - ob man sie nun gut findet oder nicht - einfach mal als Realitäten anerkennen und sich entsprechend verhalten sollte. Die Frage ist, was für Realitäten es im Einzelnen sind, für die dies ebenso unbedingt gilt wie etwa für die Schwerkraft.

Ein zuweilen dem Hl. Franz von Assisi oder auch dem Hl. Ignatius von Loyola zugeschriebenes, tatsächlich aber wohl von dem US-amerikanischen Theologen Reinhold Niebuhr stammendes Gebet, das mich von jeher stark berührt hat, lautet: "Gott gebe mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden". Man kann heute vielfach den Eindruck gewinnen, dass es mit der Weisheit der Unterscheidung in unserer Gesellschaft nicht sehr weit her ist. Die Einen wollen ständig Dinge ändern, die schlechthin unveränderlich sind; die Anderen erklären beharrlich Dinge für unveränderlich, die man durchaus ändern könnte, wenn man denn wollte.

Dass die Ersteren im Wesentlichen dem linken Spektrum angehören, überrascht nicht sonderlich; eher schon, dass die Letzteren vielfach dem liberalen Spektrum zuzuordnen sind. Man könnte sich fragen, was es denn bitte mit Freiheit zu tun haben soll, wenn einem immerzu gepredigt wird, die Welt-, Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung sei nun mal, wie sie ist, und als solche "alternativlos". Wenn man ein Weilchen darüber nachdenkt, kann man zu dem Schluss kommen, dass die Liberalen - zumindest jene, für die die Freiheit, die sie meinen in erster Linie die des Marktes (und nicht etwa die des Menschen) ist - tatsächlich die größten Deterministen sind, die es gibt. Fortschritt lässt sich nicht aufhalten; der Eigendynamik der wirtschaftlichen Entwicklung darf man nicht in die Speichen greifen; die Marktwirtschaft in ihrem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf. Man könnte die Liberalen nun fragen: Wenn sowieso alles nach inneren Gesetzmäßigkeiten abläuft, die als solche unveränderlich sind - wofür braucht man euch dann noch? - Aber ich schweife ab.

Zu den Dingen, die nach Auffassung vieler im beschriebenen Sinne liberal gesinnten Menschen ebenso wenig auszurichten ist wie gegen die Schwerkraft, gehört zum Beispiel die Gentrifizierung. Schon mehrfach, sowohl in persönlichen Gesprächen als auch in online-Diskussionen, sind mir Äußerungen des Inhalts begegnet, dieses ganze Gerede über Gentrifizierung sei völliger Quatsch, es sei schließlich ganz normal, dass die Mieten in Innenstadtbezirken steigen und dadurch einkommensschwache Mieter früher oder später durch Besserverdienende verdrängt werden. Dazu ist zunächst dreierlei anzumerken:
  1. Das durch den Begriff Gentrifizierung beschriebene Phänomen ist durchaus komplexer als ein bloßes Steigen von Mieten.
  2. Dass es sich bei der Gentrifizierung um einen Prozess handelt, der sich gemäß einer inneren Gesetzmäßigkeit durchaus folgerichtig vollzieht, bestreitet ja gar niemand - abgesehen vielleicht von einigen Ureinwohnern von Berlin-Prenzlauer Berg, die die Gentrifizierung für eine Verschwörung halten, für die sie pauschal "die Schwaben" verantwortlich machen.
  3. Dass dieses Phänomen unter bestimmten gesellschaftlichen und ökonomischen Rahmenbedingungen quasi "naturgemäß" auftritt, heißt nicht zwangsläufig, dass man es gut und richtig finden muss.
Aus der Distanz betrachtet hat es ja durchaus etwas Faszinierendes, wie schlechte und darum billige Wohngegenden sich über einen Zeitraum von ein paar Jahren oder Jahrzehnten erst in subkulturell-alternative Szenebezirke und dann in ebenso teure wie öde Spießbürgersiedlungen verwandeln. Schaut man etwas näher hin, dann sind die dahinter stehenden Mechanismen gar nicht so schwer zu verstehen, und man kann feststellen, dass ganz ähnliche Prozesse auch in allerlei anderen Bereichen unserer Gesellschaft ablaufen. So zum Beispiel nicht nur auf dem Immobilien-, sondern auch auf dem Getränkemarkt.

(Das erinnert mich übrigens daran, wie ich mal in Karlsruhe in einem völlig überfüllten Supermarkt war und eine Durchsage hörte, in der es in schönstem Badisch hieß: "Frau Soundso bitte zum Gedrängemarkt!" Ach so, dachte ich, deshalb ist es hier so voll.)

Zur Sache: Die Gentrifizierung von Getränken lässt sich geradezu idealtypisch an der Geschichte der Marke Bionade darstellen. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wann und wo ich meiner erste Bionade trank. Diese Limo galt damals in den Kreisen, in denen ich mich bevorzugt bewegte, als das "alternative" Getränk schlechthin. Nicht zuletzt auch als alkoholfreie Alternative zu Bier. Denn was tut der passionierte Biertrinker, wenn er mal einen Abend nüchtern bleiben will oder muss? Alkoholfreies Bier ist ja für Viele ein unbefriedigender Kompromiss, außerdem schmeckt es meistens nicht; Wasser macht auf die Dauer einfach keinen Spaß; und die meisten Softdrinks sind der an Herbes gewöhnten Zunge des Biertrinkers schlicht zu süß. Nicht so Bionade. Was aber vermutlich noch wichtiger war als der Geschmack, war der Umstand, dass Bionade das Produkt einer kleinen, ländlichen Brauerei war, ausschließlich aus natürlichen Zutaten bestand und durch biologische Fermentierung hergestellt wurde. Ein moralisch sauberes Produkt, wo gab's sowas schon? Dass das auf dem Kronkorken abgebildete Logo - das eigentlich ein weißes O auf blauem Grund mit rot ausgefülltem Loch in der Mitte darstellen sollte - aussah wie die Kokarde der Royal Air Force, entzückte zudem die Mods und Indie-Popper. Kurz, Bionade war das perfekte Getränk für den urbanen Rebellen der späten 90er und frühen 2000er. Auch die Werbung war darauf ausgerichtet, das Produkt als nonkonformistisch, jung und "alternativ" zu positionieren. Irgendwann gab es dann eine Plakatkampagne, in der Bionade sich als "das offizielle Getränk einer besseren Welt" bezeichnete. Das war allerdings leider auch schon der Anfang vom Ende.

Bionade war einfach zu bekannt und zu populär geworden, um noch "Underground" sein zu können. Plötzlich sah man auch Leute, die man doof fand, Bionade trinken. Zugleich wurde sie teurer. Ab 2005 übernahm Coca Cola den Vertrieb von Bionade. Damit war die Marke für die subkulturellen Kreise, denen sie ihren Aufsteig verdankt, moralisch so gut wie tot: Sie hatte einen Pakt mit dem Satan geschlossen. (Wie tief der Schock über diesen Verrat sitzt, ist auch daran abzulesen, dass sich bis heute das falsche Gerücht hält, die Marke selbst sei an Coca Cola verkauft worden. Tatsächlich gab es zwar wiederholt Übernahmeangebote, diese wurden jedoch abgelehnt. Seit 2012 gehört Bionade allerdings zu Dr. Oetker, was auch nicht unbedingt besser ist.)

Meiner persönlichen Erinnerung zufolge schlug in dem Moment, in dem Bionade sich ans Establishment verkaufte, die große Stunde von Club Mate - bis dahin eher ein Nischenprodukt vor allem für Informatiker und andere Nerds, die es vermutlich vor allem tranken, um die ganze Nacht wach bleiben und an ihren Computern 'rumfrickeln zu können: Club Mate enthält erheblich mehr Koffein als Kaffee, und obendrein verbrennt man sich nicht den Mund daran. Den urbanen Rebellen war der Koffein-Kick der Mate natürlich ebenfalls recht, wenngleich aus anderen Gründen; nach der Enttäuschung über den Verrat der Bionade wurde der Club-Mate sogar ihr uncooles Design  - grobschlächtige 0,5l-Glasflaschen mit beim Öffnen knirschendem Schraubverschluss; viel zu viel Text auf dem Etikett und ein Logo, das vielleicht vor 30, 40 Jahren trendy gewesen wäre - zum Vorteil angerechnet, und dass das Zeug schmeckte wie abgestandene kalorienarme Fassbrause, störte irgendwie auch niemanden.

Als dann aber neben der althergebrachten Halbliterflasche die schlankere, elegantere 0,33l-Variante mit Kronkorken auf den Markt kam (vorzugsweise für den Verkauf in Kneipen und Clubs zu erheblich höheren Preisen als im Einzelhandel), als 2007 erstmals eine Winter-Edition mit Gewürzen herausgebracht wurde, 2009 dann eine Eisteevariante mit dem prolligen Namen " ICE-Tea-Kraftstoff" und schließlich auch noch eine Club-Mate-Cola, da war das schon wieder der Anfang vom Ende. Club Mate war zum Trendgetränk geworden - das hatten wir nicht gewollt!

-- Ein todsicheres Signal dafür, dass ein Getränk aufhört, alternativ zu sein, ist es, wenn Alternativen zu ihm auftauchen. Das erschließt sich ohne nähere Erläuterung. Auf dem Höhepunkt des Bionade-Erfolgs schossen plötzlich ähnliche Getränke mit Markennamen wie Bios, Beo und Aloha wie Pilze aus dem Boden und wurden einem gerade in subkulturellen Kneipen gern angeboten "("Probier' mal. Ist so ähnlich wie Bionade, aber authentischer."). Dasselbe Phänomen ist nun auch bei Club Mate zu beobachten: Einige Treffpunkte der urbanen Rebellenszene haben das ehemalige Kultgetränk bereits aus dem Sortiment verbannt und durch Mio Mio Mate ersetzt. Die ist noch weitgehend unbekannt, im Einkauf billiger, im Design noch unbeholfener als der Marktführer - und, nicht der unbedeutendste Vorteil: sie schmeckt sogar. Mal sehen, wie lange es dauert, bis auch diese Marke gentrifiziert wird. --

Die Beobachtung, dass Erzeugnisse von Subkulturen nahezu zwangsläufig irgendwann Mainstream werden, deutet übrigens auf ein grundlegendes Paradoxon der bürgerlichen Gesellschaft hin: Der Outsider, der Nonkonformist, der Künstler und Rebell ist für den Normalbürger ein Idol. Das hat vermutlich damit zu tun, dass viele "Besserverdiener" es nur zu Wohlstand und gesellschaftlichem Renommé gebracht haben, weil sie damit zu kompensieren versuchten, dass die coolen Kids in ihrer Schule sie früher nie haben mitspielen lassen. Das Dilemma: So sehr der Spießer versucht, verächtlich auf jene herabzulächeln, die früher cooler waren als er, es im Gegensatz zu ihm aber nicht zu einer Eigentumswohnung, einem Auto, einer Frau, einem Zweitwagen, einer Privatschule für ihre Kinder und vier Urlaubsreisen im Jahr gebracht haben -: im Grunde wäre er immer noch gern so cool wie sie. Aber natürlich ohne auf die Annehmlichkeiten seiner bürgerlichen Existenz zu verzichten. Darum trägt auch der Spießer in seiner Freizeit gern Chucks oder Sneakers und karierte Hosen, hört - je nach Temperament und Sozialisation - Heavy Metal, Punk, HipHop oder Dubstep, wählt die Grünen oder neuerdings die Piraten, kauft im Bio-Supermarkt ein -- und trinkt Bionade.

Ärgerlich ist allerdings, dass der Spießer die Eigenschaft eines negativen König Midas besitzt: Alles, was er in die Hand nimmt, wird spießig. Die Avantgarde wendet sich daher mit Schaudern von dem ab, was der Mainstream sich zu eigen gemacht hat, und sucht sich etwas Neues. Was auch nur so lange gut geht, wie es vom Mainstream unbemerkt bleibt. Indem der Mainstream stets mehr oder weniger dicht auf den Fersen der urban-rebellischen Subkultur bleibt, werden die Nonkonformisten ironischerweise zu den Pionieren  der bürgerlichen Gesellschaft, von der sie sich eigentlich abgrenzen wollen. Das ist so ähnlich wie im Wilden Westen, wo die Pioniere ja vielfach auch auf der Flucht vor der Zivilisation waren, gerade durch diese Fluchtbewegung jedoch die ihnen selbst anhaftende Zivilisation in die Wildnis hineintrugen und damit der nachdrängenden bürgerlichen Gesellschaft nolens volens den Weg ebneten. Lederstrumpf könnte ein Lied davon singen.

Bevor ich zum Schluss komme, noch eine ironiefreie Differenzierung. Die Getränke-Gentrifizierung unterscheidet sich natürlich in einigen Punkten wesentlich von derjenigen des Wohnraums. Vor allem wohl darin, dass den urbanen Rebellen im Grunde nichts daran hindern würde, weiterhin Bionade oder Club Mate zu trinken, nur weil es jetzt auch die Spießer tun: er will es bloß nicht mehr. Verdrängt wird er aus dem Kundenkreis dieser Getränkemarken nicht, er zieht sich freiwillig zurück. Eine solche Verdrängung wäre wohl auch nur über den Preis möglich, und ich werde es wohl nicht mehr erleben, dass eine Flasche Bionade oder Club Mate so teuer wird, dass nur noch Besserverdienende sie sich leisten können. Bei den Mieten sieht das erheblich anders aus. Und erst dann, wenn tatsächlich eine Verdrängung stattfindet, offenbart sich die ganze Ironie der Gentrifizierung. Erst haben Studenten, freischaffende Künstler und andere bunte Vögel darniederliegende ehemalige Arbeitersiedlungen in blühende Subkulturlandschaften verwandelt - und dadurch den oben beschriebenen Typus des auch ein bisschen cool sein wollenden Spießers angelockt, der dorthin zieht, weil da "so viel los ist". Weil's da so super viele Konzerte und Galerien gibt. Mit wachsender Spießerquote im Kiez werden die Pioniere dann aber von dort vertrieben, und die Spießer stellen, sobald sie wieder größtenteils unter sich sind, bald fest, dass sie von den ganzen Konzerten und Galerien die Schnauze voll haben und lieber ihre Ruhe haben möchten. Und irgendwann darf dann, wegen Anwohnerbeschwerden, bei der Fête de la Musique nicht mehr auf offener Straße musiziert und bei Vernissagen kein Bier mehr ausgeschenkt werden.

Die Vertreter des "That's Just The Way It Is, Baby"-Liberalismus können hier natürlich mühelos einwenden, man sei doch selber schuld: Man hätte sich ja nur rechtzeitig selbst gentrifizieren, sprich: selbst zum Spießer werden müssen, dann könnte man von ebenjenen Prozessen profitieren, über die man sich jetzt beklagt. Stimmt natürlich. Aber will man das? - Nee. Dann lieber weiterziehen, den nächsten Kiez kultivieren, und den übernächsten, immer auf der Flucht vor der bürgerlichen Gesellschaft, die einem immer hart auf den Fersen bleibt - wie Lederstrumpf. Und wenn man irgendwann nicht mehr weiterziehen kann, sucht man sich eine Nische, in der man als Relikt vergangener Zeiten überdauern kann, als "Original", halb belächelt, halb angestaunt, und geht langsam an Alkohol und Depressionen zu Grunde - wie Chingachgook. Auch eine Art Heldentod.

Montag, 3. Juni 2013

God Gave Rock'n'Roll To You (III)

Hand aufs Herz: Als ich diese kleine Serie eröffnete, kam mir die Möglichkeit, dass das Thema Rock'n'Roll plötzlich eine ganz neue Aktualität, ja Brisanz gewinnen könnte, gar nicht in den Sinn. Und schon gar nicht, dass ich das ausgerechnet dem Bündnis 90/Die Grünen-Vorsitzenden Cem Özdemir zu verdanken haben würde.

Aber doch: Er hat's getan. Er hat eine öffentliche Debatte darüber angestoßen, was für Menschen eigentlich moralisch das Recht haben, Rockmusik zu mögen, und welche nicht. So wie dereinst Edgar Wibeau kategorisch darüber urteilte, welche Menschen berechtigt seien, Jeans zu tragen. Nun gut: Jeans, echte Jeans, waren in der DDR Mangelware, da schmerzte es natürlich doppelt, sie am Hintern von jemandem zu sehen, von dem man fand, der habe so eine Hose charakterlich gar nicht verdient. Aber ich schweife ab.

Vermutlich hatte Cem Özdemir gar nicht vor, eine Grundsatzdebatte anzustoßen, als er am Donnerstag auf seiner Facebook-Seite einen BILD-Artikel über Christian und Bettina Wulffs Besuch eines Bruce-Springsteen-Konzerts verlinkte und wie folgt kommentierte:
"Ein persönliche Bitte: Liebe konservative Politiker, tut was ihr wollt und tut es wo ihr wollt, aber bitte lasst den Rock'n'Roll in Ruhe. Erst von und zu Guttenberg bei ACDC, jetzt Wulffs bei Springsteen. Was kommt noch? Kauder bei Manu Chao? Diese Musik steht so ziemlich für das exakte Gegenteil Eurer Politik. Wann stellt Seehofer, natürlich in der BILD, seine Sex Pistols Plattensammlung vor? Gnade BILD & Co. Habt Erbarmen. Cem"

Die Reaktionen auf diese Einlassung des Grünen-Vorsitzenden schwankten größtenteils zwischen Hohn und Spott. Die Einen argumentierten, Rock'n'Roll sei doch (mittlerweile) selbst stockkonservativ, da habe es schon seine Richtigkeit, wenn die spießigen Wulffs sich die larmoyanten Schmachtfetzen des ollen Springsteen anhören. Andere konnten sich mit der Forderung, verschnarchte Spießbürger, Häuslebauer und peinliche Ex-Bundespräsidenten samt ihren vom Escort-Service georderten Ehefrauendarstellerinnen sollten "den Rock'n'Roll in Ruhe lassen", durchaus anfreunden, empfanden es aber als eher tragikomisch, dass diese Forderung ausgerechnet von einem Cem Özdemir vertreten wird, der es in puncto Spießigkeit und nicht-Rock'n'Rolligkeit locker mit der halben CDU/CSU aufnehmen kann. Zumal, wie der mir ansonsten unbekannte Facebook-Nutzer Martin Hagen es in seinem Kommentar zu Özdemirs Beitrag souverän auf den Punkt brachte, die Grünen nun auch nicht gerade die ultimative Sex&Drugs&Rock'n'Roll-Partei sind: 
"Rock'n Roll steht nicht für Rauchverbot, Glühbirnenverbot und Motorrollerverbot. Rock'n Roll steht nicht für das subventionierte Solardach auf dem Reihenhäuschen. Rock'n Roll steht nicht für Political Correctnes, Binnen-I und Gender-Gap. Rock'n Roll steht nicht für vegetarische Donnerstage in Beamtenkantinen. Rock'n Roll steht für viel, aber ganz bestimmt nicht für grüne Politik!"
Tja: Wer im Schlachthaus sitzt, soll nicht mit Schweinen werfen. Wer mich oder zumindest meinen Blog kennt, wird wenig überrascht sein, dass ich es tendenziell mehr mit der "Cem, du bist doch selber auch nur ein Wulff"-Fraktion halte als mit den Rock'n'Roll-Verächtern. Trotzdem würde ich - und auch das kennt man ja von mir - das Thema gern etwas grundsätzlicher angehen.

Erst einmal: Ist Rock'n'Roll politisch? - erst einmnal nicht. Im frühen Rock'n'Roll dreht es sich textlich nahezu ausschließlich um Mädchen und Autos. Oft in einem Vokabular, bei dem es unklar ist, ob gerade von einem Mädchen oder einem Auto die Rede ist. Der klassische Früh-Rock'n'Roller braucht nicht viel zum Glücklichsein, er will vor allem faaahrn (was nicht umsonst so klingt wie ein in breitem, nachlässigem american english ausgesprochenes "fun") und nach Möglichkeit ein flottes Girl auf dem Beifahrersitz. Fehlt ihm letzteres, dann stimmt er auch schon mal herzzerreißende Klagelieder an. Aber Politik? - Politisch wird der Rock'n'Roller erst und nur, wenn er bemerkt, dass nicht nur Einzelne, wie etwa Eltern, Lehrer und schwer verführbare Mädchen - seinem Traum vom einfachen Glück im Wege stehen, sondern auch gesellschaftliche Strukturen. Das bemerkt er allerdings schon recht früh. 1958 besang Eddie Cochran in "Summertime Blues" das Hadern mit der Notwendigkeit, in den Sommerferien zu jobben, um Geld zu verdienen. In der dritten und letzten Strophe des Songs heißt es:
"I called my congressman and he said - quote! -:
'I'd like to help you, son, but you're too young to vote.'"

[Ich rief meinen Abgeordneten an, und er sagte wörtlich:
"Ich würde dir ja gern helfen, mein Sohn, aber du bist ja noch gar nicht wahlberechtigt."]
Im Kontext dieses Songs ist das wohl eher scherzhaft gemeint, aber die darin zum Ausdruck kommende Haltung der Politik gegenüber zieht sich durch die ganze Geschichte der Rockmusik. Sie lautet: Die Politik interessiert sich nicht für unsere Probleme, weil sie sich nicht für uns interessiert. They Don't Care 'Bout Us. (Der so betitelte Song von Michael Jackson aus dem Jahr 1996 ist zwar von seinen musikalischen Charakteristika her nicht dem Rock-Genre zuzurechnen, von seiner Haltung her aber doch.)

Nun ist es vom Misstrauen und/oder Unbehagen gegenüber den bestehenden politischen Verhältnissen hin zum eigenen politischen Engagement natürlich ein durchaus nahe liegender Schritt, und auf diesem Wege kommt dann eben doch die Politik in den Rock hinein. Klar ist, dass diese grundsätzlich oppositionell ist, und zwar gern radikal oppositionell: extrem links, extrem rechts oder manchmal auch einfach extrem wirr. Positionen der politischen "Mitte" sind hingegen nicht rock-tauglich: Die gehören schließlich der "Erwachsenenwelt" an, gegen die man rebelliert (oder die einen zumindest, wie die Bewohner von Atlantis sagen, "abtörnt"). So ist es auch kaum überraschend, dass eingefleischte Rock'n'Roller ein allzu ausgeprägtes politisches oder auch nur soziales Engagement von Musikern (man denke etwa an Bob Geldof oder Bono) im Allgemeinen eher skeptisch beäugen oder sogar Verrat darin wittern. Vor allem ist dem echten Rock'n'Roller die political correctness ein Dorn im Auge.

Was das alles mit den Grünen zu tun hat, dürfte auf der Hand liegen. Die haben ja immerhin mal als Fundamentalopposition angefangen, aber inzwischen sind sie doch gründlich in der bürgerlichen Mitte angekommen. Und kaum jemand repräsentiert diese Verbürgerlichung der einstigen Bürgerschreckpartei so idealtypisch wie eben Cem Özdemir - während die Co-Vorsitzende Claudia Roth immerhin mal Managerin von Ton Steine Scherben war. Aus Rock'n'Roll-Sicht sind die Grünen heutzutage einfach too old to die young. Diesem Schicksal zumindest scheint die nächste Generation der spätpubertären Antipolitiker - die Piratenpartei - nach derzeitigem Stand der Dinge wohl durch rechtzeitige Selbstzerstörung zu entgehen. Aber die Piraten hören wahrscheinlich keinen Rock'n'Roll. Sondern eher so Elektro-Kram.

(An dieser Stelle mache ich erst mal einen Punkt. Spätere Fortsetzung nicht ausgeschlossen...)

Selbstgebastelter Anhang zum neuen Gotteslob

"Eichstätt - Limburg - Paderborn" - so lautet der Titel eines Beitrags des Kollegen Cicero über Titelbildvarianten des neuen Gotteslobs. Das erste, was mir beim Lesen dieses Titels auffiel, war, dass man ihn auf die Melodie von "New York - Rio - Tokyo", dem einzigen Hit der 80er-Jahre-Popgruppe Trio Rio, singen kann.

Nun müsste ich aber wohl nicht der Tobi sein, wenn ich es dabei bewenden ließe, das einfach nur festzustellen. Neenee! Bei so einer Vorlage heißt es kurz mal den inneren Verseschmied von der Leine lassen - und sowas kommt dann dabei raus:

Eichstätt - Limburg - Paderborn

Was soll das bedeuten?
Was sagt dies Gebilde wohl den Leuten?
Wen will man erreichen
Mit einem schönen, doch abstrakten Zeichen
Auf dem Gotteslobe?
Dabei ist es gar nicht von Adobe!

Nur in
Eichstätt, Limburg, Paderborn
Hält man von diesem Zeichen nix
Und bleibt lieber beim Kruzifix
In Eichstätt, Limburg, Paderborn
Da zeigt des Buches Umschlag schon
Hier dreht es sich um Gottes Sohn!

Doch wir woll'n uns freuen
Dennoch an dem Gotteslob, dem neuen
Und uns nicht groß streiten
Über Bilder auf den Umschlagseiten
'S gibt ja Schutzumschläge
Die sind auch nützlich für des Buches Pflege!

Und in
Eichstätt, Limburg, Paderborn
Und all den andern Bistümern
Da preisen wir ganz laut den HERRN
In Eichstätt, Limburg, Paderborn
Und überall, wohin man sieht:
Singt dem HERRN ein neues Lied!


(Ich gebe zu, ich habe bei der Strophenlänge ein bisschen gemogelt und den C-Teil - "When you dance close to me" usw. - ganz weggelassen. So viel künstlerische Freiheit wird ja wohl drin sein. Nebenbei bemerkt stelle ich mir auch die imposanten Instrumentalpassagen des Songs, auf der Kirchenorgel gespielt, durchaus stimmungsvoll vor. Ich möchte daher schon mal die Aufnahme dieses Songs in den Anhang des Gotteslobs beantragen - mindestens in den Bistümernb Eichstätt, Limburg und Paderborn...)

Sonntag, 2. Juni 2013

Walk the Line

Meine Frau hat mich verlassen – das Auto ist kaputt – der Hund ist weggelaufen – das Gas ist abgestellt worden, und ich muss mich von kalten Bohnen aus der Dose ernähren.

Das war so ungefähr das Ergebnis, als wir einmal am Rande einer Bandprobe darüber diskutierten, wie der perfekte Blues-Text lauten würde. Nur unsere Sängerin war anderer Meinung: "Ich finde, das ist der perfekte Country-Text!"

"Country", erwiderte unser Gitarrist, "ist es, wenn du diesen Text fröhlich singst."

Samstag, 1. Juni 2013

Von Konversion bis Kastration: Pius IX. in Dichtung und Wahrheit

Papst Pius IX. (bürgerlich Giovanni Maria Mastai-Ferretti, 1798-1878) muss eine gewinnende Persönlichkeit gewesen sein; denn obwohl sein Pontifikat - mit fast 32 Jahren das längste aller Nachfolger Petri - von massiven Angriffen auf Kirche und Papsttum geprägt war, äußerten sich zu seinen Lebzeiten selbst radikale Kirchengegner mit Respekt und sogar Sympathie über ihn. So schrieb die - trotz ihres harmlos-idyllischen Namens kämpferisch antiklerikal gesonnene - Wochenzeitschrift Die Gartenlaube im Jahre 1867 über ihn: "Wenn alle katholischen Geistlichen diesem ihren Oberhaupt an Milde, Einfachheit und Sittenstrenge glichen, so stände es besser um die katholische Kirche und um die gesamte Welt". Im 1868 erschienen ersten Band von Sir John Retcliffes 13bändigem Kolportageroman Biarritz, in dem kriminelle Machenschaften obskurer klerikaler Geheimbünde eine nicht unbedeutende Rolle spielen, wird Pius als "der Mann mit dem freundlichen wohlwollenden Herzen" charakterisiert; ähnlich urteilte der dem Katholizismus keineswegs freundlich gesonnene Schriftsteller Hermann Allmers in seinem Reisebericht Römische Schlendertage (1869). Als jedoch im Jahr 2000 - beinahe ein Jahrhundert nach der Eröffnung des Verfahrens - die Seligsprechung dieses Papstes anstand, hagelte es Proteste - von Protestanten, Orthodoxen, Juden und sogar von einigen katholischen Kirchenhistorikern. Was, so ist man geneigt zu fragen, war da in der Zwischenzeit passiert?

Als Mastai-Ferretti 1846 zum Nachfolger des als reaktionär geltenden Gregor XVI. gewählt wurde, wurde er weithin als Hoffnungsträger der Liberalen wahrgenommen; tatsächlich nahm er hinsichtlich der weltlichen Regierung des Kirchenstaates, der damals noch weite Teile Mittelitaliens umfasste, einige Reformen in Angriff. Dann jedoch brach die Revolution von 1848 aus; auf dem Territorium des Kirchenstaates wurde die Römische Republik ausgerufen, der Papst floh, als Mönch verkleidet, aus Rom und fand Zuflucht in der neapolitanischen Garnisonsstadt Gaeta, von wo er erst im Frühjahr 1850 nach Rom zurückkehrte, nachdem der Kirchenstaat bereits im Sommer 1849 mit Hilfe einer militärischen Intervention Frankreichs und Spaniens wiederhergestellt worden war.

Diese Restitution der weltlichen Herrschaft des Papsttums über Mittelitalien war jedoch nicht von langer Dauer: Im Rahmen des so genannten Zweiten Italieninschen Unabhängigkeitskrieges (1859/60) griff das Königreich Sardinien-Piemont, das eine nationalstaatliche Einigung Italiens unter seiner Führung anstrebte, neben den zum Hansburgerreich gehörenden norditalienischen Provinzen auch den Kirchenstaat an und entriss ihm den Großteil seines Territoriums bis auf Rom, Civitavecchia und das unmittelbare Umland, die von französischen Truppen geschützt wurden. Als Frankreich dann angesichts des Deutsch-Französischen Krieges von 1870/71 seine Streitkräfte aus Rom abzog, wurde der letzte Rest des Kirchenstaates beinahe kampflos vom inzwischen gegründeten Königreich Italien besetzt und annektiert.

Vor dem Hintergrund dieser Vorgänge kann es kaum überraschen, dass das Pontifikat Pius' IX. seit der Revolution von Bemühungen geprägt war, die politisch und militärisch bedrohte Autorität des Papstes theologisch abzusichern. Diesem Ziel sollten u.a. die 1864 veröffentlichte Enzyklika Quanta cura und der diesem Lehrschreiben als Anhang beigefügte Syllabus errorum dienen, in dem Pius IX. u.a. Rationalismus, Sozialismus, Kommunismus und Liberalismus als "Irrtümer unserer Zeit" verurteilte. Am 18.07.1870 verkündete das I. Vatikanische Konzil in der dogmatischen Konstitution Pastor aeternus die Unfehlbarkeit des Papstes in Fragen der Glaubens- und Sittenlehre - eine äußerst umstrittene Entscheidung, die in der Öffentlichkeit auf einigen Widerstand stieß. In Deutschland führte das Unfehlbarkeitsdogma etwa zur Gründung der von Rom unabhängigen Altkatholischen Kirche und bildete zudem den Anlass zu einer unter der von Rudolf Virchow geprägten Bezeichnung Kulturkampf in die Geschichte eingegangenen Serie massiver staatlicher Repressionen gegen die Katholische Kirche im neugegründeten Deutschen Reich, insbesondere in Preußen. Flankiert wurden diese staatlichen Zwangsmaßnahmen von ausgedehnter publizistischer und literarischer Polemik gegen Kirche und Papsttum. Eine 1875 unter dem Titel Der Katholizismus seit der Reformation veröffentlichte Flugschrift urteilte über das Unfehlbarkeitsdogma: "Diesen Hohn durfte man dem 19. Jahrhundert ins Gesicht schleudern, diesen frechsten und ruchlosesten aller menschlichen Ansprüche erheben, diese verlogenste aller Lügen zu einem bei ewiger Höllenstrafe verbindlichen Dogma [...] machen." Ganz Ähnliches las man 1873 in dem Roman Die zweite Frau der enorm populären Unterhaltungsschriftstellerin E. Marlitt: Dort spricht die Titelheldin Liane von "dem starren, unhaltbaren Dogmenwerke, das deine Kirche neuerdings predigt" und bezeichnet es als „die wahnsinnigste Vermessenheit des Menschengehirns, die der alte Mann in Rom proklamiert“ (E. Marlitt: Die zweite Frau. Stuttgart/Berlin/Leipzig o.J., S. 188f). Daneben erschien eine Vielzahl kulturkämpferischer Kolportageromane mit Titeln wie Pius, der Unfehlbare und seine schwarzen Streiter, oder: Die Geheimnisse des Concils (P. Giac. Genelli, Berlin 1870-72) oder Pius IX. und die heutige Zeit oder Rom und die Jesuiten (George F. Born alias Georg Füllborn, Berlin 1871).

Noch mehr als Syllabus und Unfehlbarkeitsdogma dürfte dem Ansehen Pius' IX. in den Augen der Nachwelt jedoch ein Ereignis geschadet haben, das man auf den ersten Blick eher für eine weltgeschichtliche Marginalie halten könnte: die Affäre Mortara.

Am 23. Juni 1858 verschaffte sich die päpstliche Polizei Zutritt zum Haus der jüdischen Familie Mortara im damals zum Kirchenstaat gehörenden Bologna, um den sechsjährigen Sohn der Familie, Edgardo, in Gewahrsam zu nehmen und nach Rom zu bringen, wo er fortan in einem Katechumenenhaus erzogen werden sollte. Anlass dafür war die Aussage der katholischen Magd der Mortaras, Anna Morisi, sie habe Edgardo während einer lebensbedrohlichen Krankheit die Nottaufe erteilt. Durch diese Taufe galt Edgardo kirchenrechtlich als Katholik, und die Gesetze des Kirchenstaates untersagten es, dass katholische Kinder von Juden aufgezogen wurden – selbst wenn es die leiblichen Eltern waren. Dieser Vorgang sorgte weltweit für erhebliches Aufsehen, Diplomaten mehrerer europäischer Staaten und der USA legten beim Vatikan Protest ein und forderten, dass Edgardo Mortara seinen Eltern zurückgegeben werde. Pius IX. bliebt jedoch unbeirrt: "Ich hatte sowohl das Recht als auch die Pflicht, das zu tun, was ich für diesen Jungen getan habe, und ich würde es wieder tun."

Es kann kaum überraschen, dass auch dieser Fall Eingang in die zeitgenössische Literatur fand. Als in dem bereits erwähnten E. Marlitt-Roman Die zweite Frau die Titelheldin Juliane erfährt, dass der Spielgefährte ihres Stiefsohns Leo, ein stiller, verträumter Knabe namens Gabriel, Mönch werden soll, nimmt sie automatisch an, er solle dazu gezwungen werden; der Hofprediger, ein intriganter Jesuit, entgegnet süffisant: "Wir sind sehr harmlos in Schönwerth; mit solchen haarsträubenden Gewaltthaten, wie sie das Märchen vom Knaben Mortara der gerngläubigen Welt auftischt, befassen wir uns nicht" (S. 72). Diese knappe und im Roman nicht weiter erläuterte Anspielung macht deutlich, in wie hohem Maße die Mortara-Affäre beim damaligen Lesepublikum als bekannt vorausgesetzt werden konnte; gleichzeitig wirft die Rede vom "Märchen vom Knaben Mortara" Fragen auf – da die äußeren Fakten des Falles schließlich allzu gut dokumentiert waren, um sie im Ganzen als "Märchen" abzuqualifizieren. Gleichzeitig ist nicht recht ersichtlich, in welchem Zusammenhang die Affäre Mortara mit angeblichen finsteren Machenschaften des Jesuitenordens stehen soll: Anhand der bekannten Fakten über den Fall ist eine Mitwirkung der Jesuiten an der erzwungenen Trennung Edgardo Mortaras von seinen Eltern nicht nachzuweisen. Offenbar wollte die Autorin es der Phantasie ihrer Leser überlassen, diese Leerstellen auszufüllen. – Tatsächlich rankten sich zahlreiche Verschwörungstheorien um die Affäre Mortara; antiklerikal eingestellten Kreisen erschien es wohl schlicht unglaubhaft, dass die Kirche in dieser Angelegenheit von keinem anderen Interesse als dem am Seelenheil eines sechsjährigen Knaben aus wenig begüterter jüdischer Familie geleitet sein sollte. So verarbeitete etwa der ebenfalls schon erwähnte Sir John Retcliffe den Fall in seinem Romanzyklus Villafranca (1862-66): Ausgehend von dem irritierenden Faktum, dass Edgardo Mortara erst mehrere Jahre nach seiner angeblichen Nottaufe von der Kirche reklamiert wurde, stellt Retcliffe die Affäre Mortara als Ergebnis einer verwickelten Intrige dar: Der uneheliche Sohn einer zum Christentum übergetretenen und deshalb von der Familie verstoßenen Tante Edgardo Mortaras will sich durch die Zwangskonversion des letzten Sprosses der Mortaras an der jüdischen Verwandtschaft rächen; reaktionäre Agenten versuchen den (fiktiven) Onkel Edgardos, einen Vertrauten Garibaldis, mit ihrem Wissen um die heimliche Taufe seines Neffen zu erpressen; und nicht zuletzt spielt, der Genrekonvention des "Jesuitenromans" entsprechend, auch die reiche Erbschaft dieses Onkels eine Rolle. Eine Schlüsselstellung in dieser Intrige kommt bei Retcliffe einem sinistren Jesuitenpater zu, der es als Beichtvater der Magd Anna Morisi in der Hand hat, die Taufe Edgardos publik zu machen.

Der echte Edgardo Mortara, der somit schon als Kind zur Romanfigur avanciert war, lebte übrigens noch bis 1940; er war 1865 dem Augustinerorden beigetreten und 1873 zum Priester geweiht worden und widmete sich fortan besonders der Judenmission. Papst Pius IX. betrachtete er als seinen geistigen (und geistlichen) Vater und äußerte sich zeit seines Lebens mit großer Anerkennung und Dankbarkeit über ihn; Mortara sagte auch im Seligsprechungsprozess Pius' IX. klar zu dessen Gunsten aus (hier eine englische Übersetzung, auf deutsch habe ich's nicht finden können). Das änderte freilich nichts daran, dass der Fall Mortara bis heute zu den schwerwiegendsten Vorwürfen zählt, die in der öffentlichen Debatte gegen Pius IX. und seine Seligsprechung erhoben werden. Mortaras eigene Darstellung des Falles wird von Kritikern lediglich als Resultat einer brutalen Gehirnwäsche aufgefasst. -- So weit, so vorhersehbar. Nicht g'nug wundern kann man sich hingegen - angesichts des Umstandes, dass die Mortara-Affäre anlässlich der Seligsprechung Pius' IX. im Jahr 2000 erneut ausgiebig Schlagzeilen machte - über einen am 20.04.2005 geposteten Eintrag auf der Diskussionsseite zum deutschsprachigen Wikipedia-Artikel über Pius IX.; dort schreibt Nutzer "robby" mit Bezug auf den Fall Mortara:
"Meiner Erinnerung nach ist diese Räubergeschichte inzwischen komplett widerlegt. Ich kann es aber im Moment ebenso wenig belegen wie Du. Und ich glaube sogar, daß sich die Geschichte auf Pius XII. bezog."
Nun gut: robby täuscht sich, und das in mehrfacher Hinsicht. Die Fehlerinnerung, derzufolge sich die ganze Geschichte auf Pius XII. bezogen habe, ist dabei besonders bezeichnend: Ein Papst, der irgendwas Schlimmes im Zusammenhang mit Juden gemacht hat? Das kann ja nur Pius XII. gewesen sein!

Zu robbys Ehrenrettung sei allerdings erwähnt, dass er mit seiner Skepsis gegenüber manchem, was in der Wikipedia und andernorts über Pius IX. behauptet wird, in einem anderen Fall schon einmal ins Schwarze getroffen hat. So monierte er Ende Februar 2005 einen (in der Folge dann gestrichenen) Absatz des Pius-Artikels, welcher lautete:
"1857 entschied Pius, dass die Darstellung von männlichen Geschlechtsteilen innerhalb der Mauern der Vatikanstadt eine Lust bei den Menschen innerhalb dieser Mauern erzeugen könnte, woraufhin er eigenhändig mit Hammer und Meißel das steinerne Geschlechtsteil einer jeden Statue im Vatikan abschlug. Er beschädigte dadurch hunderte von Meisterwerken von Bernini, Bramante und Michelangelo. Die Zerstörungen an den Skulpturen werden auch heute noch mit Feigenblättern aus Gips kaschiert."
Die von robby angestoßene Diskussion über die Authentizität dieser Information ergab bald...: dass der Absatz beinahe wörtlich aus Dan Browns Bestseller Illuminati entnommen war! Da dieser Roman nun aber - was immer Dan Brown Gegenteiliges behaupten mag - nicht gerade als seriöse Quelle gelten kann, wurde die entsprechende Passage aus dem Wikipedia-Artikel entfernt; aber damit war die Geschichte noch nicht zu Ende. Im Mai 2005 wies ein anderer Nutzer darauf hin, dass man per Google-Suche den geschilderten Sachverhalt auf zahlreichen anderen Webseiten bestätigt finden könne (zum Beispiel hier), und plädierte daher dafür, die Passage wieder herzustellen. Dieses Ansinnen wurde jedoch von Nutzer "Wofl" entschieden zurückgewiesen - mit dem besonnenen Argument:
"Diese Hinweise gehen durchweg auf die frühere Version des Wikipedia-Artikels zurück. [...] Um nicht noch weiter zur Legendenbildung beizutragen, sollte diese Geschichte aus dem Artikel herausgehalten werden."
Da sage ich: Danke. - Dass die Geschichte dennoch weiterhin in ungezählten Versionen durch das Internet geistert, steht freilich auf einem anderen Blatt; und hier wäre nun wieder robby zuzustimmen, der abschließend kommentiert:
"Tja, das ist der Nachteil der Autorität, die Wiki mittlerweile genießt. Da setzt jemand einen Scherz auf die Seite, niemand paßt auf - und schon verbreitet sich die Ente in die schöne weite Welt. Und wenn wir es dann hier repariert haben kriegen wir es mit Quellenangabe von den Wikiabschreibern wieder zurück."
(Übrigens musste ich mich stark zusammenreißen, diesen Blogbeitrag nicht - in Anlehnung an eine Lortzing-Oper - "Papst und Pillermann" zu nennen. Wäre aber vielleicht ein bisschen over the top gewesen.)

Mittwoch, 22. Mai 2013

"Glauben ist ja kein Zwang in der CDU, aber immer noch weit verbreitet"

Manch einer kennt wohl das Gefühl, sich unversehens an einem Ort und in einer Situation wiederzufinden, die bzw. den man "normalerweise" niemals freiwillig aufgesucht haben würde - und sich zu fragen: Was tue ich hier? Warum bin ich hierhergekommen? Erstaunlich oft lautet die Antwort auf diese Fragen: Na ja, ich dachte halt, es gäb' Freibier. Gibt aber keins. Und dann guckt man doof.

Andererseits: So ist das Leben nun mal, und wo käme man denn hin, wenn man immer nur das täte, was man "normalerweise" tut? Man muss auch mal was riskieren, was Verrücktes tun. Zu einer Veranstaltung der CDU Alt-Pankow gehen, zum Beispiel.

Sympathien für die CDU kann mir eigentlich keiner nachsagen, jedenfalls nicht, seit ich vor mittlerweile fast 20 Jahren aus der Jungen Union ausgetreten bin. Im Grunde aber auch schon vorher nicht. Mein Vater war mal so zu sagen Linksaußen bei der CDU meines Heimat-Landkreises, und eine Zeit lang dachte ich, diese Position könnte ich auch einnehmen. Aber ich konnte mich einfach nicht mit dem "Wirtschaftsflügel" arrangieren (der, das sollte man erwähnen, in meiner Heimatregion größtenteils ein Land-Wirtschaftsflügel war; vgl. die lokale Redensart "Hast du eine Kuh, dann bist du in der CDU"). Bei der ersten JU-Kreisverbandssitzung, an der ich teilnahm, wurde es als "sozialistisch" kritisiert, dass Autofahrer über die Kfz-Steuer zur Finanzierung des Öffentlichen Personennahverkehrs beitragen müssen, den sie doch gar nicht nutzen. Okay, sagte ich mir, dann bin ich wohl Sozialist.

Meine waghalsige Idee eines Langen Marsches durch die JU-Institutionen scheiterte letzten Endes an der Erkenntnis, dass Meinungsbildung in Parteien und deren Jugendverbänden nicht von unten nach oben, sondern von oben nach unten geschieht. Und davon abgesehen hatte ich nach ein paar Jahren auch einfach die Faxen dicke. Geblieben ist mir aus dieser Zeit eine tief sitzende Abneigung gegen streng gescheitelte Twentysomethings in Anzügen mit schwarz-rot-goldenen Anstecknadeln am Revers sowie gegen die pseudo-joviale "Wir sind ja unter uns, da kann man sowas ja sagen"-Pose, mit der bei geschlossenen Veranstaltungen gern zu populistischen Pöbeleien über Migranten, Arbeitslose, Homosexuelle, Frauen oder die Vertreter anderer Parteien (und deren Wähler) geblasen wird.

Folgerichtig hielt sich meine Begeisterung eher in Grenzen, als ich eine Einladung zu einer Veranstaltung des CDU-Ortsverbands Alt-Pankow erhielt. - Na gut: Im Zeitalter von Facebook wird man ja ständig zu irgendwas eingeladen, und das Meiste davon ignoriert man einfach. Das war in diesem Fall jedoch nicht so leicht: Der Berliner Landesvorsitzende der "Christdemokraten für das Leben" (CDL), Stefan Friedrich, den ich im Zusammenhang mit meinem bescheidenen Einsatz für den Lebensschutz kennen gelernt habe, schien einen gewissen Wert auf meine Anwesenheit zu legen und köderte mich mit dem Hinweis, ich könne ja darüber bloggen. Was ich nun ja auch tue.

Es handelte sich um einen Vortrag des scheidenden Bundestagsabgeordneten Norbert Geis (CSU) unter dem Titel "Meine Bilanz nach 45 Jahren Politik"; in der Ankündigung der CDU Alt-Pankow wurde Geis als "erfahrener und erfolgreicher Haudegen [!]", "politisches Urgestein" und "echte[r] Leitstern[]" gewürdigt; dieses Vokabular stimmte mich einigermaßen misstrauisch, und als ich um der Kontrastwirkung willen die Wikipedia bemühte, war ich nicht überrascht, Geis dort als stramm rechten Knochen portraitiert zu finden. Na gut: Wenn die gern eher linksgerichtete alte Tante Wiki so etwas sagt, muss das nicht unbedingt viel heißen. Dennoch, ich war skeptisch - umso mehr, als wenige Tage vor der Veranstaltung angekündigt wurde, der Neuköllner CDU-Bezirksvorsitzende Michael Büge, der kurz zuvor wegen seiner Mitgliedschaft in der Studentenverbindung Gothia als Staatssekretär für Soziales entlassen worden war, werde quasi als Ehrengast mit von der Partie sein. Mehr und mehr verfestigte sich bei mir der Eindruck, es mit einer Protestveranstaltung des rechten CDU-Flügels gegen den großkoalitionären Schmusekurs der eigenen Partei zu tun zu haben. Dass das Ganze im rustikalen Landhaus Pankow stattfinden sollte, das mit seiner "Deutschen Küche" wirbt, passte da irgendwie ins Bild.

(Nicht dass ich etwas gegen deutsche Küche hätte. Ich mag Kartoffeln, dochdoch. Über die Qualität der Speisen im Landhaus Pankow kann ich allerdings nichts sagen - ich aß dort nichts, denn ich hatte mir bereits unterwegs einen Döner einverleibt.)

Zunächst einmal schien denn auch alles meine Befürchtungen zu bestätigen. Noch vor dem eigentlichen Beginn der Veranstaltung (der sich erheblich verzögerte, da MdB Geis noch an einer Abstimmung im Bundestag teilnehmen musste - dem Vernehmen nach ging es um die Verlängerung des Bundeswehr-Mandats für die Operation Atalanta am Horn von Afrika) bekam ich mit, dass der Ortsverband Alt-Pankow - offenbar unter der Ägide des ausgesprochen jung-dynamischen stellvertretenden Vorsitzenden Patrick Albertsmeyer - bestrebt ist, sich als Speerspitze des Konservatismus innerhalb der Berliner CDU zu profilieren und zu diesem Zweck auch darauf setzt, Mitglieder anderer Ortsverbände abzuwerben. Und mit Freibier sah's auch schlecht aus. Ich geriet an einen Tisch mit durchaus sympathisch wirkenden jungen Leuten, darunter ein erfreulich un-CDU-mäßig aussehender Chemiestudent (der, wie ich im Gespräch erfuhr, tatsächlich nicht Parteimitglied ist) und eine in der Frauen-Union aktive Studentin der Agrarwissenschaft; wenig später gesellte sich auch Albertsmeyers Freundin dazu. Der Chemiker und die Agrarwissenschaftlerin fanden, wie man sich leicht vorstellen kann, bald gemeinsamen Gesprächsstoff; als er die Bedeutung seines Faches für das Ihre betonte und erklärte, natürlich gebe es auch ökologische Düngemittel, aber diese seien "nun mal weniger ertragreich", räumte sie das ein, und ich dachte: Ach du Scheiße. Ich bin wieder bei den jung-dynamischen Jungbauern im Landkreis Wesermarsch. Na ja, aber sonst waren sie eigentlich wirklich nett. Trotzdem musste ich, ehe der Hauptredner des Abends eintraf, mehrmals den Drang in mir niederkämpfen, mich heimlich zu verdrücken und ins nahe Yesterday zu flüchten.

Meine Motivation, im Landhaus Pankow auszuharren, erhielt jedoch beträchtlichen Schub, als Stefan Friedrich, der mich ja eingeladen hatte, auf mich zukam und mich fragte, ob ich mir vorstellen könne, einen Artikel über die Veranstaltung zu schreiben, den man dann evtl. bei kath.net unterbringen könne. Ich fackelte nicht lange, sondern sagte zu - wenngleich mir die Frage ein wenig zu schaffen machte, was ich da denn wohl schreiben könnte und sollte, wenn sich die Veranstaltung als (für mein Empfinden) so schauderhaft erweisen sollte, wie verschiedene Anzeichen es befürchten ließen. Da der betreffende Artikel inzwischen bereits erschienen ist, brauche ich wohl nur darauf zu verweisen, um zu demonstrieren, dass solche Bedenken sich als unnötig erwiesen haben. Für den kath.net-Artikel konnte ich mich ja weitgehend darauf beschränken, Norbert Geis' Äußerungen zu Themen wie Lebensschutz und Familienpolitik zu referieren, und an diesen hatte ich, abgesehen von einigen für meinen Geschmack etwas allzu nationalistischen und biologistischen Zungenschlägen (dazu weiter unten Genaueres), tatsächlich wenig auszusetzen. Auch insgesamt machten sowohl MdB Geis als auch der oben erwähnte Ehrengast Michael Büge, der später zu Wort kam, einen deutlich besseren Eindruck auf mich, als ich das im Vorfeld erwartet bzw. befürchtet hatte. Wo ich dann doch noch das eine oder andere zu differenzieren und/oder kritisch anzumerken habe, kann ich das ja hier tun. Auch wenn mein Blog natürlich weniger gelesen wird als kath.net. Oder gerade deswegen.

Frei heraus gesagt, ich fühle mich in Kreisen, in denen  eine gewisse Übereinstimmung in politischen Fragen mehr oder weniger stillschweigend vorausgesetzt wird, nahezu immer entweder unwohl oder, wenn ich gerade den Schalk im Nacken habe, als Undercover-Agent. Das liegt natürlich primär an den beträchtlichen Komplikationen meiner eigenen politischen Gesinnung. Wo ich auch hinkomme: Bei den Einen missfallen mir die Inhalte, bei den Anderen der Stil, oft beides. In vielen politischen Gruppierungen kann ich mich mit dem Inhalten zum Teil, aber auch nur zum Teil, identifizieren; nur an der FDP habe ich noch überhaupt kein gutes Haar finden können. (Der Vollständigkeit halber hinzugefügt, obwohl sich das beinahe von selbst verstehen dürfte, zumindest für jene, die mich kennen oder zumindest schon mehr von mir gelesen haben: an extrem rechten Gruppierungen ebenfalls nicht.) Sollte ich meinen eigenen politischen Standpunkt auf einen Begriff bringen, fehlen mir buchstäblich die Worte. Noch vor einiger Zeit hätte ich mich vielleicht als "wertkonservativer Linker" bezeichnet, aber der Begriff scheint mir recht sperrig und missverständlich und trifft es irgendwie auch nicht richtig. "Linkssentimentaler Dunkelkatholik"? Vielleicht, mit einem Augenzwinkern. Oder einfach "christlich-sozial, aber nicht so, wie der Begriff in Bayern verstanden wird"? Hm, das hilft auch nicht viel weiter. Festzuhalten bleibt, dass ich in bestimmten Fragen (z.B. Lebensschutz und Familienpolitik, weshalb es mir nicht schwer fiel, Norbert Geis' Aussagen zu diesen Themen in meinem kath.net-Artikel positiv zu würdigen) konservativ bin, in anderen Politikfeldern (nennen wir mal die Ministerressorts: Wirtschaft, Arbeit und Soziales, Verteidigung, Justiz, Umwelt) eher "links", und ich kriege es hin, beides aus meinem christlichen Glauben heraus zu begründen. Ich verabscheue Nationalismus (auch im Sport). Ich könnte noch fortfahren, aber die genannten Punkte reichen wohl bereits aus, um zu verdeutlichen, weshalb ich bei der hier in Frage stehenden CDU-Veranstaltung permanent zwischen Zustimmung und Widerspruch hin- und hergerissen war. Und, ich deutete es bereits an: Stilfragen kommen noch hinzu.

Dass der schon erwähnte Vize-Ortsverbandsvorsitzende Patrick Albertsmeyer mir nicht besonders ans Herz wachsen würde, war schon dadurch klar, dass er genau so aussah wie mein personifiziertes Feindbild aus meiner Zeit bei der Jungen Union. Er sprach auch so, nur ein bisschen schlimmer. Als er sich in seiner kurzen Begrüßungsansprache ausdrücklich auf das "preußische Motto 'Fasse dich kurz, damit man dir zuhört'" berief, dachte ich schon, ich müsse durchs Klofenster türmen. Auch dem ebenfalls schon (mehrfach) erwähnten Stefan Friedrich, der auf Facebook mit mir befreundet ist und der diesen Artikel daher vermutlich lesen wird, sobald er erscheint, kann ich es nicht ersparen, zu gestehen, dass seine Charakterisierung Norbert Geis' als "standhaft wie die deutsche Eiche" nicht nach meinem Geschmack war; und dass er im Zusammenhang mit der Entlassung Michael Büges als Staatssekretär mehrfach Parallelen zum Fall Martin Hohmann zog - "auch einer, der geopfert wurde" -, bereitete mir gleichfalls Bauchschmerzen. Dass der (im Vergleich zu seinem engagierten Vize Albertsmeyer etwas blass wirkende) Ortsverbandsvorsitzende der CDU Alt-Pankow, Conrad Felgner, Norbert Geis zum Abschied nicht einfach eine Flasche Wein sondern ausdrücklich "einen guten Tropfen aus Deutschland" überreichte - na ja, geschenkt. Zu Geis selbst ist zu sagen, dass er sich zum Teil einer ausgesprochen martialischen Rhetorik bediente, als er etwa über parteipolitische Basisarbeit sprach ("Mehrheiten müssen erkämpft werden", "Ortsverbände müssen mobilisiert werden", "Je mehr eine Partei in den Kommunen verwurzelt ist, desto besser kann sie im offenen Feld bestehen"); nun gut, das sind Redensarten, die man vielleicht nicht überbewerten sollte. Problematischer fand ich es, dass er im Zusammenhang mit der dramatisch niedrigen Geburtenquote in Deutschland von der Notwendigkeit sprach, "unser Volk zu erhalten", und den meist kinderreichen muslimischen Migrantenfamilien "unsere Deutschen" gegenüberstellte. Dass er mit "deutsch" hier nicht allein die Staatsangehörigkeit meinte, ergibt sich aus dem Kontext wohl einigermaßen zwingend.

Nun war solches ja aufgrund der Einschätzungen, die ich im Vorfeld über Norbert Geis gelesen hatte, durchaus zu erwarten gewesen. Wenn ich oben schrieb, dass er insgesamt einen besseren Eindruck auf mich gemacht hat als befürchtet, dann war das - neben meiner ziemlich weitgehenden Zustimmung zu jenen seiner Äußerungen, die ich in meinem kath.net-Artikel referiert habe - zu einem guten Teil seinem schwung- und humorvollen Vortrag zu verdanken. Als das Mikrofon nicht aufhörte, Zicken zu machen, ließ er es kurzerhand weg und war auch so noch bestens zu verstehen. Dass Geis Charisma hat, steht außer Frage; die Agrarwissenschaftlerin an meinem Tisch stellte das bereits fest, als er noch nichts anderes getan hatte als die Treppe herunter zu kommen. Auch Michael Büge war mir gar nicht unsympathisch. Dass er seinen Posten in der Senatsverwaltung verloren hat (bzw. verlieren wird; bis zum 30.06 ist er noch im Amt), weil er sich geweigert hat, aus seiner Burschenschaft auszutreten, trägt ihm ja schon mal meinen Respekt ein: So suspekt mir Burschenschaften tendenziell sind, mag ich einfach die Haltung, die Büge gezeigt hat, indem er es abgelehnt hat, angesichts eines Ultimatums seines Vorgesetzten, des Senators Mario Czaja - Austritt aus der Burschenschaft oder Entlassung! -, klein bei zu geben. Mit anderen Worten, er hat seine Überzeugung über Karriererücksichten gestellt -- oder? Leider, leider fiel es mir in der abschließenden Fragerunde nicht rechtzeitig ein, Michael Büge auf eine Insinuation des Tagesspiegels anzusprechen: dass nämlich eine Burschenschaft schließlich nicht zuletzt ein lebenslang funktionierendes Karrierenetzwerk sei, das somit unter Umständen bessere Aussichten böte als ein politisches Amt, das schließlich von wechselnden Mehrheiten abhängig sei... Aber ich gehe mal davon aus, dass er um eine Antwort nicht verlegen gewesen wäre.

Abschließend muss ich noch ein paar Worte zum Titel dieses Beitrags loswerden: es handelt sich um eine Äußerung Michael Büges, die er fallen ließ, als er mehr oder weniger en passant auf seinen christlichen Glauben zu sprechen kam. Ich fand den Satz hübsch - und noch hübscher fand ich, was die CDU Alt-Pankow schrieb, als sie meinen kath.net-Artikel auf ihrer Facebook-Seite verlinkte: "Hier wird naturgemäß der christliche Standpunkt der Rede von MdB Geis in den Mittelpunkt gestellt" - höre bzw. lese ich da eine leise Distanzierung heraus? - Recht so: Distanziert euch nur, ich tue das ja auch!!

God Gave Rock'n'Roll To You (II)

Im ersten Teil dieser kleinen Serie war u.a. von der erstaunlichen, wenn auch nicht lange vorhaltenden Bekehrung des Rock'n'Roll-Pioniers Little Richard die Rede. So skurril diese Episode anmutet, so wenig ist es doch ein Einzelfall, dass populäre Rock- und Popmusiker zu irgendeinem Zeitpunkt ihrer Karriere eine überraschende und vehemente Hinwendung zum Glauben vollziehen - und dann entweder dem Showbusiness den Rücken kehren oder aber ihr Talent und ihre Popularität ganz oder teilweise in den Dienst der Verkündigung stellen. Ein aus der Frühzeit des Rock'n'Roll stammendes Beispiel für letzteres Vorgehen ist jenes von Cliff Richard, der - bürgerlich Harry Rodger Webb - seinen Künstlernamen tatsächlich in Anlehnung an den vorgenannten Little Richard wählte. Nachdem er bereits mit 19 Jahren seine beiden ersten Nummer-1-Hits in Großbritannien gelandet hatte, stieß er im Alter von 23 Jahren beim Blättern in der Bibel auf die Stelle: "Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an. Wenn jemand meine Stimme hören wird und die Tür auftun, zu dem werde ich hineingehen und und das Abendmahl mit ihm halten" (Offb 3,20). Über den Eindruck, den dieser Vers auf ihn machte, berichtet er:
"In diesem Augenblick schlug wohl Gottes Stunde für mich [...]. Ich lag in meinem Bett und stammelte ein Gebet, das sich ungefähr so anhörte: 'Jesus, ich spüre, dass du anklopfst. Komm bitte herein und nimm mich an.' Es war ganz einfach. Da fiel kein Blitz vom Himmel. Ich hörte auch keine himmlischen Stimmen. Ich meinte es aber ernst und war bereit, die Folgen auf mich zu nehmen. Ich ließ Jesus in mein Leben eintreten. Wie bei einer Hochzeitzeremonie habe ich Jesus mein Ja gegeben. Das war mein Wendepunkt."
Damit nicht genug. Der ehemalige Bandleader von Grand Funk Railroad, Mark Farner, hatte Ende der 70er Jahre ein Bekehrungserlebnis, über das er sich auf seiner offiziellen Homepage zwar ausschweigt, das ihn aber immerhin veranlasste, zwischen 1983 und 1994 vier Christian Rock-Alben aufzunehmen; ähnlich erging es Philip Bailey von Earth, Wind & Fire, der sich ab Mitte der 80er Jahre vorübergehend der Gospelmusik zuwandte, und dem exzellenten Percussionisten Alex Acuña (ehemals Weather Report), der Anfang der 80er Jahre die christliche Jazzband Koinonia mitbegründete und zudem an diversen Produktionen christlicher (lies: evangelikaler) Musiklabels als Gastmusiker und/oder Coproduzent beteiligt war. Ein nahezu apostolisches Bekehrungserlebnis hatte "Righteous Brother" Bill Medley: Saulus von Tarsus verlor sein Augenlicht, Schmusesänger Medley die Stimme. Als er sie zurückerhielt, beschloss er, fortan zur Ehre Gottes zu singen. Das hat mir zumindest mal jemand erzählt; eine Bestätigung dafür habe ich in den Weiten des Internets nicht finden können. Nicht auszuschließen ist somit, dass es sich um eine Verwechslung handelt, gab es doch auch einen Reverend William L. "Bill" Medley, seines Zeichens Pfarrer der evangelikalen "Kirche des Nazareners" - und, wie ein Nachruf auf ihn verrät, ebenfalls ein mehr als passabler Sänger. - Keine Verwechslung liegt hingegen bei Reverend Al Green vor, auch wenn man das annehmen könnte: Wie viele Pfarrer kennt man schon, die früher mal Funk&Soul-Superstars waren und auf den Coverfotos ihrer Platten mit nacktem Oberkörper und Goldkettchen posierten? - Aber tatsächlich: Ebenselbiger Al Green, dem wir unsterbliche Songs wie Tired Of Being Alone, Let's Stay Together (beide 1971) Take Me To The River (1974) und Love And Happiness (1977) verdanken, ist seit 1976 ordentlicher Pfarrer einer Kirche mit dem schönen Namen Full Gospel Tabernacle in Memphis/Tennessee. Um ein spektakuläres Bekehrungserlebnis ist auch er nicht verlegen: 1974 übergoss ihn seine damalige Freundin, während er in der Badewanne saß, mit kochend heißer Grütze, wodurch er schwere Verbrennungen am Oberkörper erlitt, und erschoss sich anschließend mit seiner Waffe. Für ihn ein klares Signal, dass er sein Leben ändern müsse.

Nicht unerwähnt bleiben sollte freilich, dass auch andere Religionen ihre Konvertiten aus dem Bereich des Showbusiness vorzuweisen haben. Während in den späten 60ern die Beatles und andere ihr Heil (zumindest vorübergehend) in der Transzendentalen Meditation suchten und der Gruppe Fleetwood Mac um 1970 permanent die Gitarristen ausgingen, weil einer nach dem anderen in obskure Sekten eintrat oder Einsiedler wurde, traten schwarze Jazzmusiker reihenweise zum Islam über (so z.B. Ahmad Jamal bereits ca. 1952, Abdullah Ibrahim 1968 und Idris Muhammad irgendwann dazwischen); Leonard Cohen trat Mitte der 90er in ein buddhistisches Kloster ein; und von Scientology wollen wir in diesem Zusammenhang mal gar nicht erst anfangen zu reden. Und dann gibt es natürlich auch noch diejenigen, die sich irgendwann selbst für Jesus hielten - was, wie ich mal irgendwo gehört oder gelesen habe, bei einem Ex-Mitglied der Animals und dem früheren Roadmanager der Beatles, Mal Evans, der Fall gewesen sein soll; und à propos Beatles: John Lennon selbst hat, wie man in Ray Colemans Biographie über ihn (die ich gerade nicht zur Hand habe, um daraus zu zitieren) nachlesen kann, in seinen späteren Jahren ebenfalls eine erstaunliche Wendung von "Die Beatles sind populärer als Jesus" hin zu "Ich bin (wie) Jesus" vollzogen. Nicht ganz eindeutig ist der Befund bei Bono von U2.

Auffällig ist es so oder so, dass Rock- und Popmusiker eine überdurchschnittliche Neigung zu religiösen Erweckungserlebnissen zu haben. Wäre es allzu gewagt, die Hypothese aufzustellen, dass daran gerade das - wie in Teil I dieser Serie recht breit ausgeführt - von Kritikern skeptisch beäugte ekstatische Potential dieser Musik, gegebenenfalls verstärkt durch Drogenkonsum, Schlafentzug usw., einen gewissen Anteil haben könnte? Positiv formuliert könnte man argumentieren, dass diese Faktoren zu einer gewissen Offenheit bzw Empfänglichkeit für über- bzw. außersinnliche Realitäten beitragen mögen. Dass dergleichen aber auch mit erheblicher Vorsicht zu genießen ist, liegt auf der Hand - und zeigt sich ja auch überdeutlich an der häufig sehr skurrilen Ausprägung und ebenso häufig sehr begrenzten Dauer dieser Bekehrungen. Als einen besonders bizarren Fall möchte ich Sinéad O'Connor hervorheben, die in den späten 90er Jahren der Irish Orthodox Catholic and Apostolic Church beitrat, einer obskuren schismatischen Gruppierung, über die sonst nicht viel zu erfahren ist. In der schon anlässlich Little Richards Sputnik-Erlebnis zitierten SZ-Magazinbeilage "Die besten Anekdoten aus 50 Jahren Popgeschichte" stand zum Jahr 1999 zu lesen, die zeitweilig in einem kirchlichen Internat erzogene O'Connor sei im besagten Jahr von einem "Bischof" dieser Splittergruppe, Michael Cox, zur "Priesterin" geweiht worden - und zwar in Lourdes!  Cox, ein ehemaliger Hafenpolizist [!], habe sich davon versprochen, mehr Jugendliche für seine Kirche gewinnen zu können - ein interessanter Ansatz, nicht nur deshalb, weil der Karrierehöhepunkt der Sängerin zu diesem Zeitpunkt schon deutlich überschritten war. Cox' Plan ging allerdings auch aus anderen Gründen nicht auf: Schon drei Monate nach ihrer "Weihe" beklagte sich Sinéad O'Connor alias "Mother Mary Bernadette", die an der echten Katholischen Kirche schon zuvor kein gutes Haar gelassen hatte (so hatte sie 1992 bei einem Live-Fernsehauftritt demonstrativ ein Bild Papst Johannes Pauls II. zerrissen), über ihre neue Konfession: Sie äußerte sich unzufrieden mit dem Zölibat, der Ablehnung von Astrologie durch die Kirche sowie den Umstand, dass die Kirche "ihre Fähigkeit, Kontakt mit den Toten aufzunehmen", nicht anerkenne. - Ach so? Sinéad O'Connor kann mit den Toten kommunizieren? Interessant, aber ehe sie sich darüber beklagt, dass die Kirche - und sei es eine noch so obskure Spilttergruppe - das nicht so toll findet wie sie selbst, sollte sie vielleicht mal die Geschichte der Hexe von Endor (1 Sam 28) nachlesen...

Nebenbei bemerkt: Sinéad O'Connors größter Hit, die Edelschnulze Nothing Compares 2 U, wurde von keinem Geringeren als Prince (alias Prince Rogers Nelson) komponiert; dieser ist bzw. war von Haus aus eigentlich Siebenten-Tages-Adventist, trat jedoch 2001 zu den Zeugen Jehovas über - warum? Etwa, weil er, bedingt durch seine Tätigkeit im Showbusiness, des Öfteren samstags arbeiten muss? Wie dem auch sei, Prince nahm seine Konversion offenbar ausgesprochen ernst; wie die besagte SZ-Magazinbeilage zu berichten wusste, beteiligte er sich anno 2003 sogar an der Zeugen-Jehovas-typischen Haustürmission. Allerdings wohl ohne nachhaltigen Erfolg. Kein Wunder im Grunde: Man stelle sich vor, es klingelt an der Tür, und draußen steht Prince -- und sagt "Guten Tag, ich möchte mit Ihnen über Gott sprechen...."!