Als ich neulich meiner Liebsten voller Begeisterung von meinem Abi-Jahrgangstreffen in Nordenham berichtete, fiel mir wieder ein, dass ich vor einigen Wochen auf meinem Blog in Aussicht gestellt hatte, zu erläutern, wie es eigentlich dazu gekommen ist, dass in meinem Abiturzeugnis – immerhin ein amtliches Dokument! – steht, ich hätte an der Jazztanz-AG teilgenommen. Was dahintersteckt, ist tatsächlich eine interessante Geschichte; mehr noch, ich halte es nicht für übertrieben, zu sagen, dass die Ereignisse, Erlebnisse und Entscheidungen, die mit diesem ominösen Zeugniseintrag zusammenhängen, meinen weiteren Lebensweg nachhaltig geprägt haben.
Beginnen möchte ich mit einem Satz, den der damalige Vorsitzende (bzw., wie es intern hieß, Kønig) des Abi-Party-Komitees – heute Professor für Arbeits- und Organisationspsychologie – bei einer Jahrgangsversammlung äußerte: "Hier reden alle vom Abi, aber entscheidend ist doch, was danach kommt!" Ein Satz, dem viele Lehrer, Eltern und andere Autoritätspersonen vermutlich ernst blickend zugestimmt haben würden, allerdings meinte er diese Aussage etwas anders: Er bezog sich damit auf die diversen Feiern, die sich traditionell an die überstandenen Abiturprüfungen anschlossen – vom Abi-Scherz über das Abi-Zelten am Strand und den Festakt zur Zeugnisverleihung (zumeist "Abi-Verabschiedung" genannt) bis hin zum Abi-Ball in der Stadthalle. Und auch wenn das alles, naturgemäß und wie schon gesagt, erst nach den Prüfungen über die Bühne ging, mussten diese ganzen Events, die – wie im Folgenden zu schildern sein wird – ein umfangreiches und vielseitiges Showprogramm umfassten, ebenso naturgemäß parallel zu den Abiturprüfungen geplant, vorbereitet und einstudiert werden. Wenn ich heute daran zurückdenke, was für ein Aufwand da betrieben wurde, drängt sich mir die Frage auf: Waren wir eigentlich total bekloppt?
Nun, urteile selbst, o Leser.
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Ein Foto mit hohem dokumentarischen Wert. |
Fangen wir mal mit dem Abi-Scherz an. Für diese Veranstaltung hatte sich in den Jahren "vor uns" ein gewisser Standard etabliert, zu dem es erstens gehörte, dass über Nacht die Eingänge des Schulgebäudes auf eine Weise präpariert wurden, die es erschwerte, hineinzukommen (möglichst ohne dass dabei ernsthafter Schaden entstand; Faustregel: Eingänge mit Luftballons füllen – gut; Türschlösser verkleben – schlecht), und zweitens, dass auf dem Schulhof eine Bühne aufgebaut wurde, auf der nach der dritten oder vierten Unterrichtsstunde eine Art Spielshow stattfand; das Grundprinzip dieser Show bestand darin, dass ausgewählte Lehrkräfte dazu verdonnert wurden, an mehr oder weniger albernen Spielen teilzunehmen. An die Abi-Scherze in meinen ersten beiden Schuljahren am Nordenhamer Gymnasium habe ich kaum Erinnerungen, aber 1991 – in dem Jahr, in dem meine Schwester Abitur machte – wurde der Abi-Scherz gekonnt im Stil großer Fernsehshows wie "Wetten, dass...?" inszeniert, und das setzte natürlich Maßstäbe für die folgenden Jahrgänge. Andererseits standen wir, als unser Jahrgang an der Reihe war, vor dem Problem, dass unsere unmittelbaren Vorgänger es ziemlich übertrieben hatten und dass es, nachdem Teile des Abijahrgangs stark alkoholisiert zu der Veranstaltung erschienen waren und einige besonders verhasste Lehrer im Rahmen der Show auf eine Weise gedemütigt worden waren, die schon nicht mehr lustig war, zeitweilig in Frage stand, ob die Schulleitung den Abi-Scherz überhaupt genehmigen würde. Da mussten wir im Vorfeld einiges an Überzeugungsarbeit leisten.
An dieser Stelle möchte ich mal kurz aus der chronologischen Erzählreihenfolge aussteigen und erwähnen, dass es einen vierstündigen Film über unsere diversen Abi-Feiern gibt, den ich noch irgendwo auf VHS-Kassette haben müsste; und am Abend vor dem Jubiläumstreffen postete eine der Teilnehmerinnen einige Ausschnitte aus diesem Film in der zur Koordination des Treffens eingerichteten WhatsApp-Gruppe. Darunter war auch ein Auftritt meiner Band beim Abi-Scherz; und bei der Jubiläumsfeier sagte unser damaliger Keyboarder – der bei genau diesem Stück allerdings, nach seinen eigenen Worten zum ersten und einzigen Mal in seinem Leben, Bass spielte – zu mir:
"Ich hab mir nochmal die Aufnahme davon angesehen, wie wir damals live auf der Bühne 'Thunderstruck' gespielt haben – also das war schon cool... Vielleicht hätten wir da einfach dranbleiben und Rockstars werden sollen."
Tja. Vielleicht. Das erklärt nun allerdings immer noch nicht, wie der Eintrag in Sachen "Jazztanz-AG" in meinem Abiturzeugnis zustande gekommen ist. Aber keine Bange, es hängt damit zusammen.
Und dann war da ja auch noch, wie gesagt, die Band. Im Großen und Ganzen kam die Musik für die Jazztanz-Aufführung beim Abi-Ball zwar vom Playback (bzw., im Fall einiger Solo-Gesangsnummern, Halbplayback). Allerdings gab es eine (nicht in den Verantwortungsbereich der "Textgruppe" fallende) Szene zum Thema "Rebellion im Klassenzimmer", die, wie sollte es anders sein, in den Song "Another Brick in the Wall, Part II" von Pink Floyd münden sollte. An dieser Szene war auch der schon erwähnte "Kønig" des Party-Komitees beteiligt, und eines Tages – nicht einmal während einer Probe, sondern einfach so in der Mensa – sagte dieser aus heiterem Himmel: "Ich fänd's so geil, wenn Groby das Solo live spielen würde." Damit meinte er den Gitarristen meiner Band (oder vielleicht wäre es korrekter, zu sagen, dass ich der Schlagzeuger in seiner Band war, aber das mal nur nebenbei). Wir schauten uns an und dachten: Also, wenn schon, dann müssten wir als Band den ganzen Song live spielen und nicht nur Groby das Solo. Könnten wir aber machen. Das Problem an der Geschichte war, dass Groby in dieser Szene den Lehrer spielte und an dieser Stelle auch unersetzlich war, da er eine extrem treffende Imitation eines bei den Schülern berüchtigten Chemielehrers aus dem Ärmel zu schütteln vermochte. Gleichzeitig war er aber unter den des Gitarrespielens mächtigen Schülern des Jahrgangs der einzige, dem man es zutrauen konnte, das Solo aus "Another Brick in the Wall" zu spielen, und das war ja auch der Ausgangspunkt der ganzen Idee gewesen. Was also tun? Wir kalkulierten: Die "Rebellion im Klassenzimmer"-Szene sollte darin gipfeln, dass die Schüler ihren Lehrer zu den Klängen von "Another Brick in the Wall" aus dem Klassenraum (d.h. von der Tanzfläche) tragen. Wenn wir nun aus den Reihen unserer Mitschüler einen zusätzlichen Rhythmusgitarristen rekrutieren würden – den wir, nicht zuletzt für die Abi-Hymne ("Thunderstruck" von AC/DC, wie schon erwähnt), sowieso gut gebrauchen konnten –, dann könnten wir den Song bis zum Solo auch ohne unseren Leadgitarristen spielen; dieser müsste dann schnell hinter der Bühne die Brille und den Pullover ablegen, die sein Lehrerkostüm bildeten, dann auf die Bühne eilen, seine Gitarre einstöpseln und das Solo spielen.
Dieser Ablauf wurde NIE, nicht ein einziges Mal, unter Originalbedingungen geprobt. Er klappte aber. Wir hatten im Vorfeld abgesprochen, dass wir den Einsatz zum Solo nötigenfalls um vier Takte hinauszögern könnten, ohne dass es auffallen würde, aber nicht einmal das war nötig.
Aber noch einmal zur Arbeit der "Textgruppe": Von den vier Mitgliedern dieser Gruppe waren drei im selben Deutsch-Leistungskurs, der Vierte im Bunde hatte denselben Deutschlehrer im Grundkurs, und ich glaube, das trug durchaus dazu bei, dass wir kreativitätsmäßig alle so ziemlich auf derselben Wellenlänge waren. Auf Wunsch der AG-Leiterin hätte eigentlich noch ein fünfter Schüler in der Textgruppe mitarbeiten sollen, der dann aber doch nie zu den Arbeitstreffen auftauchte (was uns zu dem Insiderwitz veranlasste, in mehrere unserer Szenen dem Satz "Wo ist eigentlich Martin?" einzubauen), dafür aber eine extrem witzige Solonummer zu dem Ufa-Schlager "Jawohl, meine Herr'n" zum Programm beisteuerte. Mit den konzeptionellen Vorgaben für unsere Beiträge gingen wir im Laufe der Zeit immer freier um; nachdem wir schon in die ersten Szenen allerlei running gags und "surreale Elemente", wie wir das nannten, eingebaut hatten, hatten wir ab der vierten Szene endgültig keine Lust mehr auf realistisch sein wollende Szenen aus dem Schüleralltag, sondern gestalteten zum Thema "Leistungsdruck" eine Szene mit Gespenstern, die sich auf dem Friedhof darüber unterhalten, woran sie gestorben sind; zur Gestaltung der fünften Szene äußerte ich den spontanen Einfall "Vier wandelnde Schüler-Rollenklischees treffen sich in einer Vollmondnacht, um ihren Lehrer zu töten", und zu meiner eigenen Überraschung gingen meine Teamkollegen auf diesen Vorschlag ein (ein echtes Highlight dieser Szene war, dass jedesmal, wenn auf der Bühne eine Nadel in die Voodoopuppe gestochen wurde, ein Publikum sitzender Lehrer einen Schmerzensschrei ausstieß!); und zum Thema "Lehrervergreisung" parodierten wir den "Prolog im Himmel" aus Goethes "Faust": Die Engel preisen Gott für dessen herrliche Schöpfung, nämlich die Lehrer; dann tritt jedoch der Teufel auf und macht sich über die tattrigen Greise lustig, woraufhin Gott einen Lehrer (unseren gemeinsamen Deutschlehrer nämlich) mit sämtlichen Licht- und Soundeffekten, die die Stadthalle hergab, "verjüngt". (Daran anschließend führten acht Lehrer eine HipHop-Tanznummer auf.)
Da die ganze Show aber nun mal eine Veranstaltung der Jazztanz-AG war, überrascht es wohl nicht, dass das eigentliche Herzstück des Programms aus drei großen Tanznummern bestand – die ich "groß" nenne, weil daran jeweis mindestens dreizehn Tänzerinnen beteiligt waren (ich habe es anhand von Foto- und Videoaufnahmen nachzuzählen versucht). Beim ersten dieser drei Stücke – "Ich hab kein' Bock mehr", eine spaßkulturtypische deutsche Version des Ragga-House-Hits "I Like to Move it" von Reel 2 Real – war die Besetzung sogar noch größer, da waren auch Jungs dabei, dafür war aber auch die Choreographie vergleichsweise die einfachste; anspruchsvollere Choreographien gab's zu "I Am What I Am" aus "Ein Käfig voller Narren" (mit live gesungenem Intro) und einer Instrumentalnummer aus "A Chorus Line" (mit einer anschließenden Gesangsnummer aus demselben Musical).
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Ich schätze mal, ein Foto aus dieser Entfernung dürfte keine Datenschutz-Probleme aufwerfen. |
Ich schätze mal, diese Schilderung vermittelt einen Eindruck, mindestens aber eine Ahnung davon, was für einen Aufwand es erforderte, das alles auf die Bühne zu bringen, und falls nicht, sei dem geneigten Leser gesagt, dass ich in der heißen Phase der Proben mehrere Nachmittage pro Woche in der Turnhalle des Gymnasiums verbrachte. Und das war zwar ein Riesenspaß, aber gleichzeitig eben auch Mühe und Arbeit. Die Folge war, dass ich mir irgendwann sagte: Wenn mir etwas, was so anstrengend ist, gleichzeitig so viel Spaß macht, sollte ich vielleicht in Erwägung ziehen, beruflich etwas in dieser Richtung zu machen. Tja, und das war für mich ein wesentlicher Faktor für die Entscheidung, neben Germanistik auch Theaterwissenschaft zu studieren (und nicht, wie ich zuvor durchaus erwogen hatte, Soziologie oder Politologie).
Und auch wenn ich beruflich letzten Endes doch nicht am Theater gelandet bin, steht es für mich dennoch außer Frage, dass die Erfahrungen von Abi-Scherz und Abi-Ball-Aufführung wesentliche Voraussetzungen dafür geschaffen haben, dass ich später ungefähr sieben Jahre lang – in unterschiedlichsten Funktionen, von der Backstage-Künstlerbetreuung bis zur Moderation – an einem studentischen Varietétheater-Projekt beteiligt war, eine Reihe von Low- bzw. No-Budget-Theaterproduktionen auf die Beine gestellt habe, auf Kleinkunstbühnen aufgetreten bin und an Hörspielen und Kurzfilmen mitgewirkt habe. Und alle diese Tätigkeiten haben mir natürlich wiederum Erfahrungen und Begegnungen vermittelt, die ihrerseits wieder entscheidenden Einfluss auf meinen weiteren Lebensweg gehabt haben. Rockstar geworden bin ich mit alledem vielleicht nicht, aber manchmal denke ich mir doch, ich bin diesem Ziel zeitweilig näher gekommen, als ich es mir in meiner Kindheit und frühen Jugend hätte träumen lassen. Und wenn ich darüber nachdenke, was für einen großen Anteil die Jazztanz-AG des Gymnasiums Nordenham daran gehabt hat, obwohl ich niemals Jazz getanzt habe, muss ich ein bisschen schmunzeln – und finde diesen Eintrag in meinem Abiturzeugnis doch irgendwie berechtigt.
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