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Mittwoch, 27. Juni 2012

Frohe Ostern, Deutschland! - Teil 3: Der Papst und die Piraten, Forts.

In Deutschland gibt es neun bundeseinheitliche gesetzliche Feiertage, von denen ganze sechs gleichzeitig kirchliche Feiertage sind. Hinzu kommen fünf weitere kirchliche (davon vier katholische) Feiertage, die in einzelnen Bundesländern oder Kommunen gesetzliche Feiertage sind; und, um die Materie noch komplizierter zu machen, noch einige Tage, die zwar keine gesetzlichen Feiertage sind (z.T. deshalb, weil sie ohnehin auf einen Sonntag fallen), für die aber dennoch gewisse Regelungen der Feiertagsgesetze gelten. Dies betrifft in besonderem Maße die so genannten "Stillen Tage", zu denen neben Karfreitag und Allerheiligen u.a. der Aschermittwoch, der Buß- und Bettag, der Volkstrauertag und der Totensonntag gehören.

Kirchliche Feiertage, die zugleich gesetzliche Feiertage sind, stellen in einer religiös pluralen Gesellschaft allerdings ein Kuriosum dar. Für einen Teil der Bevölkerung haben diese Tage eine religiöse Bedeutung, für einen anderen Teil sind es schlicht arbeitsfreie Tage. Feiertage, an denen es gar nichts zu feiern gibt, werden aber offenbar weithin als unbefriedigend empfunden; so hat sich an einigen christlichen Feiertagen ein gewissermaßen 'weltanschaulich neutrales' Brauchtum etabliert, das mit dem religiösen Gehalt des jeweiligen Fests wenig oder nichts zu tun hat. Das gilt für Weihnachten und Ostern, nicht zuletzt aber auch für Christi Himmelfahrt, einen Feiertag, der speziell im Osten Deutschlands als "Herren-" oder "Männertag" zum Anlass für ausgedehnte Sauftouren genommen wird. Daran scheint kaum jemand Anstoß zu nehmen; problematisch wäre dergleichen hingegen an den oben erwähnten "Stillen Tagen", denn für diese gelten - von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich streng gehandhabte - Verbote von öffentlichen Veranstaltungen, die dem Charakter des jeweiligen Feiertags widersprechen. Da mit Ausnahme des Volkstrauertags alle diese Tage genuin christliche Feste sind, mutet diese gesetzliche Regelung es den Nichtchristen zu, einer Religion, der sie nicht angehören, der sie aber immerhin einen arbeitsfreien Tag verdanken, an ebendiesem Tag ein Mindestmaß an Respekt entgegenzubringen. Man könnte finden, das sei nicht zu viel verlangt. Ist es aber anscheinend doch.

Jedenfalls brechen nahezu alljährlich ausgerechnet angesichts eines für Christen ausgesprochen zentralen Feiertags - des Karfreitags - erhitzte Debatten über eine Besonderheit der deutschen Feiertagsgesetze aus: Am Karfreitag herrscht Tanzverbot. - Dieser Begriff ist allerdings nicht so zu verstehen, dass jeder, der am Karfreitag dabei erwischt wird, wie er seine Gliedmaßen rhythmisch zu Musik bewegt, mit Strafe zu rechnen hätte. Tatsächlich geht es beim "Tanzverbot" nur darum, dass öffentliche Tanzveranstaltungen am Karfreitag nicht genehmigt werden. Wie konsequent dieses Gesetz in der Praxis angewandt wird, ist, wie gesagt, von Bundesland zu Bundesland verschieden.

Nichtsdestoweniger erscheint dieses Tanzverbot - im Kontext einer weitgehend säkularisierten Gesellschaft, in der der religiöse Gehalt von Feiertagen kaum mehr öffentlich präsent ist - vielen als skurril und anachronistisch. Wem aber jedweder gesellschaftspolitische Einfluss von Religionsgemeinschaften, oder überhaupt die Präsenz von Religion im öffentlichen Raum, prinzipiell ein Dorn im Auge ist, für den ist das Karfreitags-Tanzverbot ein handfestes Ärgernis. So sind denn diejenigen, die sich alljährlich über das Tanzverbot empören, in der Hauptsache nicht leidenschaftliche Tänzer (oder Betreiber von Tanzlokalen), sondern leidenschaftliche Atheisten bzw. Kirchengegner. Also beispielsweise solche Gruppierungen, die gern am Gründonnerstag unter dem Motto "Austritt zum Hasenfest" zu "Kirchenaustrittspartys" einladen - und damit die befremdliche Auffassung zum Ausdruck bringen, der Umstand, dass ca. 60% der Bundesbürger einer christlichen Kirche angehören, könne ja nur auf einem Irrtum bzw. Versehen beruhen und man müsse die Betroffenen einfach mal auf die Möglichkeit des Austritts hinweisen.

In diesem Jahr nun war auch die Piratenpartei, allen voran ihr hessischer Landesverband, bei den Protesten gegen das Karfreitags-Tanzverbot ganz vorn mit dabei. Die hessischen Piraten organisierten nicht nur "Tanzdemonstrationen" gegen das Tanzverbot in Frankfurt am Main und Gießen, sondern zogen sogar vor das Bundesverfassungsgericht - mit der bemerkenswerten Argumentation, das Tanzverbot verstoße gegen das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG). Dass der zweite Absatz des betreffenden Grundgesetzartikels ausdrücklich die Möglichkeit der Einschränkung der Versammlungsfreiheit durch Gesetze - warum also nicht z.B. durch das Feiertagsgesetz? - festschreibt, ist nur einer von mehreren Gründen, die diese Verfassungsbeschwerde von vornherein wenig aussichtsreich erscheinen liéßen - aber es kam noch peinlicher: Das Bundesverfassungsgericht wies den Eilantrag der Piraten aus rein formalen Gründen zurück, da es schlicht nicht zuständig war - die Antragsteller "hätten zunächst den hessischen Verwaltungsgerichtshof (VGH) anrufen müssen". Man fragt sich, ob es in den Reihen der hessischen Piraten nicht den einen oder anderen aufmerksamen Jurastudenten gibt, der mit ein bisschen Kenntnis der Gerichtsinstanzen diese Blamage hätte abwenden können.

Besonders bemerkenswert an dieser für die Piraten letztlich wenig rühmlich verlaufenen Episode erscheint mir, was das Piraten-Nachrichtenmagazin "Flaschenpost" zur Begründung des Protests gegen das Karfreitags-Tanzverbot schrieb. Der Artikel "Tanz(demo)verbot – stille Tage in Hessen" bemühte sich augenscheinlich darum, dem Eindruck einer prinzipiell antireligiösen Ausrichtung der Piratenpartei entgegenzuwirken; so wurde betont,  "jeder gläubige Mensch" müsse "in der Ausübung seiner Religion ebenso frei sein [...] wie der Nichtgläubige bei seiner ureigenen Lebensgestaltung", und sogar behauptet, dass "die Piraten wie eine Mauer auch hinter ihren christlichen Parteifreunden stehen würden". Was von dieser Behauptung in der Praxis zu halten ist, wurde kurz darauf anhand von parteiinternen Querelen anlässlich des NRW-Landtagswahlkampfs exemplarisch deutlich.

Stein des Anstoßes war der Umstand, dass ein bekennender Christ aus den Reihen der Piraten sowohl die Kandidatur um ein Direktmandat als auch einen Platz auf der Landesliste der Partei anstrebte: Rainer Klute, aktives Mitglied der Freien evangelischen Gemeinde Dortmund und von Juli 2009 bis März 2010 sogar mal Pressesprecher des NRW-Landesverbands der Piraten. Seitdem hat die Partei sich aber offenkundig erheblich radikalisiert. Klutes Kandidatur veranlasste das Magazin "queer" zu einem Porträt des Dortmunders, in dem er aufgrund seiner christlich geprägten Positionen schon in der Überschrift als "homophober Kreationist" betitelt wurde. Die Reaktionen, die dieser Artikel innerhalb der Piratenpartei auslösten, können in den Kommentaren zu Rainer Klutes Blog nachgelesen werden. So schrieb etwa ein Diskussionsteilnehmer" namens "Desperadox": "Das Mittelalter ist vorbei und wer einen imaginären Freund braucht, soll erstmal seine eigenen psychischen Probleme bewältigen und sich aus der realen Politik heraushalten. Du glaubst doch selber, das beten viel mehr bewirkt-also bleib zuhause und bete".

Obwohl Klute in seiner eigenen Partei auch aus anderen Gründen – etwa wegen seiner Haltung zum Atomausstieg – umstritten ist, machen solche Äußerungen unmissverständlich deutlich, dass es hier letztlich nicht um seine Person ging, sondern darum, dass für viele Piraten ein gläubiger Christ, dessen religiöse Überzeugung notwendigerweise auch seine politischen Positionen beeinflusst, als Repräsentant bzw. Mandatsträger ihrer Partei einfach nicht hinnehmbar ist. Dieselbe Einstellung spricht auch aus den Reaktionen auf die Gründung eines Arbeitskreises "Christen in der Piratenpartei": "Religion egal welche hat in Parteien / Staat nichts zu suchen!", wurde den Gründern dieses Arbeitskreises von Parteifreunden vorgehalten; "Religion hat Privatsache zu bleiben"; "Politische Entscheidungen müssen auf rationaler Basis getroffen werden. Esoterik und Religion sind hier fehl am Platz (-> Privatsache)"; "Eine klare und strikte Trennung von Staat und Religion, ganz gleich welche, ist für mich unabdingbarer für eine demokratische Politik".

Vor diesem Hintergrund erscheint es ja schon fast verwunderlich, dass es überhaupt Christen in der Piratenpartei gibt; weniger verwunderlich allerdings, dass diese sich veranlasst fühlen, einen eigenen Arbeitskreis zu bilden. Aber solche Arbeitskreise hat ja wohl ohnehin so ziemlich jede Partei. (Gibt es eigentlich auch den Arbeitskreis "Christen in der CDU"? Falls nein, wäre es wohl höchste Zeit, einen solchen zu gründen…!) Die eindeutig als direkte Reaktion auf den Auftritt der CIDPP erkennbare Gründung eines Arbeitskreises "Atheisten in der Piratenpartei" ließ nicht lange auf sich warten; als ein anderer christlicher Pirat, Joachim S. Müller, sich auf Twitter über die "Antichristen in der Piratenpartei" lustig machte und es im besten Piratenjargon als "ignorante Kackscheiße" bezeichnete, zu "glauben, es sei keine Diskriminierung, andere aufzufordern, ihre Weltanschauung für sich zu behalten", wurde auch er von seinen Parteifreunden scharf angegriffen.

Trotz solcher heftigen innerparteilichen Debatten scheint es auf der Hand zu liegen, dass das kleine Häuflein christlicher Piraten auf den Kurs ihrer Partei keinen nennenswerten Einfluss hat. Im schleswig-holsteinischen Landtagswahlkampf machte die Piratenpartei sich – übrigens gemeinsam mit Grünen und Linken – sogar für die Abschaffung des Religionsunterrichts an staatlichen Schulen stark. Überraschend ist das natürlich nicht; schon nach dem Scheitern des Berliner ProReli-Volksbegehrens von 2009 war es abzusehen, dass kämpferische Atheisten nun versuchen würden, den Religionsunterricht auch in anderen Bundesländern zu kippen. Nur dass eben in anderen Bundesländern der Religionsunterricht durch Staatskirchenverträge geschützt ist, die sich nicht ohne Weiteres einseitig aufkündigen lassen; und mehr noch: Der Religionsunterricht ist sogar als einziges (!) ordentliches Lehrfach durch das Grundgesetz (Art. 7, Abs. 3) abgesichert!

Ähnlich wie im Falle des Karfreitags-Tanzverbots gibt es also auch hier gute Gründe für die Annahme, dass die Piraten mit ihren antireligiösen Rüpeleien nicht viel erreichen werden. Ist das demnach alles nur Populismus, und hat Horst Seehofer Recht, wenn er meint, den Papst über die wachsende Popularität der Piraten "beruhigen" zu können? -- Auf längere Sicht mögen da durchaus Zweifel angebracht sein. Nicht zuletzt auch deshalb, weil die Popularität der Piraten stellenweise schon ins Innere der katholischen Kirche selbst hineinzuragen scheint. Während des 2. Bistumsforums "Zukunft auf katholisch", das das Bistum Essen am 05.05. 2012 in Gladbeck abhielt, tauchte etwa die inhaltlich ebenso unscharfe wie in der Formulierung offenkundig Piraten-affine Forderung auf, "Kirche" müsse "auch ein Stück enterbar sein"; und der Theologe Friedhelm Hengsbach SJ forderte in einem Interview mit der ZEIT anlässlich des Katholikentags in Mannheim gar: "Wir brauchen Kirchen-Piraten" - was Twitter-Nutzer Generalvikar Michael Fuchs (@MichaelFuchsR) zu der wohlgezielten Erwiderung veranlasste: "Aha, künftig dürfen alle gleich mitbestimmen und keiner weiß was."

Angesichts dieser Entwicklungen wird nun Mancher vielleicht achselzuckend sagen : "Ach, was soll's, mit den Grünen sind wir schließlich auch fertig geworden." Nichtsdestoweniger scheint der Aufstieg der Piratenpartei mir derzeit die größte Herausforderung für die Kirche in der deutschen Gesellschaft und Politik zu sein. Andererseits: Wenn man sich ihnen stellt, sind Herausforderungen etwas Gutes...!

(Die Reihe "Frohe Ostern, Deutschland" wird demnächst fortgesetzt mit einer Betrachtung über die Heilig-Rock-Wallfahrt in Trier. Aber erneut gilt: Eventuell folgen in diesem Blog erst mal ein paar Beiträge zu anderen Themen!)


Mittwoch, 20. Juni 2012

…und füttere sie niemals nach Mitternacht!

Die Fanny-Hensel-Grundschule in Berlin-Kreuzberg stellt in den zur Straße gerichteten Fenstern des Schulgebäudes gern Arbeiten aus dem Kunstunterricht aus. Als ich neulich dort vorbeikam, gab es eine Ausstellung zum Thema „Mein Lieblingsessen“ zu bewundern, gestaltet von Schülern der 6. Klasse. Fast alle Bilder zeigten Hamburger und Fritten, auf einigen war sogar das McDonald's-Logo zu sehen. Das gab mir zu denken.





Dass ich in meiner Kindheit nur äußerst selten bei McDonald's gegessen habe, lag vielleicht zum Teil daran, dass es in meiner heimatlichen Kleinstadt keine Filiale dieser Burgerbraterei gab – mittlerweile gibt es eine, die sogar an der Endhaltestelle einer innerstädtischen Buslinie liegt, sodass tagtäglich Busse der öffentlichen Verkehrsbetriebe mit der Fahrtrichtungsanzeige „McDonald's“ durch die Stadt fahren; ich frage mich, was der Konzern sich diese außergewöhnliche Werbemaßnahme hat kosten lassen –, aber zum größeren Teil lag es wohl eher daran, dass meine Eltern Wert darauf legten, dass ihre Kinder sich vernünftig ernährten. Wenn ich mich recht erinnere, war der erste Anlass, zu dem ich bei McDonald's aß, der Geburtstag eines Klassenkameraden.



Es mag durchaus sein, dass auch schon „zu meiner Zeit“ Hamburger und Fritten das Lieblingsessen vieler Sechstklässler waren. Aber wir hätten uns gehütet, dies im Rahmen einer Schularbeit, sei sie nun schriftlicher oder gestalterischer Art, offen zuzugeben. Und hätte doch jemand, sei es aus purer Blödheit oder aus rebellischer Einstellung heraus, ein solches Bild abgeliefert, wäre das mit Sicherheit nicht auch noch ausgestellt worden. Vielmehr hätten die Lehrer ein ernstes Wort mit den Eltern geredet.

Ich kann mir schon vorstellen, was die Pädagogen der Fanny-Hensel-Grundschule zu ihrer Verteidigung vorbringen würden, wenn man sie darauf anspräche. Sie würden sagen,man müsse die Kinder erst einmal so akzeptieren, wie sie sind (oder, auch eine beliebte Formulierung, "da abholen, wo sie stehen"); obendrein würde man, wenn man die Kinder zu Müsli, Joghurt und Vollkornbrot zwingen wollte, ja doch nur Widerstand erzeugen, und die Kinder würden sich, sobald sie nicht unter Aufsicht stehen, nur umso gieriger auf Junkfood stürzen. Ebenso wie ja auch argumentiert wird, Jugendliche in den USA, die unter dem Einfluss ihrer Eltern ein Keuschheitsgelübde ablegen, würden später nur umso wilder durch die Weltgeschichte vögeln. Da mag was dran sein. Bei mir zu Hause gab es früher nur zweimal im Jahr - nämlich jeweils am Tag der Schulzeugnisse - Cola; später habe ich dann gern literweise Cola in mich hineingekippt und tue das manchmal immer noch. Dennoch glaube ich, es war gut, dass meine Eltern mich als Kind konsequent  vor permanenter Überzuckerung geschützt haben. Ich verstehe nicht allzu viel von solchen Dingen, denke aber, es liegt auf der Hand, dass falsche Ernährung bei Kindern nicht nur zu Übergewicht und Diabetes führen kann, sondern auch zu Hyperaktivität, Aggressivität und vorzeitigen Pubertätssymptomen (wie es mal bei Calvin & Hobbes hieß: "Leg dich nie mit einem Sechsjährigen an, der sich rasiert"...).


Aber gehen wir noch mal einen argumentativen Schritt zurück: Dass Verbote und Restriktionen auch Begehrlichkeiten wecken und somit Anreize schaffen können, wissen wir alle aus eigener Erfahrung. Aber kann das wirklich ein Argument dafür sein, den Kindern in allem ihren Willen zu lassen? Vermutlich haben viele heutige Pädagogen ihre fachliche Ausbildung von alten 68er-Veteranen erhalten und liebäugeln womöglich deshalb mit den Prinzipien der antiautoritären Erziehung; von dieser kann man halten, was man will, aber betont werden sollte doch, dass auch antiatoritäre Erziehung eben Erziehung ist oder sein sollte. Um noch einmal auf eine oben zitierte Formulierung zurückzukommen: Die Kinder "dort abzuholen, wo sie stehen", heißt nicht, sie dort stehen zu lassen. Genau das scheint mir aber vielfach der Fall zu sein, und ich bin alles andere als überzeugt, dass dies aus dem Glauben an die antiautoritäre Erziehung heraus geschieht; vielmehr habe ich den Eindruck, dass viele Lehrer und Erzieher einfach aufgegeben haben und schon froh sind, wenn die Kinder "nur" faul, lernunwillig, aufsässig und unverschämt werden und nicht gleich gewalttätig und kriminell. In Neukölln, im Wedding und im Märkischen Viertel gibt es Schulklassen, in denen annähernd alle Schüler polizeilich aktenkundig sind. Dass Lehrer Angst davor haben, solche Klassen zu unterrichten, kann man verstehen. Aber irgend jemand muss es schließlich tun.


An alledem ist natürlich nicht McDonald's schuld, nicht unmittelbar jedenfalls. Die Vorstellung, Kinder würden sich, kaum dass sie in ihr erstes HappyMeal beißen, von putzigen kulleräugigen Mogwais in eklig-schleimige, zerstörungswütige Gremlins verwandeln, ist in ihrer Einfachheit verführerisch, aber wohl nicht der Weisheit letzter Schluss. Das eigentliche Problem liegt offenbar auf einer anderen Ebene: Eine Gesellschaft, die es widerspruchslos hinnimmt, dass ihre Kinder fettiges Junkfood für gutes Essen halten, ist offenkundig auch in anderer Hinsicht unfähig oder nicht einmal willens, ihren Kindern Maßstäbe zu vermitteln. Das erwarten Kinder aber letztendlich von Erwachsenen, auch wenn man es ihnen nicht unbedingt immer anmerkt; und sie erwarten es zu Recht. Um festzustellen, dass dies in Teilen unserer Gesellschaft offenbar nicht mehr geleistet wird - was im Übrigen darauf schließen lässt, dass bereits der Elterngeneration die moralische Orientierung gründlich verloren gegangen ist -, muss man nicht eigens auf Sozialvoyeurismus spezialisierte Reality-TV-Formate wie "Mitten im Leben" oder "We Are Family" einschalten; es genügt schon, einen Arbeitsplatz in der Nähe einer Kreuzberger Schule zu haben.

Mittwoch, 13. Juni 2012

Frohe Ostern, Deutschland! - Teil 2: Der Papst und die Piraten

Papst Benedikt XVI. hatte kürzlich ein doppeltes Jubiläum zu begehen: Am 16. April wurde er 85 Jahre alt, drei Tage später stand der 7. Jahrestag seiner Wahl zum Kirchenoberhaupt an. Zu den Gratulanten, die sich aus diesem Anlass in Rom einfanden, gehörte auch der CSU-Vorsitzende und bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer. Wie dieser anschließend verbreiten ließ, fragte der Papst ihn bei der Privataudienz auch nach der Piratenpartei: "Was ist da los mit den Piraten? Gibt es die bei euch in Bayern auch?" - Seehofer gab zu Protokoll, er habe dem Heiligen Vater "insgesamt Beruhigendes erzählen können" - was freilich impliziert, dass die Frage des Papstes zunächst einmal Beunruhigung erkennen ließ. Überraschend ist das, wenn man mal drüber nachdenkt, nicht.

Dass der Papst und die Piraten keine besonders guten Freunde werden würden, zeigte sich schon früh. Als Benedikt XVI. letztes Jahr Berlin besuchte, war die Piratenpartei dort gerade ins Abgeordnetenhaus gewählt worden - ihr erster Einzug in ein deutsches Länderparlament. Und auch wenn das Berliner Abgeordnetenhaus noch lange nicht der Bundestag ist, nutzten die Piraten die ihnen zu Teil werdende mediale Aufmerksamkeit gleich dazu, dagegen zu protestieren, dass der Papst im Bundestag eine Rede halten durfte.

Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich den Antiklerikalismus der Piraten - wie im Grunde die ganze Partei - nicht so richtig ernst genommen. Ich sagte mir, eine so junge politische Bewegung - "jung" sowohl bezogen auf die Dauer des Bestehens der Partei wie auf das Durchschnittsalter ihrer Mitglieder - könne programmatisch noch gar nicht wirklich gefestigt sein; ich nahm die Piraten wahr als eine Ansammlung überwiegend recht sympathischer junger Leute, die - was erst mal lobenswert ist - "Politik selber machen" wollen, anstatt sie den Altvorderen zu überlassen; die aber noch nicht so genau wissen, wie das geht, und deshalb erst mal rumprobieren. Die im Berliner Wahlkampf vertretene Forderung nach konsequenter Trennung von Politik und Religion hielt ich für gedankenlose Nachplapperei angestaubter Kulturkampf-Thesen, die man den Piraten schon noch würde ausreden können - von dieser Auffassung war auch mein "Piratenbrief" an das Abgeordnetenhaus-Mitglied Pavel Meyer geprägt. Allerdings zeigte sich bald, dass der Antiklerikalismus in der Piratenpartei so tief verwurzelt ist wie sonst allenfalls noch in Teilen der Linken und beim vom Aussterben bedrohten Fundi-Flügel der Grünen.

Inzwischen kann man immerhin konstatieren, dass dieser Antiklerikalismus nicht etwa nur eine ideologische Marotte ist; vielmehr beruht die entschiedene Gegnerschaft zwischen den Piraten und den Kirchen, insbesondere der katholischen, auf einer objektiven Unvereinbarkeit der Standpunkte. Ohne hier den philosophischen Grundlagen der piratigen Weltanschauung allzu tief auf den Grund gehen zu wollen - das vielleicht später mal -, kann man doch zumindest sagen, dass da ein radikaler Individualismus im Zentrum steht - die Auffassung, die Gesellschaft sei für den Einzelnen da, nicht der Einzelne für die Gesellschaft. Deshalb ist es m.E. auch falsch, die Piratenpartei als "links" einzuordnen; einige Punkte ihres Programms (das sie angeblich gar nicht haben - ein Vorurteil, das sich, all evidence to the contrary, hartnäckig hält) mögen auf den ersten Blick "links" aussehen (bedingungsloses Grundeinkommen, fahrscheinloser Nahverkehr...), aber die Geisteshaltung, die dahinter steht, hat mit Sozialismus nichts zu tun - im Gegenteil. - Aus demselben Grund, dies nur der Vollständigkeit halber, sind die Piraten aber auch nicht "rechts", wie ihnen im Zuge der jüngsten Landtagswahlkämpfen aufgrund teils dümmlicher, teils bewusst provokanter Äußerungen einzelner Parteivertreter zuweilen unterstellt wurde. Rechte und linke Ideologien haben das eine gemeinsam, dass sie die Interessen der Gesellschaft über die des Einzelnen stellen; die Piraten tun, wie gesagt, das Gegenteil, und deshalb entziehen sie sich dem gängigen Rechts-Links-Schema prinzipiell.

Konfliktpotential zwischen der Piratenpartei und den Kirchen ergibt sich besonders auf dem Gebiert der Familienpolitik - oder, wie sie im Piratenprogramm heißt, "Queer- und Familienpolitik". Während die christlichen Kirchen eine tiefe Wahrheit darin erblicken, dass Gott den Menschen als Mann und Frau schuf, bekennen die Piraten sich zu der merkwürdigen Kulturwissenschaftler-Kopfgeburt, geschlechtliche Identitäten seien lediglich ein gesellschaftlich vermitteltes Konstrukt. Mit dieser "postgender"-Auffassung begründen die Piraten, nebenbei bemerkt, auch ihre Ablehnung der Frauenquote, was nun schon fast wieder diskutabel wäre; jedenfalls haben die Piraten mich mit ihrem "postgender"-Gequese erstmals auf den Gedanken gebracht, gerade das Leugnen bzw. Ignorieren der Unterschiede zwischen Mann und Frau sei sexistisch; und diese Erkenntnis ist ja auch schon was wert.

Klar ist: Wenn geschlechtliche Identitäten nicht vorgegeben und fixiert sind, dann kann sich jeder Einzelne seine eigene geschlechtliche Identität schaffen bzw. gestalten - o schöne neue Piratenwelt! Von daher erklärt sich auch die Formulierung "Queer- und Familienpolitik" im Programm der Piraten. Die Reihenfolge der Begriffe drückt eine Rangfolge aus, den Piraten ist es mehr um die queers, die von der sozialen Norm geschlechtlicher Identität Abweichenden, als um die Familien zu tun, zumal Familie vielen Piraten ohnehin als antiquierte Lebensform gilt.

Wie weit die Forderung der Piraten nach geschlechtlicher Selbstbestimmung geht, zeigte sich jüngst anlässlich der Debatte um das Inzestverbot. Die immer mal wieder durch die öffentlichen Debatten geisternde Frage, ob der deutsche Strafrechtsparagraph 173, der Beischlaf unter Verwandten unter Strafe stellt, nicht abgeschafft gehöre, wurde durch ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 12.04.2012, das den Paragraphen als menschenrechtskonform beurteilte, nicht etwa beschwichtigt, sondern nur umso mehr angeheizt. Nachdem Grünen-Politiker wie Jerzy Montag und Hans-Christian Ströbele sowie insbesondere die Grüne Jugend das Inzestverbot schon seit Langem als Anachronismus und unzumutbaren Eingriff in das Recht des Menschen auf sexuelle Selbstbestimmung anprangerten, mochten sich nun auch die Piraten nicht mehr lumpen lassen und stiegen mit einer Vehemenz in die Debatte ein, die sich am besten mit einer über Twitter verbreiteten Anekdote illustrieren lässt:

"Politikstunde. 'Wofür steht denn die Piratenpartei?' (Schülerin googelt mit Smartphone) 'Die Piraten sind vor allem gegen das Inzestverbot.'" (@Darth_Lehrer via Twitter am 20.05.12)

So erklärte Piraten-Pressesprecherin Anita Möllering: "Mit der strafrechtlichen Verfolgung des einvernehmlichen Geschlechtsverkehrs zweier erwachsener Menschen wird ganz grundlegend in das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit eingegriffen. Wir lehnen solche Eingriffe als Partei ab." Die Piraten beriefen sich dabei - durchaus stilecht - auf einen Blogbeitrag des Strafverteidigers Udo Vetter, der die gängigsten Argumente für das Inzestverbot in Frage stellt - etwa das "Argument, aus Verbindungen zwischen Geschwistern gingen vermehrt behinderte Kinder hervor. Das ist medizinisch wohl richtig. Allerdings ist das Risiko auch nicht dramatisch höher, als wenn Frauen über 40 schwanger werden. Oder wenn Behinderte miteinander Kinder zeugen." Darüber hinaus betonten die Piraten, die "Befürchtung, dass mit der Streichung des Paragraphen zum 'Beischlaf zwischen Verwandten' sexueller Missbrauch begünstigt wird",  sei "unbegründet": "Sexueller Missbrauch bleibt auch ohne § 173 strafbar."

Es fällt mir nicht ein zu leugnen, dass diese Einwände Vetters und der Piraten gegen den Versuch, das Inzestverbot rational zu begründen, absolut berechtigt sind. Es ist in der Tat wenig plausibel, zu unterstellen, eine Aufhebung des Inzestverbots würde den sexuellen Missbrauch in Familien fördern; und was den 'eugenischen' Aspekt des Themas angeht, so wäre es – und da würde nicht zuletzt die Kirche vehement zustimmen – nun wirklich haarsträubend, jedem, der aus welchen Gründen auch immer ein erhöhtes Risiko trägt, behinderte Kinder zu zeugen, kurzerhand die Fortpflanzung verbieten zu wollen.

Somit werfen die Piraten mit ihrer Kritik am Inzestverbot wieder einmal, ohne es selbst recht zu bemerken, eine interessante philosophische Grundsatzfrage auf: die Frage nach der rationalen Begründbarkeit ethischer Normen. Im Zeitalter der Aufklärung verfiel der Mensch auf die Idee, er müsse mittels seiner Vernunft in der Lage sein, selbst zu erkennen, was ethisch richtiges Verhalten sei. Dieser erkenntnistheoretische Optimismus, gepaart mit einer fatalen Verwechslung von Vernunft und Verstand, führte zum Utilitarismus à la Bentham, der die Nützlichkeit zum Maßstab der Ethik erhob, und von dort aus (so meine These) geradewegs in den Faschismus. (Zum Verhältnis zwischen utilitaristischer Ethik und Faschismus soll es angeblich wissenschaftliche Abhandlungen geben. Ich habe allerdings noch keine ausfindig machen können, lasse die These aber trotzdem mal ohne Erläuterung im Raum stehen.)

Aber bleiben wir beim Inzest: Offenkundig ist es schon aus historischer Sicht hanebüchen, das menschheitsgeschichtlich uralte Inzesttabu eugenisch begründen zu wollen – obwohl ich mir schon vorstellen kann, wie rationalistisch-materialistisch geschulte Religionshistoriker sich das zusammenreimen würden: Zwar wussten die Menschen vor Jahrtausenden noch nichts von Vererbungslehre, bemerkten aber, dass Ehen zwischen nahen Verwandten überdurchschnittlich viele missgestaltete Kinder hervorbrachten, deuteten dies als Strafe der Götter, und fertig war das Inzesttabu. Lustige Theorie, nur leider vollkommener Quatsch. Tatsächlich erstreckte sich das Inzesttabu in vielen alten Kulturen auch auf solche Mitglieder des Familienverbandes, die gar nicht blutsverwandt waren. Sicherlich kann man sagen, dass das Inzesttabu - indem es die Menschen dazu zwang, sich ihre Partner außerhalb der eigenen Familie zu suchen - eine beträchtliche gesellschaftsbildende Funktion hatte; aber darin den Sinn oder Zweck dieses Tabus zu sehen, wäre wohl ebenfalls nur eine nachträgliche Rationalisierung, die auch nicht plausibler ist als der eugenische Erklärungsansatz. Erheblich glaubwürdiger erscheint da die Annahme, für unsereAltvorderen sei es auch ohne nähere Begründung evident gewesen, dass Inzest, Sodomie etc. Frevel, miasma, Befleckung seien. -- Schauen wir uns einmal an, wie beispielsweise das Alte Testament das Inzestverbot begründet. In Lev 18,6 liest man: "Niemand von euch darf sich einer Blutsverwandten nähern, um ihre Scham zu entblößen. Ich bin der Herr." Das ist nicht nur keine Begründung, das klingt geradezu nach der Verweigerung einer Begründung: Wenn GOTT spricht, dann hat der Mensch ihm nicht mit naseweisen Nachfragen zu kommen. Für den modernen Menschen, der sich so viel auf sein bisschen Verstand einbildet, mag das schwer zu akzeptieren sein. Aber man sollte dabei nicht vergessen, dass beispielsweise das Verbot von Mord und Totschlag sich ebenfalls auf nicht viel mehr oder Anderes stützen kann als auf das Fünfte Gebot, "Du sollst nicht töten". Dieses Gebot rational begründen zu wollen, wäre offenkundig zynisch - und wenn dieser Versuch doch unternommen wird, führt er, wie die Geschichte der Menschheit lehrt, fast zwangsläufig zu dem Ergebnis, es sei unter bestimmten Umständen doch erlaubt, sinnvoll oder sogar notwendig, Menschen zu töten. Die in Artikel 1 unseres Grundgesetzes als "unantastbar" bezeichnete Würde des Menschen ist da auch keine große Hilfe, denn diese basiert ihrerseits auch wieder nur darauf, dass Gott den Menschen nach seinem Bilde geschaffen hat.

Aber ob man nun religiöse Begründungen für Strafgesetze zu akzeptieren bereit ist oder nicht: Die Vorstöße von Grünen und Piraten zur Legalisierung des Inzests scheinen in der Gesellschaft schwerlich mehrheitsfähig zu sein, und so verlief die Debatte innerhalb weniger Wochen mehr oder weniger im Sande, ohne dass die Kirche sich zu einer speziellen Stellungnahme genötigt gesehen hätte. Kurz darauf nutzten die Piraten - allen voran ihr hessischer Landesverband - ein alle Jahre wieder überraschend kontrovers diskutiertes Thema zu einem Frontalangriff auf den gesellschaftspolitischen Einfluss der christlichen Kirchen: das Tanzverbot am Karfreitag. Diesem Thema werde ich mich im 3. Teil von "Frohe Ostern, Deutschland!" widmen -- dazwischen aber wohl noch den einen oder anderen Beitrag zu anderen Themen einschieben müssen...











Samstag, 12. Mai 2012

Frohe Ostern, Deutschland! - Teil 1: Nimm und lies!

"Und ist es wirklich wahr, Sihdi, daß Du ein Giaur bleiben willst, ein Ungläubiger, welcher verächtlicher ist als ein Hund, widerlicher als eine Ratte, die nur Verfaultes frißt?"
"Ja."

Mit diesen unsterblichen Zeilen beginnt der Roman Durch die Wüste, der erste Band der Gesammelten Reiseerzählungen Karl Mays. Anlässlich des 100. Todestages des Autors am 30.03. habe ich diesen Klassiker der Reise- und Abenteuerliteratur kürzlich wieder einmal zur Hand genommen - und innerhalb weniger Tage verschlungen. Ich bekenne offen, ich wüsste kaum ein Buch, das mich von der ersten Seite an so sehr fesselt und begeistert wie Durch die Wüste.

Dass der Roman gleich mit einer Religionsdiskussion beginnt - Hadschi Halef Omar will seinen Herrn Kara Ben Nemsi partout zum Islam bekehren, nur in bester Absicht natürlich, nämlich um ihn vor dem Höllenfeuer zu bewahren -, ist durchaus bezeichnend: Diskussionen über das Verhältnis zwischen Christentum und Islam ziehen sich durch das ganze Buch und seine Folgebände. In diesem Zusammenhang gilt es zu bedenken, dass Durch die Wüste auf einem Zyklus von Erzählungen Mays basiert, die unter dem zungenbrecherischen Reihentitel Giölgeda padişhanün im Deutschen Hausschatz, dem damals führenden katholischen Wochenblatt, erschienen. So ist der Protagonist Kara Ben Nemsi - anders als sein protestantisch getaufter und konfirmierter Autor - gläubiger Katholik und fest davon überzeugt, dass sein Glaube der einzig Wahre ist; dennoch legt er ein ausgeprägtes Interesse an anderen Religionen an den Tag und artikuliert wiederholt seinen Respekt vor den religiösen Bräuchen sowohl der Muslime als auch der von diesen als 'Teufelsanbeter' diffamierten Jesiden. Ungemütlich wird Kara Ben Nemsi nur, wenn man seiner religiösen Überzeugung zu nahe tritt - ihn etwa als 'Giaur', als 'Ungläubigen' tituliert oder das Christentum herabwürdigt. In Auseinandersetzungen mit Muslimen demonstriert Kara Ben Nemsi immer wieder, dass er sich im Koran und der islamischen Überlieferung bestens auskennt, und dank dieser fundierten Kenntnisse vermag er auch dem fanatischsten Muselmann Paroli zu bieten.

Wer sich an diesem Kara Ben Nemsi ein Beispiel nehmen wollte, der konnte die Aktion "Lies!"des Vereins "Die wahre Religion" - also die massenhafte und kostenlose Verteilung von Koran-Exemplaren in deutscher Übersetzung - im Grunde nur gutheißen. Ein schönes und obendrein großzügiges Angebot zum interreligiösen Dialog, könnte man meinen, wenn eine Religionsgemeinschaft den Nicht- und Andersgläubigen kostenlos und unverbindlich die Gelegenheit bietet, sich aus erster Hand darüber zu informieren, worum es im Islam eigentlich geht. Also, wenn ich nicht schon einen Koran in meinem Bücherregal hätte, wäre ich bestimmt zum Potsdamer Platz gefahren und hätte mir ein Gratisexemplar geholt.


Allerdings zeigte sich ziemlich bald, dass ich mit dieser Sicht der Dinge recht allein stand. Allerorten wurde vor den Koranverteilern gewarnt, manch einer hätte es am liebsten gesehen, wenn man die Aktion hätte verbieten können. - Ja, Moment mal: Haben wir in Deutschland nicht so etwas wie Religionsfreiheit? Und könnte man nicht sogar behaupten, dass die Heilige Schrift einer der größten Weltreligionen, unabhängig davon, ob man nun daran glaubt oder nicht, einfach zum Weltkulturerbe gehört? - Schon. Aber die da die Korane verschenken, das sind ja keine normalen Muslime; das sind Salafisten. Nun weiß der durchschnittliche BILD-Leser oder RTL-Zuschauer natürlich nicht so genau, was ein Salafist ist, aber es klingt jedenfalls nach Hamas, Hisbollah oder Taliban, nach finsteren, bärtigen Turbanträgern mit dem Dolch im Gewande, die ihre Töchter erst beschneiden, dann zwangsverheiraten und schließlich erschießen oder gar steinigen. Wenn solche Leute Korane verteilen, dann sind die Seiten bestimmt mit bewusstseinsverändernden Substanzen imprägniert, und kaum habe ich das Buch durchgeblättert - und sei es nur, um die 100. Sure nachzulesen, die weiland Kara Ben Nemsi seinem Rappen Rih in die Nüstern flüsterte, um ihn zu Höchstleistungen anzuspornen -, finde ich mich plötzlich, ohne zu wissen wie, mit einem Bombengürtel um die Hüften in der Fußgängerzone wieder und sprenge mich vor der Sparkasse in die Luft.

Anders ausgedrückt, auf allen medialen Kanälen wurde die Gratis-Koranverteilung der Salafisten zum Anlass genommen, in unverantwortlichster Weise die Islamphobie in Deutschland zu schüren - nach dem Motto: Wer Korane verschenkt, der entführt auch Flugzeuge und fliegt damit in Hochhäuser. Wirklich überraschend war das alles in allem natürlich nicht; einige Wortmeldungen im Zuge der Debatte fand ich dann aber doch arg befremdlich. Zum Beispiel die des Hamburger Weihbischofs Hans-Jochen Jaschke, seines Zeichens immerhin Vorsitzender der Unterkommission für den interreligiösen Dialog in der Deutschen Bischofskonferenz. Jaschke ist in der Medienlandschaft kein Unbekannter, er ist immer mal wieder in Talkshows zu sehen, wo er zumeist einen besonnenen und vernünftigen Eindruck macht. Nun hätte ich von einem Repräsentanten der katholischen Kirche eigentlich erwartet, dass er schon im eigenen Interesse die Religionsfreiheit gegen einen sich zunehmend religionsfeindlich gebärdenden Zeitgeist verteidigen würde. Aber nichts da, jede Freiheit hat ihre Grenzen, und wenn die Salafisten sich anschicken, jeden deutschen Haushalt mit einem Koran auszustatten, hört für Bischof Jaschke der Spaß auf. Das ist religiöses Dumping, das ist unlauterer Wettbewerb, wo kommen wir denn da hin...! Ja, Jaschke bezeichnet die Koran-Aktion allen Ernstes als "Gewalttätigkeit" und meint: "Das tut man nicht! Auch aus Respekt den anderen Menschen gegenüber".


Derweil hat die katholische Kirche eigentlich mehr als genug Probleme mit den Salafisten in ihren eigenen Reihen. Die gibt es nämlich auch. Was den Salafismus kennzeichnet, ist in erster Linie ein extrem reaktionäres Geschichtsbild, das die Entwicklung der menschlichen Zivilisation und Gesellschaft als Niedergang und Verfall betrachtet, als Abirren von den geheiligten Wegen der "Salaf", der "Altvorderen". Man könnte den Begriff Salafismus also recht stimmig als Traditionalismus übersetzen; eine Geisteshaltung, die ja auch im Katholizismus nicht wenige Anhänger hat. Zu den bekanntesten und berüchtigtsten Verfechtern eines katholischen Salafismus gehören zweifellos die Piusbrüder. Die Ursachen für das Zerwürfnis dieser radikalen Splittergruppe und dem offiziellen Lehramt der katholischen Kirche wie auch für den Umstand, dass der Vatikan gleichwohl seit Jahren immer wieder die Verständigung mit den Piusbrüdern sucht, sind ausgesprochen komplex und können hier auch nicht ansatzweise aufgehellt werden; dazu lieber mal ein eigener Beitrag. Tatsache ist jedoch, dass die wiederholten Versuche des Vatikans, auf die Bruderschaft zuzugehen, während diese sich keinen Millimeter von ihren Positionen weg bewegt, die Kurie in der Öffentlichkeit in ein seltsames Licht rücken. Selbst Personen, die mit dem Katholizismus nichts am Hut haben und die schon die offiziellen Positionen der Kirche als extrem konservativ wahrnehmen, habe ich schon sagen hören, die Piusbrüder seien wenigstens konsequent - was mich freilich in meiner tief sitzenden Überzeugung bestärkt, Konsequenz sei nicht unter allen Umständen etwas Schätzenswertes. Andere argwöhnen, langsam aber sicher zwinge die Bruderschaft dem Vatikan mit ihrer unnachgiebigen Haltung ihren Kurs auf; insbesondere Papst Benedikt XVI. werden, seit er die Exkommunikation der vier kirchenrechtswidrig, aber dennoch gültig geweihten Bischöfe der Piusbruderschaft aufgehoben hat, immer wieder heimliche Sympathien für die Ultratraditionalisten unterstellt, wodurch sich all jene bestätigt fühlen, die den Papst - in Unkenntnis seiner tatsächlichen theologischen Positionen - ohnehin für einen verkappten Salafisten halten.


Somit haben die Piusbrüder dem Papst ein ganz schönes Ei ins Nest gelegt, indem sie pünktlich zu seinem 85. Geburtstag plötzlich ihrerseits Verhandlungsbereitschaft signalisierten. Es glaubt wohl kein Mensch - einschließlich meiner bescheidenen Person -, dass die Brüder sich ernsthaft zu einer Aufgabe ihrer Ultra-Haltung bewegen lassen werden, und so entsteht erneut der Verdacht, die zuständige Vatikan-Kommission Ecclesia Dei gehe den Hardlinern ganz einfach auf den Leim. Kein Wunder, dass die Anzeichen einer Annäherung zwischen Piusbruderschaft und Vatikan dem Papst mal wieder schlechte Presse einbrachten - obwohl er sich persönlich noch gar nicht zu der Angelegenheit geäußert hat.


Insgesamt war das Presseecho zum 85. Geburtstag und zum 7. Amtsjubiläum des Papstes bunt gemischt aus Kritik und verhaltenem Wohlwollen. Aus der Reihe tanzte wieder mal Matthias Matussek vom SPIEGEL; ich weiß immer gar nicht, ob ich mich mehr darüber wundern soll, was M.M. - allem Anschein nach ein noch konservativerer Katholik als ich - bei einem so betont antiklerikalen Blatt sucht, oder darüber, dass der SPIEGEL seine Beiträge abdruckt. Na schön, die Gralshüter des kritisch sein wollenden Journalismus betrachten das wohl als praktizierten Meinungspluralismus. Dafür wollen wir ihnen dann auch ganz brav Danke sagen. - Matusseks journalistisches Geburtstagsgeschenk an den Papst zielte im Wesentlichen darauf ab, sich über die Papstkritiker lustig zu machen, die Benedikt intellektuell nicht von weitem das Wasser reichen können. Wo er Recht hat, hat er Recht, der Matussek - aber es liegt auf der Hand, dass er damit weit mehr Widerspruch auslöst, als dass er irgendjemandem zum Überdenken seines Standpunkts bewegen könnte.

Während Matussek und andere dem Papst ihre Glück- und Segenswünsche zum Geburtstag - den er eigentlich sowieso nicht groß feiern wollte -  lediglich über die Presse ausrichteten, kamen andere Gratulanten auch persönlich vorbei. So zum Beispiel Benedikts bayerischer Landsmann Horst Seehofer. Was der Heilige Vater bei dieser Gelegenheit mit dem CSU-Chef zu besprechen hatte, darum soll es im nächsten Beitrag gehen...



Samstag, 31. März 2012

Eine Mischung aus verbrannter Erde und heißer Luft

Als ich neulich in meiner 'Klobibliothek`' - einem Bücherbord über dem Spülkasten meiner Toilette, auf dem ich, anders als in meinen thematisch geordneten anderen Bücherregalen, eine bunt gemischte Auswahl an Unterhaltungslektüre aufbewahre - nach einem spannenden Lesestoff für einsame Spätwinterabende suchte, fiel mir der Roman Azrael von Wolfgang Hohlbein ins Auge, und ich dachte mir: Warum nicht? Zwar hatte ich seit Jahren nichts mehr von Hohlbein gelesen, und das aus gutem Grund, wie ich meinte; aber immerhin ist Azrael unbestritten eins seiner besten Werke, wenn nicht sein bestes. Ich konnte mich erinnern, dass der Roman mir damals, vor vielleicht acht oder zehn Jahren, als ich ihn erstmals las, ganz gut gefallen hatte, und gleichzeitig war das nun wohl lange genug her, um ihn noch einmal mit unvoreingenommenem Blick zu lesen.

Meine ursprüngliche Bekanntschaft mit Azrael datiert aus meiner zweiten Karriere als Hohlbein-Leser; die erste hatte ich, wie wahrscheinlich viele seiner Fans, im Alter von zehn, elf Jahren, und das verdankte ich sehr wesentlich meiner älteren Schwester, die die Bücher, die sie sich aus der Schulbibliothek lieh, gern an mich weitergab, sofern ich mich dafür interessierte. Und für Hohlbeins Bücher interessierte ich mich. Der Klassiker Märchenmond war mir zwar schon damals zu kitschig (für mich heißt das Buch bis heute Mädchenmond, und ich bin jedesmal aufs Neue überrascht, wenn mich jemand darauf hinweist, dass die Hauptfigur des Romans ein Junge ist - meine Erinnerung sagt mir etwas anderes), aber umso begeisterter war ich von Büchern wie Die Heldenmutter oder Die Töchter des Drachen. Das waren mitreißende, fesselnde Geschichten voller Abenteuer und Geheimnisse, und sie boten mehr Action und, vorsichtig abgewogen, auch mehr Erotik als etwa Michael Ende oder Otfried Preußler. Irgendwann wuchs ich dann aus dem Fantasy-Genre raus, aber das war nicht Wolfgang Hohlbeins Schuld.

Erinnert wurde ich an meine Hohlbein-Leseerfahrungen, als ich mich im Zuge meines Germanistikstudiums mit verschiedenen literarischen Bearbeitungen der Nibelungensage befasste. Mir kam in den Sinn, dass ich vor Jahren verschiedene neuzeitliche Jugendbuchadaptionen des Nibelungenstoffes gelesen hatte, die ich in der Erinnerung aber nicht mehr genau auseinanderhalten konnte; eins dieser Bücher war jedenfalls Hohlbeins Hagen von Tronje gewesen. Ich besorgte mir das Buch, um es erneut zu lesen - und ich fand es unfassbar schlecht. Ich fand es so beleidigend schlecht, dass ich mich eigens bei einem Hohlbein-Fan-Forum im Internet anmeldete, um eine geharnischte Kritik zu Hagen von Tronje loszuwerden. Erstaunlicherweise ergaben sich daraus recht angeregte und anregende Diskussionen, ich war für einige Zeit Stammgast im Hohlbein-Forum und las in dieser Phase eine ganze Reihe Hohlbein-Romane, die ich zuvor nicht gekannt hatte. Als ich eines Tages auf einem Flohmarkt eine Taschenbuchausgabe von Azrael entdeckte, griff ich zu; und das Buch gefiel mir immerhin so gut, dass es bis heute einen Platz in meiner 'Klobibliothek' hat.

Auch bei wiederholter Lektüre verfehlt Azrael seine Wirkung nicht. Die Story, in der ein außer Kontrolle geratenes geheimes Drogenexperiment an Jugendlichen zu einer wilden Orgie aus Tod und Zerstörung führt, lässt an Spannung nichts zu wünschen übrig. Kein Zweifel: Gute Storys ersinnen, den Leser durch Handlung fesseln, das kann er, der Hohlbein; da macht ihm so leicht keiner was vor. In Azrael demonstriert er zudem eindringlich, dass er auch die spezifische Thriller-Dramaturgie souverän beherrscht. Die Handlung entwickelt eine derart packende Dynamik, dass es schwer fällt, das Buch wieder aus der Hand zu legen - und erst recht, einen Moment innezuhalten und über das Gelesene zu reflektieren.

Tut man es aber doch, dann fallen einem recht bald auch die Schwächen des Romans ins Auge. Da wären zunächst einmal die Charaktere zu nennen, von denen kein einziger in sich stimmig geraten ist. Zwar bietet die beklemmende Albtraumatmosphäre des ganzen Romans dem Autor hierfür eine hervorragende Ausrede - in Träumen, gerade in Albträumen, ist es ja nichts Ungewöhnliches, dass Personen von einer Sekunde auf die nächste ein gänzlich anderes Gesicht zeigen -, aber wer mehr als einen Hohlbein-Roman gelesen hat, wird wissen, dass Charakterzeichnung insgesamt nicht zu den starken Seiten dieses Autors zählt. Wünschenswert wäre es aber doch, dass wenigstens die Protagonisten, diejenigen Figuren, mit denen der Leser sich identifizieren soll, einigermaßen konsistente Charaktere wären. Aber Pustekuchen.

Azrael hat zwei sehr unterschiedliche Protagonisten: Der eine, Mark Sillmann, ist gerade achtzehn geworden, hat sich von dem Internat, in das er vor sechs Jahren gesteckt wurde, abgemeldet und reist nach Berlin, wo sein Vater einen Pharmakonzern führt und seine Mutter seit sechs Jahren in einer Nervenklinik interniert ist; der andere, Peter Bremer, ist ein etwa fünfzigjähriger Polizeiobermeister, der angesichts einer Serie bizarrer Todesfälle vorübergehend zur Kripo versetzt und dem Leiter der Mordkommission, Sendig, persönlich unterstellt wird. Über weite Strecken des Buches wird das Romangeschehen kapitelweise abwechselnd aus der Sicht dieser beiden Figuren geschildert. Dabei ist Mark Sillmann entschieden der gelungenere Charakter: Die Disparitäten in seinem Denken und Handeln überschreiten kaum das Maß, das bei einem aufsässigen und emotional aufgewühlten Teenager als realistisch gelten kann, und da er zudem an Schlafmangel leidet, von Visionen gepeinigt wird und, wie sich nach und nach herausstellt, unter der Einwirkung psychoaktiver Drogen steht, ist man ohne weiteres geneigt, ihm allerlei Widersprüchlichkeiten abzukaufen. Gewisse durchaus glaubwürdige Widersprüche zwischen Marks Denken und seinem Verhalten setzt der Autor auch ganz bewusst ein und lässt Mark sogar darüber reflektieren; etwa auf S. 90 (alle Seitenangaben nach der Taschenbuchausgabe im Wilhelm-Heyne-Verlag München, 4. Aufl. 1996): "Er schrie Protest und Widerstand, er behauptete, nichts von alledem haben zu wollen, was ihm das Schicksal als Geschenk mitgegeben hatte, und doch nutzte er das Gewicht seines Namens - genauer gesagt: des seines Vaters - und vor allem das seines Geldes aus, um ein Ziel zu erreichen. Und das schon bei der ersten kleinen Schwierigkeit, die sich zeigte." Solche Selbsterkenntnis hält Mark allerdings nicht davon ab, in der direkten Konfrontation mit seinem Vater dann doch wieder zu behaupten: "Vielleicht freue ich mich seit Jahren darauf, auf die Bequemlichkeiten verzichten zu dürfen, die du mir bereitest" (S. 152).

Nach gut 350 der knapp 500 Romanseiten fällt Mark jedoch in einen wachkomaartigen Zustand und verwandelt sich bis zum Ende hin mehr und mehr in den mythischen Todesengel, der ihn in Träumen und Visionen heimgesucht hat; als Identifikationsfigur für den Leser fällt er damit aus, und so bleibt als Bezugsperson nur Bremer übrig. Dieser wird einmal aus Marks Sicht wie folgt beschrieben: "Sein Gesicht wirkte hart, aber trotzdem auf eine schwer zu beschreibende Art freundlich" (S. 145). In diesen Worten liegt das ganze Dilemma der Romanfigur. Hohlbein beabsichtigt offenbar, Bremer als toughen Cop zu zeichnen, aber er kriegt es nicht hin. Mark gegenüber gibt Bremer sich durchweg als leutseliger Onkel, und ansonsten trabt er brav wie ein gut erzogener Hund neben seinem Vorgesetzten Sendig her. Seine Auflehnung gegen den verhassten Chef beschränkt sich weitgehend darauf, dass er ihn in Gedanken duzt, und wenn er doch einmal Widerspruch wagt, dann klingt er pampig wie ein Teenager. Zudem hat seine moralische Entrüstung über das eigenmächtige Vorgehen Sendigs, so berechtigt es in der Sache auch ist, zuweilen einen störenden Zug altjüngferlicher Zimperlichkeit - darauf wird noch zurückzukommen sein.

Über die misslungene Charakterisierung hinaus wird hier aber auch deutlich, dass Bremer noch aus einem ganz anderen Grund als Protagonist ungeeignet ist: Er agiert so gut wie nie, sondern steht praktisch die ganze Zeit hilflos und untätig in der Gegend herum. Man könnte vielleicht sagen, dass er damit perfekt den Leser repräsentiert, der ja auch nicht ins Geschehen eingreifen kann; aber auf die Dauer ist das doch etwas unbefriedigend.

Überhaupt dürften halbwegs Krimi-erfahrene Leser die Darstellung der polizeilichen Ermittlung in diesem Roman als wenig überzeugend empfinden. Im Grunde ist es aber auch gar keine; nicht umsonst wundert sich Bremer im 3. Kapitel ausgiebig darüber, dass Sendig als Chef der Mordkommission sich so sehr für einen offenkundigen Selbstmord interessiert. Wie der weitere Verlauf des Romans zeigt, handelt Sendig gar nicht dienstlich, sondern in eigener Sache - da er sein eigenes Leben durch den Rachefeldzug des Todesengels in Gefahr wähnt. Abgesehen von der Besichtigung einiger Tatorte besteht Sendigs 'Ermittlungsarbeit' praktisch zur Gänze aus einigen Telefonaten, über deren Inhalt der Leser aber nichts Genaues erfährt; im Wesentlichen, so scheint es, durchschaut oder ahnt Sendig von Anfang an die Zusammenhänge, die dem Leser erst nach und nach enthüllt werden sollen. Genau dafür, und nur dafür, braucht der Kommissar seinen treudoofen Sidekick Bremer: um ihm, stellvertretend für den Leser, von Zeit zu Zeit ein paar Häppchen Information über die Hintergründe des Geschehens aufzutischen, aber immer nur so viel, wie es ihm - bzw. eigentlich dem Autor - gerade in den Kram passt. Im Grunde ein ziemlich plumper Trick, aber er funktioniert - zumindest solange man nicht darüber nachdenkt.

Andere Schwächen des Romans fallen beim Lesen unmittelbarer ins Auge; dabei handelt es sich allerdings um Merkmale, die weniger für diesen einen Roman spezifisch sind, sondern mich an absolut jedem Hohlbein-Buch, das ich seit Erreichen des Erwachsenenalters gelesen habe, genervt haben. Es handelt sich im Wesentlichen um zwei Dinge: stilistische Unreife und falschen Moralismus.

Dass ein Autor mit einem über 200 Bände umfassenden Gesamtwerk, ein Autor, der zuweilen sechs bis acht dickleibige Romane in einem Jahr publiziert, nicht unbedingt ein großer Stilist ist, liegt auf der Hand, und man muss ja auch wirklich kein Flaubert, Dostojewskij oder Joyce sein, um spannende und unterhaltsame Fantasy- und Horrorromane zu schreiben. Aber auch wenn man Hohlbein mit einem Schriftsteller durchaus verwandter Art - verwandt sowohl im Inhaltlichen wie in der reinen Quantität der Produktion - vergleicht, mit Stephen King nämlich, wird ein erheblicher qualitativer Abstand deutlich: Neben dem schnörkellosen und präzisen Stil des international erfolgreichen US-Kollegen wirkt Hohlbeins Stil geradezu geschwätzig. Das liegt sicherlich nicht nur daran, dass Hohlbein, obwohl gebürtig aus Weimar, den Großteil seines Lebens im Rheinland verbracht hat, während King aus dem hinterwäldlerischen, maulfaulen Nordosten der USA stammt. Eher scheint es mir, Hohlbein habe nicht verstanden (oder vertraue nicht darauf), dass man eine im wesentlichen von Handlung lebende Geschichte am besten möglichst schlicht und geradlinig erzählt. Stattdessen versucht er immer wieder, seinem Text sprachliche Glanzlichter aufzustecken - was jedoch in acht von zehn Fällen daneben geht. Was dabei herauskommt, sind ungeschickte Metaphern (S. 13: "Ein unsichtbarer Kübel mit Eiswasser ergoß sich über seinen Rücken"; S. 15: "Diesmal war es kein Eimer mit Eiswasser, sondern ein ganzer Tankzug"), beschreibende Passagen voller irrelevanter Details (S. 178: "Das Haus, aus dessen Fenster Mogrod sich gestürzt hatte, als schäbig zu bezeichnen, wäre noch geschmeichelt gewesen. Es war eine bessere Ruine - nein, keine bessere, es war eine Ruine. Falls es jemals einen Anstrich erlebt hatte, war er längst zusammen mit dem größten Teil des Putzes in Staub aufgegangen; unter dem unregelmäßigen Lochmuster kam grauer Ziegelstein zum Vorschein, in dem der Schwamm nistete. Die Fenster begannen herauszufaulen, und zumindest im Erdgeschoß mußten wohl einige Wohnungen leerstehen, es sei denn, ihre Bewohner liebten es, ohne Scheiben zu leben") und Dialoge voller abgedroschener Redensarten und fader Witzeleien - insbesondere Bremer und Sendig kommunizieren beinahe nur so miteinander. Dass Stil nicht zuletzt die Kunst des Weglassens ist, hat dem Herrn Hohlbein offenbar nie einer erzählt. Sorgfältiger lektoriert, hätte Azrael ohne Weiteres dreißig, sechzig oder sogar hundert Seiten kürzer werden können, und das hätte dem Roman nur gut getan.

(Nebenbei eine Anmerkung zu der von Hohlbein ausgiebig verwendeten Formulierung "nicht wirklich": ich gehöre keineswegs zu Jenen, die darin einen verkappten Anglizismus - nämlich ein allzu plump eingedeutschtes "not really" - sehen und diese Formulierung daher prinzipiell ablehnen. Ich habe gegen die Formulierung an sich überhaupt nichts einzuwenden, wohl aber gegen ihren inflationären Gebrauch. Sagt oder schreibt jemand diese Worte nämlich ständig - und bei Hohlbein findet man sie manchmal mehrmals auf derselben Seite -, dann erwecken sie leicht den Eindruck, dass dieser Jemand das, was er eigentlich sagen will, nicht wirklich ausdrücken kann... Eng verwandt mit "nicht wirklich" ist in dieser Hinsicht das Wort "irgendwie"; und auch dies scheint irgendwie eins von Hohlbeins Lieblingswörtern zu sein.)

Tendenziell noch ärgerlicher ist Hohlbeins Hang zum Moralisieren. Vermutlich meint er, als Jugendbuchautor habe er die Pflicht, seine Leser über die moralische Bewertung des dargestellten Geschehens nicht im Unklaren zu lassen. Leider gerät die moralische Belehrung der angepeilten halbwüchsigen Leserschaft meist so platt, plump und aufdringlich, dass man es sich als Leser verbitten möchte, vom Autor für derart "halbwüchsig im Geiste" gehalten zu werden. In den meisten Fällen delegiert der Autor das Moralisieren an seine Figuren, vor allem an die Hauptsympathieträger, die allerdings dadurch, dass sie allzeit moralische Werturteile über ihre Mitmenschen im Munde führen, nicht unbedingt sympathischer werden. Dabei fußen diese Werturteile in aller Regel nicht auf erkennbaren und nachvollziehbaren ethischen Grundsätzen, sondern auf einem vagen Gefühl von "Anstand" und oder ethical correctness - ganz im Sinne des Hauptmanns in Büchners Woyzeck: "Moral, Woyzeck, das ist, wenn man moralisch ist". So wirkt der dick aufgetragene Moralismus der Hohlbein-Protagonisten nicht nur ziemlich etepetete, sondern auch intellektuell unbefriedigend - und obendrein auch arg hilflos: Für den Umgang mit Falschparken, Dränglern an der Supermarktkasse oder unhöflichen Kellnern mögen die "Guten" der Hohlbein-Romane dank ihrer stets sprungbereiten bürgerlichen Wohlanständigkeit gut gerüstet sein; bekommen sie es jedoch mit richtigen Verbrechern zu tun, stehen sie wie paralysiert vor dem schieren Ausmaß des Bösen, das sich vor ihnen auftut. Und da ihre Reaktion darauf sinngemäß kaum über den legendären Schlusssatz von Ibsens Hedda Gabler - "Aber so etwas tut man doch nicht!" (Assessor Brack) - hinausgeht, ist es für skrupellose Pragmatiker wie den Pharmaunternehmer Sillmann oder eben Kommissar Sendig nur allzu leicht, solche Einwände mit einem simplen "Warum nicht?" abzuschmettern.

Übrigens erweist sich auch in Hinblick auf die leidige Moralfrage Mark Sillmann als die vergleichsweise gelungenste Figur des Romans Azrael. Dass er mit typischem Teenager-Pathos die Forderung nach Authentizität verficht und die Verlogenheit der Erwachsenenwelt verabscheut, aber nach und nach auch mit der Verlogenheit seiner eigenen Existenz konfrontiert wird, gehört zur Tragik dieses Charakters und macht ihn zu einem entfernten Verwandten Holden Caulfields aus Salingers Fänger im Roggen. Der Vergleich - der auch angesichts der parallelen Ausgangssituation (überstürzte nächtliche Abreise aus dem Internat) nahe liegt - macht allerdings auch den qualitativen Abstand augenfällig. Dabei böte sich der Plot von Azrael eigentlich sogar dafür an, die Authentizitäsproblematik noch zu vertiefen. Schließlich ist Mark Sillmanns Existenz nicht einfach nur genauso unauthentisch wie diejenige eines Holden Caulfield oder jedes anderen auf Authentizität pochenden Teenagers, sondern sein ganzes Leben ist eine große Lüge - seine Vergangenheit ausgelöscht, seine Erinnerungen gefälscht; und nicht nur das: Im Grunde ist Mark Sillmann nie eine autonome Persönlichkeit gewesen, hat es nie sein dürfen - er war von Geburt an weniger ein echter Mensch als vielmehr ein wandelndes Drogenexperiment, ausgeheckt von seinem Vater und dessen Mitarbeiter Löbach. Die Dramatik, die in dieser Konstellation liegt, bis auf den Grund auszuloten, hätte es jedoch mindestens eines Stephen King bedurft; Hohlbein kratzt nur an der Oberfläche.

Übrigens existiert zu Azrael auch noch eine Fortsetzung, betitelt Azrael - Die Wiederkehr. Habe ich aber nicht gelesen, aus Protest. Tatsächlich deutet bereits der Schluss von Azrael stark auf die Möglichkeit einer Fortsetzung hin: "Der Kerl sieht ja aus, als hätte er in Blut gebadet", lauten die letzten Worte des Romans (S. 496), und da der Leser inzwischen weiß, dass die Psychodroge AZRAEL sich wie ein Virus über das Blut weiterverbreitet, kann man davon ausgehen, dass der, von dem hier die Rede ist, womöglich die neue Inkarnation des Todesengels werden wird. Dumm ist nur, dass dieser einzige Überlebende des brachialen Showdowns im alten Sillmann-Labor, der Agent Haymar, sich denkbar schlecht als Protagonist einer etwaigen Fortsetzung eignet: Er ist erst 150 Seiten vor Schluss als handelnde Person eingeführt worden und hat auf diesen 150 Seiten keinerlei individuelles Profil entwickeln können. Der Leser interessiert sich einfach nicht für ihn. Das muss auch Hohlbein aufgegangen sein, denn tatsächlich ist Haymar in Azrael - Die Wiederkehr dann doch nicht der Protagonist. Stattdessen erweckt der Autor ausgerechnet den tapsigen Riesenschnauzer Bremer wieder zum Leben, von dem am Ende des ersten Teils eindeutig und unmissverständlich ausgesagt wird, er sei tot (S. 493: "Das letzte, was er in seinem Leben hörte, war das Rattern der MPi-Salve, mit der Haymar ihn erschoß, aber während er starb, empfand er nichts als eine tiefe, unendlich tiefe Erleichterung, daß er es wenigstens als Mensch hatte tun können"). Auf den ersten Seiten von Azrael - Die Wiederkehr festzustellen, dass er nun doch wieder lebt, war für mich Grund genug, das Buch sofort wieder aus der Hand zu legen.

Zum Abschluss noch eine Kuriosität: Der Name Azrael dürfte den meisten Lesern vor allem aus den Schlümpfen geläufig sein, wo der Kater des Zauberers Gargamel so heißt. Im Roman selbst wird jedoch mehrfach behauptet, der Name stamme aus der Bibel - genauer: es sei "der Name des biblischen Würgeengels" (S. 92). Das jedoch ist falsch: In der Bibel kommt der Name Azrael nicht vor; überhaupt findet sich die Vorstellung eines Todesengels, der Menschen den Tod bringt, Verstorbene ins Jenseits begleitet oder dort empfängt und eventuell richtet, nicht in der Bibel, wohl aber im Koran. Auch dort heißt der Todesengel aber nicht Azrael; diesen Namen erhält er erst in der nach-koranischen islamischen Tradition. "[I]ch habe meine Hausaufgaben gemacht [...]. Außerdem habe ich ein ziemlich gutes Lexikon zu Hause", erklärt Kommissar Sendig vollmundig, als er seinen Kollegen Bremer über die Herkunft des Namens Azrael aufklärt (S. 92). Für den Autor gilt das offenbar nicht.



P.S.: Den Titel dieses Beitrags habe ich einem anderen, weiter oben auch schon erwähnten Hohlbein-Roman - Die Töchter des Drachen - entlehnt. Dort wird auf S. 78 ein herannahender Sandsturm beschrieben, und in dieser Beschreibung wird ein Geruch wie "eine Mischung aus verbrannter Erde und heißer Luft" erwähnt. Da musste ich lachen und denken: Das ist eine enorm treffende Charakterisierung des ganzen Romans... 



Mittwoch, 8. Februar 2012

Die Brötchen des Bösen - Eine Hamburger(-)Passion

"Skandalinszenierung: Piusbrüder drohen Hamburger Theater mit Anzeige", so lautete am 22. Januar eine Schlagzeile auf SPIEGEL Online; und noch ehe ich den dazugehörigen Artikel gelesen hatte, hatte ich die Eingebung, bei dem betreffenden Theaterstück könne es sich nur um Rodrigo Garcías 'Gólgota Picnic' handeln. Nicht etwa, dass ich mich in der aktuellen Theaterszene so gut auskennen würde oder gar gewusst hätte, dass das Hamburger Thalia-Theater dieses Stück im Rahmen seiner diesjährigen Lessingtage zeigt; aber zufällig hatte ich rund zwei Wochen zuvor auf arte das Kulturmagazin 'metropolis' gesehen (was ich sonst nie tue), und da hatte es einen Beitrag über Proteste "fundamentalistischer Katholiken" gegen die Pariser Aufführung ebendieses Stückes gegeben. Dieser Beitrag war sogar als "Aufreger der Woche" angekündigt worden; wohlgemerkt, nicht das Theaterstück selbst sollte dieser "Aufreger" sein, sondern die Proteste dagegen. Der Umstand, dass in Paris bis zu 4000 strenggläubige Katholiken singend und betend vor einem Theater demonstrierten, wurde gar mit dem Begriff "Kulturkampf" belegt - eine zumindest ungeschickte Wortwahl, wenn man bedenkt, dass dieses 1873 von Rudolf Virchow geprägte Schlagwort eigentlich staatliche Zwangsmaßnahmen zur Unterdrückung der katholischen Kirche bezeichnet.
-- In der Ankündigung dieses Beitrags auf der arte-Website hieß es:  

"Metropolis geht u. a. der Frage nach, ob Kunst wirklich alles darf. Ist der Protest gegen die gezielt gesetzte Provokation berechtigt? Oder braut sich hier eine militante, religiös motivierte Protestkultur zusammen, die nach dem Vorbild radikaler Muslime unliebsame Kulturschaffende einschüchtern will?"

Zumindest der erste Teil dieser Ankündigung wurde von der Sendung kaum eingelöst. Die Frage, ob die Demonstranten mit ihrem Protest gegen 'Gólgota Picnic' irgendwie Recht haben könnten, wurde gar nicht ernsthaft gestellt, es wurde auch nur in Ansätzen deutlich, was genau die empörten Katholiken gegen die Aufführung des Stückes hatten.(Zudem wurde schlau suggeriert, die Protestierer wüssten dies im Grunde selbst nicht so genau, da sie das Stück ja gar nicht gesehen hätten - was einige hierüber befragte Demonstranten freimütig bestätigten. Hier könnte man allerdings auf eine Szene aus dem Film "Hawaii" verweisen, in der der von Max von Sydow verkörperte Protagonist, ein Missionar, erklärt: "Ich brauche einen Mord nicht erst zu begehen, um zu erkennen, dass er unrecht ist.")

Immerhin war dem 'metropolis'-Beitrag zu entnehmen, dass es sich bei 'Gólgota Picnic' um ein provokant religionskritisches Stück handelt, in dem Religion im Allgemeinen und der Katholizismus im Besonderen als mitverantwortlich für das Böse in der Welt dargestellt werden; sowie auch, dass das Stück eine Parodie der Kreuzigung Christi enthält, in der der Heiland durch eine fast nackte Frau dargestellt wird, die die Dornenkrone auf einem Motorradhelm trägt. Dass strenggläubige Katholiken lieber darauf verzichten, sich ein solches Stück anzusehen, nur um "mitreden" zu können bzw. zu dürfen, wird man verstehen. Ob ihnen dies auch das Recht gibt, verhindern zu wollen, dass andere es sich ansehen, ist natürlich eine zweite Frage. Dass es Bombendrohungen gegen das Theâtre du Rond Point und Morddrohungen gegen dessen Leiter Jean-Michel Ribes gegeben hat, weshalb die Pariser Premiere von 'Gólgota Picnic' unter massivem Polizeischutz stattfinden musste, ist ohne Frage schärfstens zu verurteilen; gleichzeitig erscheint es aber auch kritikwürdig, dass die arte-Reportage mehrere tausend friedliche Demonstranten bedenkenlos mit den Urhebern dieser Drohungen in einen Topf wirft.

Zum Schluss bietet die Sendung einen prominenten Repräsentanten der katholischen Kirche in Frankreich auf, der sich in aller Deutlichkeit von den Protesten gegen 'Gólgota Picnic' distanziert. Über das Stück selbst äußert er sich überhaupt nicht, empört sich jedoch darüber, dass eine radikale Splittergruppe sich anmaße, für die gesamte katholische Kirche zu sprechen. -- Man könnte nun finden, die Macher der Reportage seien just dieser Strategie der hinter den Protesten stehenden Kreise komplett auf den Leim gegangen, in dem sie die 'Gólgota Picnic'-Gegner durchweg ohne nähere Spezifizierung schlicht als "Katholiken" betiteln (so als träfe diese Bezeichnung, zumindest nominell, nicht auf die Mehrheit der Franzosen zu). Bei der sehr tendenziösen Ausrichtung des ganzen Beitrags muss man aber wohl davon ausgehen, dass dies nicht ohne Absicht geschieht: Es sieht ganz danach aus, als instrumentalisierten hier einige kulturkämpferisch eingestellte Fernsehjournalisten die Aktionen der besagten 'radikalen Splittergruppe', um die ganze katholische Kirche zu diffamieren. Man kennt dergleichen auch aus Deutschland, aber in Frankreich scheint der Gegensatz zwischen Laizisten und Religiösen doch noch ausgeprägter zu sein.

Bei genauem Hinsehen stellt sich der Fall nun aber doch komplizierter dar, als die arte-Reportage glauben machen will. Zwar hielt auch der Erzbischof von Paris, André Vingt-Trois, zeitgleich zur Pariser Premiere von 'Gólgota Picnic' eine Gebetswache in der Kathedrale Nôtre Dame ab und warnte, das Stück sei geeignet, Christen zu schockieren, stellte aber klar, ohne Kenntnis der Intention des Autors könne man nicht von Blasphemie oder Christenfeindlichkeit sprechen. Bereits bei einer früheren Gelegenheit hatte er "verbale oder erst recht physische Gewalt gegen kirchenkritische Kunstwerke" als inakzeptabel bezeichnet. Diese differenzierte Haltung des Vorsitzenden der französischen Bischofskonferenz ist der oben erwähnten radikalen Splittergruppe zweifellos ein Dorn im Auge; man kann aber davon ausgehen, dass diese Kreise - da religiöse Fanatiker ja nicht selten eine Affinität zu Verschwörungstheorien an den Tag legen - dem Pariser Kardinal ohnehin misstrauen, schon allein seines Namens wegen: "Vingt-Trois" heißt nämlich "Dreiundzwanzig", was Grund genug sein dürfte, zu argwöhnen, hinter seiner Karriere in der kirchlichen Hierarchie steckten die Illuminaten.

Nun aber mal die Karten auf den Tisch: Von welcher radikalen Splittergruppe reden wir hier überhaupt? In 'metropolis' war als Wortführer der Protestler ein unangenehm öliger Sprecher des Civitas-Institus zu sehen; das klingt nach Bürgergesellschaft, aber das täuscht: Durch eine kurze Internetrecherche kann man in Erfahrung bringen, dass diese Stiftung den "Lefebvristen" nahe steht - mit anderen Worten: der von dem 1991 verstorbenen ehemaligen Erzbischof von Dakar (Senegal), Marcel Lefebvre, gegründeten "Priesterbruderschaft St. Pius X.", kurz FSSPX (für "Fraternitas Sacerdotalis Sancti Pii X.") - derselben Gruppierung also, die dann wenig später das Gastspiel von 'Gólgota Picnic' am Hamburger Thalia-Theater durch eine Strafanzeige zu verhindern versuchte.

In der deutschen Öffentlichkeit erregte diese 1970 gegründete Bruderschaft zuletzt 2009 größere Aufmerksamkeit, als Papst Benedikt XVI. die 1988 verhängte Exkommunikation der vier Bischöfe der FSSPX aufhob und fast gleichzeitig ein Interview veröffentlicht wurde, in dem einer dieser Bischöfe, Richard Williamson, unter Berufung auf ein mehr als fragwürdiges kanadisches Gerichtsgutachten von 1988 - den so genannten 'Leuchter-Report', dessen Verbreitung in Deutschland als Volksverhetzung strafbar ist - Zweifel an den Opferzahlen des Holocausts anmeldete. Im Handumdrehen war die skandalträchtige Schlagzeile "Papst rehabilitiert Holocaustleugner" fertig - und wirkt bis heute nach: "Piusbrüder? Sind das nicht die mit dem Holocaustleugner?", konnte man etwa auf Twitter lesen. Problematisch an dieser Rubrizierung ist allerdings, dass sie genauso auf eine Vielzahl anderer Gruppierungen zuträfe, die mit den Piusbrüdern ansonsten kaum etwas gemein haben. Und wenngleich man zu Recht darauf verweisen kann, dass der FSSPX schon seit den Tagen ihres Gründervaters Lefebvre antisemitische Tendenzen und eine gewisse Nähe zu rechtsgerichteten politischen Ideologien anhaften, wäre es doch eine allzu plakative Verkürzung, die Bruderschaft schlicht als einen 'Verein von Holocaustleugnern' anzusehen.

Das wesentliche Merkmal der Piusbruderschaft ist vielmehr ihre ultra-traditionalistische Auslegung des Katholizismus, die sich in einer entchiedenen Opposition gegen die Reformen des II. Vatikanischen Konzils äußert. So lehnen die Piusbrüder die Liturgiereform ebenso ab wie Ökumene und interreligiösen Dialog und vertreten in Fragen der Glaubens- und Sittenlehre ausgesprochen rigoristische Positionen. Zusammenfassend gesagt sind sie überzeugt, dass die katholische Kirche seit dem II. Vatikanischen Konzil vom rechten Wege abgekommen ist, und verstehen sich als Gralshüter des 'wahren' Katholizismus. Und genau diese Haltung drückt sich auch in ihren Protesten gegen die Aufführungen von 'Gólgota Picnic' in Paris und Hamburg aus.

Für die Entscheidung des Thalia-Theaters, 'Gólgota Picnic' zu den Lessingtagen einzuladen, dürfte wohl nicht nur die Einschätzung ursächlich gewesen sein, ein Stück, bei dem die Bühne mit 25.000 Hamburgerbrötchen gepflastert ist, passe gut nach Hamburg. Thalia-Intendant Joachim Lux begründete die Entscheidung für das Gastspiel damit, dass die "Auseinandersetzung mit Religion [...] für das Festival ein Thema" sei; dagegen ist erst einmal nichts zu sagen, außer vielleicht, dass man da durchaus auch ein weniger polarisierendes Stück hätte nehmen können. Wenn man denn gewollt hätte. Spätestens nach den Pariser Ereignissen dürfte es für jeden absehbar gewesen sein, dass 'Gólgota Picnic' auch in Hamburg für einen Skandal gut sein würde - und was wäre das Theater ohne Skandale? So ein zünftiger Theaterskandal bringt nicht nur Publicity, er unterstreicht auch die gesellschaftspolitische Relevanz der altehrwürdigen Institution Bühne, und wenn der Skandal darin besteht, dass ein Grüppchen ewiggestriger Ultrareligiöser Zeter und Mordio über angebliche Blasphemie und Pornographie schreit und die Aufführung verbieten lassen will, dann steht das Theater geradezu als Garant von Meinungsfreiheit und Freiheit der Kunst, ja von demokratischem Pluralismus schlechthin da. Was könnte man sich als Intendant Besseres wünschen?

Und genau so kam es dann ja auch. Die öffentlichen Reaktionen auf die causa 'Gólgota Picnic' fielen nahezu einhellig aus: Landauf, landab ergriffen Redaktionen, Blogs und Kommentatoren auf Plattformen wie Facebook und Twitter Partei für das Theater und gegen die Protestler. Der Tenor dieser Meinungsäußerungen lässt sich kaum besser zusammenfassen als durch den nur ein Wort umfassenden Kommentar von Tim Seidel auf der Facebook-Pinnwand des Thalia-Theaters: "Mittelalter!" -- Diese Einschätzung berücksichtigt allerdings nicht, dass die 'Gólgota Picnic'-Gegner für ihren Protest zum Teil durchaus moderne Mittel wählten: so etwa den Versuch, den Betrieb des Thalia-Theaters durch eine Überschwemmung mit eMails und Faxen lahmzulegen. Der Versuch scheiterte jedoch mangels Masse: Drei- bis vierhundert Mails und Faxe innerhalb von drei bis vier Tagen reichten für einen Zusammenbruch der internen Kommunikation im Theater schlicht nicht aus.

Dass auch zur Protestversammlung in der Gaußstraße nur rund 40 Gläubige erschienen, ließ die Hamburger Proteste gegen 'Gólgota Picnic' vollends zur Farce werden. Die Presse veralberte die Demonstranten mit Schlagzeilen à la "Die wollen nur beten", und das Thalia-Theater postete auf Facebook ein Foto der menschenleeren Gaußstraße und witzelte dazu "frei nach O. Waalkes": "Die radikalfundamentalistischen Piusbrüder machen in Hamburg eine Protestkundgebung. Der eine hatte keine Gummistiefel mit und der andere hat sich alleine nicht getraut."

Auf den ersten Blick sieht der Fall 'Gólgota Picnic' somit nach einem klaren Misserfolg für die Piusbrüder aus; aber dieser Eindruck könnte trügen. Immerhin hat die Bruderschaft wieder einmal Publicity bekommen, und mehr noch: Denjenigen Gläubigen, die sich durch die brachiale Religionsfeindlichkeit von Werken wie 'Gólgota Picnic' angegriffen fühlen, hat sie sich als die einzige öffentlich wahrnehmbare Interessenvertretung empfohlen. Die gemäßigte und zurückhaltende Stellungnahme der offiziellen katholischen Kirche, also des Erzbistums, ging in Hamburg wie schon in Paris im allgemeinen Medienecho so gut wie gänzlich unter.

Eine Begleiterscheinung dieser Konstellation war, dass die bereits in der 'metropolis'-Sendung unbeantwortet gebliebene Frage, ob Kunst wirklich alles dürfe oder ob es womöglich doch legitim sei, im Namen des Glaubens gegen die öffentliche Herabwürdigung ebendieses Glaubens zu protestieren, auch in der Hamburger Debatte so gut wie keine Rolle spielte. Lediglich das Hamburger Verwaltungsgericht musste sich mit dieser Frage auseinandersetzen, da es im Eilverfahren über einen Antrag der Piusbruderschaft zu entscheiden hatte, die Aufführung von 'Gólgota Picnic' zu unterbinden. Die Entscheidung fiel sehr eindeutig aus: "Die Aufführung des Theaterstücks beeinträchtige nicht die individuelle Freiheit des Antragstelles, seinen Glauben als Christ zu praktizieren. Er könne der Aufführung fernbleiben." Damit bekannte das Gericht sich - in offenbarem Widerspruch zu seiner eigenen Klarstellung, der "Straftatbestand des § 166 StGB (Beschimpfung von Bekenntnissen) [...] schütze allein den öffentlichen Frieden und nicht das religiöse Empfinden Einzelner" - im Prinzip zu der verbreiteten Auffassung, dass Religion Privatsache sei: Antireligiöse Polemik erscheint im Lichte dieser Urteilsbegründung allein als Angriff auf das "religiöse Empfinden Einzelner" - und für dessen Schutz seien in erster Linie diese Einzelnen selbst verantwortlich, denen es ja schließlich freistehe, Dinge zu meiden, die ihre religiösen Gefühle verletzen könnten.

Für Theatermacher und andere Kulturschaffende ergibt sich daraus, dass das Verletzen religiöser Gefühle eine bequeme und, man möchte sagen, wohlfeile Möglichkeit darstellt, einen kleinen Skandal zu provozieren, ohne dabei zu viel zu riskieren. Ein paar Leute, die sich darüber aufregen, wird es immer geben - sonst würde ja kein Skandal daraus -, aber diese Leute sind weitgehend isoliert, haben keinen wirklichen gesellschaftlichen oder politischen Einfluss und haben den Großteil der öffentlichen Meinung von vornherein gegen sich; die Künstler können also darauf bauen, in jedem Fall als moralische Sieger aus dem Skandal hervorzugehen. Für die jeweils betroffenen Religionsgemeinschaften hingegen ergibt sich ein Dilemma. Empören sie sich lautstark, stehen sie als intolerant und banausisch da; reagieren sie moderat und gelassen, rufen sie damit radikale Splittergruppen wie die Piusbrüder auf den Plan, die die Empörung monopolisieren und für ihre eigenen Zwecke instrumentalisieren.

An dieser Stelle erscheint es mir sinnvoll, an zwei andere Theaterskandale der letzten Jahre zu erinnern, in denen es auf die eine oder andere Weise um die 'Verletzung religiöser Gefühle' ging: Johann Kresniks 'Zehn Gebote' in Bremen 2004 sowie die Auseinandersetzung um Hans Neuenfels' Inszenierung der Mozart-Oper 'Idomeneo' an der Deutschen Oper Berlin 2006.

Kresniks Stück, das ja bereits im Titel eindeutige religiöse Bezüge erkennen ließ, sollte nach dem Willen des Bremer Theaters eigentlich im dortigen - evangelischen - Dom aufgeführt werden; verhindert wurde dies durch eine Kampagne, die sehr wesentlich von der BILD lanciert bzw. gefördert wurde. Anlass dafür war die Bekanntmachung, Kresnik suche für seine Inszenierung noch Komparsinnen - nämlich ältere Frauen, die nackt an Nähmaschinen sitzen und Deutschlandflaggen nähen sollten. "Dieses Schock-Drehbuch besudelt unseren Dom", empörte sich daraufhin Springers heißes Blatt; Auftakt zu einer Kampagne 'Saubere Kirche', die gegen die "Darstellung von Nacktheit in deutschen Gotteshäusern" Sturm lief. "Ein gewisser Lukas Cranach steht ganz oben auf der Liste der notorischen Schmierfinken", scherzte das Feuilleton der FAZ treffend. Immerhin hatte die Kampagne den 'Erfolg', dass die Domgemeinde die Aufführung in ihren Räumlichkeiten untersagte; daraufhin sprang die ebenfalls evangelische Friedenskirche ein - und zog sich den Zorn konservativer Protestanten zu, die mit Transparenten mit Slogans wie "Jesus Christ spricht: Mein Haus soll ein Bethaus sein" (Lk 19,46) vor der Kirche demonstrierten. Die Premiere der 'Zehn Gebote' fand unter massivem Polizeischutz statt.

Als Blamage für die Deutsche Oper Berlin wie auch für den damaligen Innensenator Körting ging der Skandal um Neuenfels' 'Idomeneo'-Inszenierung in die Geschichte ein. Stein des Anstoßes war eine Szene, in der die abgeschlagenen Köpfe von Poseidon, Buddha, Jesus und Mohammed auf die Bühne gebracht wurden - im Kontext der Opernhandlung ein deutliches Bild für die Auffassung, ohne Religion(en) sei die Welt ein besserer, friedlicherer Ort. Proteste von Christen, Buddhisten oder gar Anhängern der alten griechischen Götter wurden offenbar nicht befürchtet - wohl aber Aktionen islamischer Fundamentalisten. Innensenator Körting informierte die Opernintendantin Kirsten Harms telefonisch, es gebe Sicherheitsbedenken gegen die Aufführung - woraufhin Frau Harms entschied, die Aufführung abzusetzen. Dieser Entschluss zog breite Kritik aus allen politischen Lagern - in der Tat: auch aus CDU und CSU! - nach sich; von "Feigheit" und "Selbstzensur" war die Rede; selbst Sprecher muslimischer Organisationen in Deutschland gaben zu Protokoll, sie sähen keinen Anlass für eine Absetzung des Stücks. Die Peinlichkeit der ganzen Affäre wurde noch gesteigert dadurch, dass es sich lediglich um die Wiederaufnahme einer Inszenierung von 2003 handelte, gegen die es zuvor nie Proteste gegeben hatte. In Folge eines Gutachtens der Polizei, das die Gefahr islamistischer Terrorakte als gering einstufte, wurde der 'Idomeneo' schließlich doch wieder gezeigt.

Im direkten Vergleich zu 'Gólgota Picnic' erwecken diese Beispiele den Eindruck, dass religiös motivierte Proteste gegen Theateraufführungen - oder auch nur die theoretische Möglichkeit solcher Proteste - 2004 und 2006 tendenziell ernster genommen wurden als 2012. Über die Ursachen dieser Entwicklung zu spekulieren, ist hier nicht der Platz. Gemeinsam ist allen drei Fällen jedoch, dass die maßgeblichen Feuilletons nach erfolgter Aufführung nahezu einhellig zu dem Schluss kamen, die jeweilige Inszenierung sei an sich die ganze Aufregung gar nicht wert. Umso interessanter ist es, sich einmal anzusehen, wie der Jesuitenpater Hermann Breulmann, der im Auftrag des Erzbistums Hamburg eine Aufführung von 'Gólgota Picnic' besuchte, über das Stück urteilt. Breulmann kommt zu dem Ergebnis, 'Gólgota Picnic' sei durchaus "ein moralistisches Stück" - jedoch, und das dürfte nun wirklich überraschen, "auch ein leibfeindliches Stück, weil der gefallene Engel schwebte am Anfang und Schluss über dem Ganzen. Selbst bei den vielen Nackten war letztlich die Frage der Gleichgültigkeit, auch der Weltfeindlichkeit [...], auch Thema dieses [...] Stückes." Diese Weltfeindlichkeit sieht Breulmann in engem Zusammenhang mit den antireligiösen, speziell antichristlichen Tendenzen von 'Gólgota Picnic': "[D]ass der Mensch, der Christ, auch die Inkarnation, letztlich auch eine Bejahung der Welt ist: dass Gott sich nicht aussuchen konnte, in welchem Menschen er Mensch wurde, sondern dass er letztlich eine Liebeserklärung, ein letztes Ja zu dieser Welt und zu den Menschen gesagt hat, und diese von daher im Letzten auch liebeswürdig sind - das wurde in diesem Stück von Anfang an bestritten." Gerade angesichts dieser Verweigerungshaltung gegenüber der göttlichen Liebe sei 'Gólgota Picnic' "[a]uch ein Stück der Einsamkeit, [...]. Aber einer spirituellen Einsamkeit, die auch nachdenklich machte. Und die, wie die Schauspieler mir sagten, für sie auch eine Art Gebet waren." Auf die Frage angesprochen, ob das Stück blashemisch sei, räumt Pater Breulmann ein, es habe "auch blasphemische Elemente, wobei ich sagen würde: Blasphemisch ist Jeremia auch schon gewesen, als er die Tempelgötter lächerlich machte. Ich glaube auch, dass ein blasphemischer Kern im Zentrum unseres Glaubens steht. Jesus ist wegen Gotteslästerung auch gekreuzigt worden. Der Satz 'Mein Gott, warum hast Du mich verlassen' ist ja nicht nur ein geistlich-beruhigender Satz, sondern auch ein Satz, der einen tiefen Riss noch mal ins Zentrum des christlichen Glaubens hineinsetzt."

Es liegt auf der Hand, dass die Piusbrüder und ihre Gesinnungsgenossen angesichts solcher Äußerungen Zeter und Mordio schreien und dem Pater Breulmann umgehend den Scheiterhaufen an den Hals wünschen würden. Das spricht aber - auch wenn sie selbst das Gegenteil behaupten würden - weniger für ihre Glaubenstreue als für ihre Verbohrtheit. Pater Breulmanns feinsinnige Interpretation von 'Gólgota Picnic' belegt eindrucksvoll, dass die Kirche es nicht nötig hat, nach Verboten zu schreien, weil sie in der Lage ist, Antworten zu geben. Auch wenn zu befürchten ist, dass diese Antworten nur vergleichsweise Wenige erreichen.