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Dienstag, 9. Mai 2023

Auf der Werft der Erneuerung?

Guten Tag, Leser. 

Ich habe sehr ernsthaft erwogen, diesmal, ganz gegen meine Gewohnheit, auf einen induktiven Einstieg zu verzichten, um das Risiko zu vermeiden, dass dieser Einstieg zu lang gerät und die ersten Leser schon aussteigen, bevor ich überhaupt zum eigentlichen Thema gekommen bin. Aber dann begegnete mir die folgende Zeitungsmeldung: "Junger Wolfsbergerin wurde Firmung verweigert: Vater ist empört, Bekannte traten aus der Kirche aus", so war's in den Unterkärntner Nachrichten zu lesen. Der ganze Artikel steht in der Online-Ausgabe nur registrierten Nutzern zu Verfügung, aber dem Teaser-Absatz kann man immerhin noch entnehmen: "Weil sie die freiwilligen [!] Vorbereitungstermine zur Firmung nicht oft genug besucht habe, wurde einem Mädchen die Firmkarte und damit die Firmung vorenthalten". Ohne nun näher auf die konkreten Einzelheiten dieses Vorgangs einzugehen, möchte ich hierzu die folgende Frage aufwerfen: Wie würde man die Entscheidung, die Zulassung zur Firmung von der Teilnahme an Vorbereitungsterminen abhängig zu machen, im Sinne des guten alten bösen alten innerkirchlichen Lagerdenkens einordnen? – Ich lasse mich nötigenfalls korrigieren, aber ich bin mir annähernd sicher, ohne genauere Kenntnis der konkreten Umstände würden die Allermeisten diese Entscheidung – und zwar unabhängig davon, ob sie darüber empört sind oder sie gutheißen – als Ausdruck einer konservativen Gesinnung beurteilen. 

Und nun die Pointe: Als bei der Würzburger Synode gefordert wurde, ein '"Taufgespräch' mit den Eltern eines Täuflings" als "streng verpflichtend" einzuführen, waren es gerade die Konservativen unter Führung von Kardinal Höffner, die daraus lediglich eine "Empfehlung" machen wollten (Plate, S. 110; Literaturangaben am Ende des Artikels). 

Was will ich damit sagen? Dass die Vokabel "konservativ" als Bezeichnung für bestimmte innerkirchliche Richtungen und Strömungen unzulänglich ist, weil sie von Fall zu Fall mal dies, mal jenes und bei Bedarf auch das Gegenteil bedeuten kann, je nachdem, wie es denen, die diese Bezeichnung in abwertender Absicht benutzen, gerade in den Kram passt? – Ja, schon, durchaus. Aber allein dafür würde dieser Artikel sich nicht lohnen, denn das sage ich ohnehin bei jeder Gelegenheit. Worauf ich im vorliegenden Artikel speziell hinaus will, ist die Beobachtung, dass das Lagerdenken innerhalb der Kirche, und damit die Einordnung bestimmter Standpunkte als "progressiv" oder "konservativ", seit dem II. Vatikanischen Konzil eine komplexe, zuweilen widersprüchliche, auf jeden Fall aber interessante Geschichte durchlaufen hat; und mein Eindruck ist, dass speziell für Deutschland der Würzburger Synode eine zentrale Rolle in dieser Geschichte zukommt. 

Das mag für jemanden, der die entscheidenden zwei Jahrzehnte älter ist als ich und die Zeit der Würzburger Synode bewusst miterlebt hat, eine wenig originelle Erkenntnis sein, aber mein Eindruck ist, dass die Würzburger Synode bis vor relativ kurzer Zeit, nämlich bis die Verfechter des Synodalen Wegs sie als Vorläufer ihrer eigenen Bestrebungen (wieder-)entdeckten, in der jüngeren deutschen Kirchengeschichte so etwas wie der etwas peinliche Onkel war, über den man nicht redet. Und wenn heute doch wieder über sie geredet wird, dann vielfach auf eine Weise, die eigentümliche Ähnlichkeit mit der Erinnerungskultur hinsichtlich der Revolutionen von 1848 und 1968 hat: Ihre Anhänger halten sie für gescheitert (aber in ihrem Scheitern ehrenwert), während ihre Gegner meinen, dass sie leider erfolgreich war. (Auch das wiederholt sich übrigens beim Synodalen Weg: Jedes "Lager" scheint überzeugt, die jeweilige Gegenseite habe gewonnen.) 

Zum Stichwort "Erinnerungskultur" sei übrigens erwähnt, dass Peter Seewald in seiner über 1100 Seiten starken Biographie Benedikts XVI. die Würzburger Synode auf nur zwei Seiten abhandelt; in den "Letzten Gesprächen", die gewissermaßen einen "Teaser" zu dieser Biographie darstellen, wird sie sogar überhaupt nicht erwähnt. Dabei war der damalige Regensburger Professor Ratzinger durchaus an der Synode beteiligt – wenn auch nur vorübergehend: Wie Seewald schreibt, war er "plötzlich verschwunden" und "entschuldigte sich mit 'Arbeitsüberlastung' und 'gesundheitlichen Gründen'" (Seewald, S. 574). Den Kirchenjournalisten Manfred Plate, der das maßgebliche Buch über die Würzburger Synode geschrieben hat, verärgerte Ratzingers Rückzug so sehr, dass er ihn in passiv-aggressiver Manier dafür abkanzelt, ohne ihn beim Namen zu nennen: "Einige resignierten– wir wollen ihren Namen nicht nennen. Ein bekannter Theologieprofessor sprach sogar von einer 'Schwatzbude' – kein Ruhmesblatt für ihn, der Wertvolles hätte beitragen können" (Plate, S. 55).

Ebenfalls nur kurze Zeit an der Würzburger Synode beteiligt war die Schriftstellerin Ida Friederike Görres: Während einer Sitzung der Sachkommission "Gottesdienst - Sakramente - Spiritualität" am 15. Mai 1971 in Frankfurt am Main erlitt sie eine Gehirnblutung, an der sie tags darauf starb. Klingt makaber und ausgedacht, ist aber tatsächlich wahr. 

Nun aber mal der Reihe nach: Was war die Würzburger Synode und warum? – Die "Gemeinsame Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland", die ihre umgangssprachliche Bezeichnung "Würzburger Synode" dem Tagungsort der Vollversammlung, dem Würzburger Dom, verdankt – wurde am 3. Januar 1971 eröffnet, endete am 23. November 1975 und sollte explizit dem Zweck dienen, die Reformimpulse des II. Vatikanischen Konzils in die kirchliche Praxis in Deutschland umzusetzen. Eine Besonderheit dieser Veranstaltung war, dass es keine reine Bischofssynode war, sondern dass auch Priester, Ordensleute und Laien – die teils von der Deutschen Bischofskonferenz, teils von den einzelnen Bistümern und teils vom "Zentralkomitee der deutschen Katholiken" für diese Aufgabe ausgewählt worden waren – in ihr Rede- und Stimmrecht hatten. Der bereits erwähnte Manfred Plate, seinerzeit Chefredakteur von "Christ in der Gegenwart", urteilt im Vorwort seines Buches "Das deutsche Konzil", die Würzburger Synode sei "ohne das zweite Vatikanische Konzil nicht denkbar. Sie ist [...] im Niveau und in der Durchbruchskraft ihrer Debatten dieser weltweiten Versammlung von Bischöfen durchaus würdig. Die neue Ära der Kirchengeschichte, die damals eingeleitet wurde, hat hier ihre Fortsetzung gefunden. Die 'Gemeinsame Synode' war ein 'institutionalisierter Dialog' von Laien, Priestern, Ordensleuten und Bischöfen, wie ihn das Konzil nicht besser hätte wünschen können" (Plate, S. 5). Man sieht, der Autor hält mit seinem kirchenpolitischen Standpunkt nicht sonderlich hinter den Berg. Zwar präsentiert sich das Buch als vermeintlich sachlich-informativer Bericht über die Würzburger Synode, aber schon in der Zeittafel kann der Verfasser es sich nicht verkneifen, absolut alles zu bewerten, und das oft implizit und mit äußerst manipulativer Sprache – wir werden noch Beispiele dafür zu sehen bekommen. Dabei wird Plates Herumreiten auf seinem ideologischen Standpunkt schnell langweilig: Man ist ja selber auch nicht ganz doof und kann sich schon denken, wie Plate über Dieses und Jenes denkt. Ein aufschlussreiches Stück Lektüre ist "Das deutsche Konzil" nichtsdestoweniger: "Auch der Außenstehende kann hier erfahren, was in den katholischen Bistümern Westdeutschlands vorgeht, welche Tendenzen und Strömungen sich da entwickelt haben, wie der 'Pluralismus' und die 'Polarisierungen' sich darstellen", lobt der Verfasser sich im Vorwort selbst (ebd.), und man kann sagen was man will: Da hat er Recht. – Davon, wie die Synode von den Zeitgenossen wahrgenommen wurde und welche Stimmung damals insgesamt in der Kirche herrschte, vermittelt eine Ansprache des damaligen Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Döpfner, bei der 4. Vollversammlung der Würzburger Synode im November 1973 einen recht farbenprächtigen Eindruck:

"Die Stürmer und die Verteidiger in der Kirche treffen sich gelegentlich in einer Resignation, der die Kirche als Schiff älterer Bauart erscheint, das die Sturmböen der neuen Entwicklung demnächst zum Wrack zerschlagen werden. Ihnen muss widersprochen werden. Sie haben das falsche Bild gewählt. Diese Kirche liegt nicht auf der Sandbank der Zerstörung, sondern auf der Werft der Erneuerung... Dort kann es laut, windig, ungemütlich und gelegentlich gefährlich sein. Aber dort werden Schiffe nicht verschrottet, sondern ausgerüstet zu neuer Fahrt..." (zit. n. Plate, S. 66). 

Man mag dem wenige Jahre später überraschend verstorbenen Kardinal hier einen nicht ganz realitätsadäquaten Zweckoptimismus attestieren, aber rhetorisch ist das durchaus großes Kino. – Übrigens lassen Plates Schilderungen es durchaus plausibel erscheinen, dass heutige Verfechter des Synodalen Wegs sich mit ihrer Agenda in der Tradition der Würzburger Synode sehen: Nicht nur bezüglich mancher besonders heiß unstrittener Themen – Priesterweihe an "bewährte verheiratete Männer" ("viri probati"), Diakonat der Frau, Lauen- äh, Laienpredigt, die Frage nach der Möglichkeit, "geschiedene Katholiken, sie einer neuen (unerlaubten und ungültigen) Ehe leben, zur Kommunion zuzulassen" (Plate, S. 25) – bieten sich dem geneigten Beobachter allerlei dejà-vû-Erlebnisse dar, sondern auch bezüglich des Stils und Verlaufs der Debatten und der Entscheidungsfindung. So berichtet Plate, dass es schon in der konstituierenden Sitzung, in der der "vorbereitete Themenkatalog [...] gebilligt" werden sollte, "zum ersten Streitgespräch auf der Synode" kam: "[D]er Kirchenrechtler Prof. Flatten wünscht eine enge dogmatische Eingrenzung der Debatten, Prof. Karl Rahner tritt ihm entgegen und erklärt unter dem Beifall des Plenums, dass man auch die Freiheit haben müsse, umstrittene Probleme zu diskutieren" (Plate, S. 20). Diese Intervention Rahners kann man wohl kaum anders als manipulativ und demagogisch nennen: Natürlich muss man "umstrittene Probleme diskutieren" können und dürfen – was gäbe es sonst zu diskutieren? –; der eigentliche Punkt ist aber doch, dass dogmatische Positionen unter gläubigen Katholiken gerade nicht umstritten sein sollten. Mit der Ablehnung einer "dogmatischen Eingrenzung" der Debatten wird die Position des kirchlichen Lehramts letztlich zu einer bloßen Meinung unter anderen Meinungen degradiert. Da haben wir gleich ganz zu Beginn quasi den Sündenfall der Synode, und im Folgenden kann man dann beobachten, wie die Bischöfe sich (zumeist vergeblich) mühen, diesen Geist, nachdem er einmal aus der Flasche heraus ist, wieder einzufangen. 

So sorgt es in der zweiten Vollversammlung für "erhebliche Erregung", dass die Bischofskonferenz – "[o]hne mit den Organen der Synode gesprochen zu haben" – beschlossen hat, "dass die Synode über die Frage, ob man in seelsorglicher Notlage 'bewährten verheirateten Männern' die Priesterweihe spenden soll, keine Entscheidung fällen darf" (Plate, S. 25): "Man dürfe zwar darüber diskutieren (das hat die Synode später auch getan), aber sie dürfen weder ein Votum an Rom richten noch Empfehlungen für künftige Entscheidungen aussprechen. Als Grund wurde angegeben: man wollen niemandem 'falsche Hoffnungen' machen. Vorläufig [!] werde es keine verheirateten Priester geben" (Plate, S. 128). Die Folge: "66 Synodale unterschrieben ein Dokument gegen diese Entscheidung der Bischöfe, aber nach einer erregten Debatte zogen sie ihren Antrag als aussichtslos zurück" (Plate, S. 129). Damit aber noch nicht genug: 

"In einer Debatte werden die Bischöfe unter atemloser Stille des Plenums von einzelnen Rednern hart zurechtgewiesen. So könne man nicht mit verantwortlichen Gliedern des Gottesvolkes umspringen! Minutenlanger Beifall. Weihbischof Moser rettet die Situation, indem er den Fehler der Bischöfe offen zugibt und sogar 'um Vergebung' bittet. Man spricht von einer 'Lern- und Sternstunde' der Synode" (Plate, S. 25). 

"Ein weiterer Vorbehalt der Bischöfe" (ebd.) betrifft die Frage der wiederverheirateten Geschiedenen: Die Bischofskonferenz "erlaubte nicht zu erklären, dass auch bei Aufrechterhaltung einer solchen Ehe jemand 'aus Barmherzigkeit' zur Kommunion zugelassen werden dürfe" (Plate, S. 209) – was, laut Plates Einschätzung, "vielen zu einem Ärgernis wurde" (ebd.): 

"Obwohl die Moraltheologen Argumente um Argumente beibrachten und man auf eine weitgehend andere Praxis hinwies [!], war diese starre Haltung nicht zu brechen. Bekannte Theologen, hochstehende Kirchenmänner und Wissenschaftler von Rang setzen sich ein – vergebens. Die Gesetzlichkeit siegte. Aus diesem Grund wäre die Vorlage mit Recht [!] beinahe abgelehnt worden" (Plate, S. 209f.). 

Und Plate schließt mit dem vage nach Drohgebärde klingenden Satz: "Die Zeit wird beweisen, ob dieses Zurückweichen der Synoden Mehrheit vor dem unbeugsamen Willen der Bischöfe sinnvoll war" (Plate, S. 210). 

Ganz anders läuft es beim Thema Laienpredigt. Hier gibt es "[k]urz vor der für die Januar-Sitzung 1973 angesetzten zweiten Lesung [...] einen überaus harten Einspruch des für diese Materie zuständigen Kurienkardinals Wright": "Der Text der Synode widerspreche dem geltenden katholischen Kirchenrecht und könne so [...] nicht verabschiedet werden. Wenn die Synode es trotzdem tue, sei er 'ungültig'!" (Plate, S. 134). Und wie reagiert die Deutsche Bischofskonferenz? "Sie weist den römischen Einspruch als völlig unbegründet zurück" (Plate, S. 135) – und zwar "energisch" und "gemeinsam mit allem Synodalen" (Plate, S. 28). Es ist wohl keine allzu große Überraschung, dass Plate der Meinung ist, mit dieser Reaktion hätten die deutschen Bischöfe sich "glänzend geschlagen": "Diese Solidarisierung der Bischofskonferenz mit den Bestrebungen der Mehrheit der anderen Synotenmitglieder – die erste im Verlauf der Beratungen – hatte eine wohltuende Wirkung" (Plate, S. 135), und: "Dieser Mut" – merke: "Mutig" ist man immer nur, wenn man auf der richtigen Seite steht – "zeigt, dass die Bischöfe nicht einfach nur 'Bremser' sind" (Plate, S. 28). Plate nennt die Debatte der zweiten Lesung am 4. Januar 1973 einen "Höhepunkt der Synode" (S. 28), zugleich aber "trotzdem eine der heftigsten der Synode" (S. 135): "Eine kleine, aber einflussreiche Minderheit" – kommen uns solche Formulierungen irgendwie bekannt vor? – "stellte sich auf die Seite der römischen Kurie gegen die Haltung der Mehrheit der Deutschen Bischofskonferenz. Sie setzte sich nicht durch" (ebd.). – "Obwohl so prominente Redner wie Kardinal Höffner gegen die Vorlage sprechen, wird sie mit überwältigender Mehrheit angenommen: 234 Ja, 22 Nein, 7 Enthaltungen" (Plate, S. 28). 

Aber der eigentlich spannende Teil der Geschichte ist ja – wie eingangs schon angedeutet – nicht der, wo ein innerkirchliches "Lager" im Wesentlichen immer noch dieselben Forderungen vertritt wie vor 50 Jahren, allenfalls noch weiter radikalisiert und um Elemente von LGBT- und Gender-Ideologie ergänzt, von denen in den 70ern außer ein paar Sexualwissenschaftlern an US-amerikanischen Unis noch niemand zu träumen wagte, sondern vielmehr der, wo sich die Etikettierung bestimmter Positionen als "progressiv" bzw. "konservativ" nahezu in ihr Gegenteil verkehrt hat. Um darauf zu kommen, muss ich nochmals etwas ausholen. 

Wenn – wie Plate zu Recht betont – die Würzburger Synode nur vor dem Hintergrund des II. Vatikanischen Konzils verstanden und beurteilt werden kann, so lässt sich dasselbe über die Einordnung innerkirchlicher Strömungen als "konservativ" respektive "progressiv" sagen. Hier herrscht vielfach eine geradezu babylonische Begriffsverwirrung, die daher rührt, dass dieselben Bezeichbungen für die Kategorisierung ganz unterschiedlicher  Phänomene verwendet werden. So zählt Plate in seiner Übersicht über die verschiedenen "Fraktionen" innerhalb der Synode  "ungefähr 70 Synodalen" zu den "sogenannten Konservativen" – unterscheidet dann aber zwei "Flügel": "ein[en] gesellschaftspolitische[n] und ein[en] theologische[n]. Der erste orientierte sich an Kräften aus dem Verbandskatholizismus, die der CDU nahestehen [...]. Der zweite drang unermüdlich darauf, in theologischen Texten die 'Vertikale', die Sprech- und Denkweise der Schultheologie, zu beachten" (S. 61). Man fragt sich: Haben diese beiden "Flügel" über die Tatsache hinaus, dass man ihre Standpunkte in unterschiedlichen Kontexten und aus unterschiedlichen Gründen als "konservativ" einordnen kann, etwas miteinander gemeinsam? Falls ja, verrät Plate uns nicht, worin diese Gemeinsamkeit besteht. 

Nicht minder bemerkenswert ist es, dass Plate als eine "organisierte Gemeinschaft" der Konservativen eine "Priesterbewegung für konziliare Erneuerung" nennt (ebd.); allein vom Namen her würde man diese Vereinigung ja nun gerade nicht für "konservativ" halten. Ein klares Indiz dafür, wie weit die Vorstellungen darüber, was die wahre "konziliare Erneuerung" sei, innerkirchlich auseinander gingen – und wie sehr die Etikettierung dieser Richtungen als "konservativ" respektive "progressiv" somit einseitig präjudiziert ist. In diesem Zusammenhang mag man sich auch fragen, wie sich die Darstellung der deutschen Bischöfe als konservative "Bremser" im Reformprozess – wiederum ein Narrativ, das sich bis in die Berichterstattung über den "Synodalen Weg" durchzieht – mit der bekanntermaßen ausgesprochen progressiven Rolle in Einklang bringen lässt, die die deutschen Bischöfe auf dem Konzil gespielt haben und die sich etwa in der Redensart "Der Rhein fließt in den Tiber" ausdrückte. Hierzu setzt Plate zu einer Erklärung an, die bei aller einseitigen Voreingenommenheit doch halbwegs überzeugend gerät: 

"Als das Konzil beendet war, stand die deutsche Kirche in einer schwierigen Situation. Ihre Vertreter hatten in Rom zu jenen gehört, die die von Papst Johannes XXIII. angestrebte Öffnung zur Welt von heute gegen den Widerstand der sogenannten 'Konservativen' unterstützt hatten. Aber jeder, der die Realität der katholischen Kirche Deutschlands kannte, wusste, dass nicht alles, was in konziliarer Hochstimmung gesprochen worden war, sich mit den tatsächlichen Verhältnissen daheim deckte. Die deutsche Kirche war sicher eine sehr fortschrittliche Kirche, in der Theologie, in der liturgischen und biblischen Bewegung, in vielen pastoralen Bereichen, wie zum Beispiel in der Jugendarbeit. Auf der anderen Seite aber war sie auch recht konservativ: in ihrem Verhältnis zu Politik und Gesellschaft, zur 'Welt', in der Betonung der hierarchischen Verantwortung der Bischöfe, in der Stellung zur Konfessionsschule und zur Rolle des Konfessionellen überhaupt" (S. 45). 

So sehr an dieser Darstellung zweifellos etwas Wahres dran ist, so sehr zeigt sie doch bestenfalls die halbe Wahrheit. Abgesehen davon, dass hier unter dem Etikett "konservativ" auch hier wieder ein recht buntes Sammelsurium von Einstellungen zusammengefasst wird, deren einziger gemeinsamer Nenner offenbar das (vermeintliche oder tatsächliche) "Festhalten am Althergebrachten" ist – darauf wird noch zurückzukommen sein –, wäre hier jedenfalls noch ein Hinweis auf ein Phänomen am Platz, das Plate selbst an anderer Stelle als "nachkonziliare Polarisierung" anspricht (Plate, S. 12): In seiner Zeittafel zur Vorgeschichte der Würzburger Synode stellt Plate schon für Ende 1966 – das "Ende des ersten nachkonziliaren Jahres" – fest, "dass sich die Kirche in leidenschaftliche innere Kämpfe verstrickt hat" (Plate, S. 13). Als Belege hierfür nennt er eine "Ansprache Papst Pauls VI. vor dem Internationalen Theologenkongress in Rom" am 1.10.1966, in der der Papst "zur größeren Achtung vor der kirchlichen Lehrautorität" aufruft, sowie den Umstand, dass der "'Holländische Katechismus' [...] als erster Versuch einer nachkonziliaren Theologie für breitere Kreise [...] in Rom wegen Häresie angezeigt" wird (Plate, S. 12). Das Spannende ist hier, dass diese "nachkonziliare Polarisierung" sich vorrangig innerhalb der Reihen derer vollzog, die während des Konzils zu den Reformern gezählt wurden. Diejenigen, die den Reformansätzen des II. Vaticanums von vornherein skeptisch bis ablehnend gegenüberstanden und es im Grunde bevorzugt hätten, wenn in der Kirche (nicht nur liturgisch) alles so geblieben wäre, wie es vor dem Konzil war, sind noch einmal eine ganz andere Kategorie; diese sammelten sich in der Folgezeit in traditionalistischen Gemeinschaften oder drifteten gar in den Sedisvakantismus ab. Es ist daher ausgesprochen verfehlt, wenn in innerkirchlichen Auseinandersetzungen die (ihrem Selbstverständnis nach) "Progressiven" ihren Gegnern pauschal unterstellen, zu "vorkonziliaren Verhältnissen" zurück zu wollen, und ihnen nahe legen, sie könnten doch einfach zur Piusbruderschaft gehen.

In diesem Zusammenhang möchte ich auf das 1967 in den USA verfasste, 1968 auf deutsch erschienene Buch "Das Trojanische Pferd in der Stadt Gottes" von Dietrich von Hildebrand verweisen, von dem ich finde, es sollte für das Verständnis der "nachkonziliaren Polarisierung" und ihrer bus heute anhaltenden Auswirkungen Pflichtlektüre sein. Hildebrand spricht mit ausdrücklicher Hochachtung über das II. Vatikanische Konzil und bewertet dessen Anliegen, den Glauben der Kirche inmitten einer im Umbruch befindlichen Welt auf neue Weise zu kommunizieren und dabei Verengungen und Erstarrungen zu überwinden, die sich in "vorkonziliarer" Zeit in der Glaubensverkündigung und -praxis breit gemacht haben, als legitim und notwendig. Seine scharfe Kritik gilt hingegen denjenigen Theologen, die unter (fälschlicher) Berufung auf den Geist des Konzils die tradierte Lehre der katholischen Kirche von Grund auf dekonstruieren wollen -- beziehungsweise "[b]ewaffnet mit Schlagworten wie dem von der Anpassung an den wissenschaftlichen Geist der Zeit oder an die geschichtliche Epoche, in der der Mensch reif und mündig geworden sei, [...] das Recht [beanspruchen], Änderungen an der Lehre der Kirche selbst vorzunehmen" (Hildebrand, S. 71). Man könne sich, so Hildebrand, "des Eindrucks nicht erwehren, daß viele der progressistischen Katholiken in Wirklichkeit ihren christlichen Glauben verloren haben und nun verzweifelt versuchen, durch verworrene und prätentiöse Konstruktionen sich und andere über diese traurige Tatsache hinwegzutäuschen" (Hildebrand,  S. 244).

Positionen in der innerkirchlichen Debatte danach zu beurteilen, ob sie "konservativ" oder "progressiv" seien, lehnt Hildebrand prinzipiell ab; ja, er betrachtet eine solche Sichtweise sogar als "ein offenkundiges Symptom für einen intellektuellen und sittlichen Verfall" (Hildebrand, S. 138). Konservativ oder progressiv zu sein, sei zunächst einmal eine "temperamentmäßige Veranlagung" (Hildebrand, S. 18), und eines sei nicht besser als das andere:

"Es gibt zweifellos Menschen, die an dem Bekannten, Gewohnten hängen, noch unabhängig von seinem spezifischen Gehalt. Etwas ist ihnen lieb und vertraut, weil sie daran gewöhnt sind, weil es den selbstverständlichen Rahmen für ihr Leben abgibt. Alles Neue, Ungewohnte erschreckt sie und erfüllt sie mit Verdacht – eben weil es ihnen ungewohnt ist. Wir können solche Menschen ihrem Temperament nach als 'konservativ' bezeichnen. Für einen anderen Menschentypus hingegen besitzt alles Neue, Ungewohnte eine besondere Anziehungskraft: etwas ist ihnen lieb, weil es neu ist; das Gewohnte langweilt sie eher; die Gewohnheit hat sie für seinen Gehalt abgestumpft. Sie verlangen nach Wechsel und genießen etwas um so mehr, je neuer es ihnen ist. Solche Menschen können wir als 'progressiv' bezeichnen" (Hildebrand, S. 17f.).

Diese charakterliche Prädisposition dürfe jedoch nicht die "Stellung zur Wahrheit und zu echten Werten" beeinflussen:
"Angesichts einer [...] Frage, bei der es allein auf die wahre Antwort ankommt, von 'konservativ' und 'fortschrittlich' zu sprechen, ist nicht nur sinnlos, sondern sogar ausgesprochen dumm. Denn jedes andere Motiv als das der Wahrheit ist ebenso unsachlich, wie wenn jemand ein Bild für schön hält, bloß weil es sein Vetter gemalt hat. Wir müssen ein für allemal verstehen, daß an allem Wahren und wahrhaft Wertvollen festzuhalten – unabhängig von allen Schwankungen der Zeitmode – nicht das Symptom einer konservativen Haltung ist, sondern die Antwort auf eine im Wesen der Wahrheit und des Wertes gelegene Forderung. Es wäre offensichtlich ein Unsinn, jemanden als konservativ zu bezeichnen, weil er sein ganzes Leben daran festhält, daß zwei und zwei vier ist. Sobald jemand nicht versteht, daß das Festhalten an einer Wahrheit - unabhängig von aller temperamentmäßigen Veranlagung - die einzig vernünftige, sachgemäße Antwort ist, sondern dies als konservative Haltung bezeichnet, beweist er, daß er das Wesen der Wahrheit nicht verstanden hat" (Hildebrand, S. 18f.).

Der Hinweis auf das "Wesen der Wahrheit" ist hier von äußerster Wichtigkeit. Ich schrieb vor Jahren schon mal, ich hätte den Eindruck, der entscheidende Unterschied zwischen den im kirchlichen Kontext als "konservativ" und "progressiv" (oder "liberal") bezeichneten Gruppen sei nicht so sehr, dass sie unterschiedliche Dinge für wahr halten, sondern vielmehr, dass sie unterschiedliche Auffassungen von Wahrheit haben. – Hildebrand jedenfalls betont: "Wenn die Lehre der Kirche nicht auf der unveränderlichen, göttlichen Offenbarung gegründet ist, sondern sich mit der Zeit ändern kann - wenn es nicht dasselbe Evangelium ist, das [...] die ganze Geschichte hindurch verkündet wird - dann bricht die Berechtigung der apostolischen Mission der Kirche 'Gehet hin und lehret alle Völker' zusammen." (Hildebrand, S. 119). 

Festzuhalten ist jedenfalls, dass die Frage nach dem Wesen der Wahrheit sowie, davon nicht gänzlich zu trennen, konkurrierende Auslegungen des Konzils, für die später die Bezeichnungen Hermeneutik der Kontinuität und Hermeneutik des Bruches geprägt wurden, in der Nachkonzilszeit zu einem Auseinanderdriften von Positionen innerhalb des Lagers der Reformer führten, und dieser Prozess war zur Zeit der Würzburger Synode noch keineswegs abgeschlossen. Während, wie wir gesehen haben, bestimmte Themen und Forderungen damals wie heute prominente Plätze auf der "progressiven" Agenda einnehmen, gibt es andererseits auch das Phänomen, dass bestimmte Positionen (und nicht etwa nur deren Vertreter) vom "progressiven" ins "konservative" Lager wechseln und umgekehrt. Besonders deutlich lässt sich das an einem Themenbereich aufzeigen, dem Plate in seinem Buch ein Kapitel mit der Überschrift "Volkskirche oder Freiwilligenkirche?" widmet. Außer in dieser Überschrift bevorzugt er statt "Freiwilligenkirche" allerdings die Bezeichnung "Gemeindekirche" – und beschreibt den Unterschied zwischen dem so bezeichneten Kirchenmodell und dem Modell Volkskirche wie folgt:

"Volkskirche: eine Kirchenordnung die dem Einzelnen viel Entscheidungslast abnimmt, wo es legitim ist, aus Gründen der Pietät – der Familie, dem Volk, der Kulturtradition gegenüber – einer Kirche anzugehören und regelmäßig deren Gottesdienste zu besuchen. Die Glaubensentscheidung kann so in einer christlich getönten Umwelt fast ganz übergangen werden, ohne dass man die Kirche zu verlassen braucht. Man wird in die Kirche hineingeboren und bleibt – sogar praktizierend – in ihr.
Gemeindekirche: hier wird Zuwendung aus einer Glaubensentscheidung verlangt. Man gehört bewusst zur Kirche, wird gefordert, hat Mitverantwortung, empfindet mehr als 'Respekt' vor den Traditionen, wird nicht mehr als Seelsorgeobjekt 'versorgt'; die Taufe ist nicht eine von der Umwelt verordnete Eingliederung in eine vorgegebene Größe, es geht um den Glauben, den ich selber als Person Gott gegenüber verantworte, die Gemeinde ist keine anonyme Amtskirche, sondern Gemeinschaft von Gläubigen, die sich gemeinsam für die Sendung in die Welt hinein verantwortlich wissen" (Plate, S. 106f.). 

Interessant ist an dieser Gegenüberstellung zweier Kirchemmodelle zunächst, dass sie erhebliche Ähnlichkeit mit der religionssoziologischen Unterscheidung von "Kirche" und "Sekte" hat, wie wir sie bei Max Weber und Ernst Troeltsch finden und auf die ich schon öfter hingewiesen habe; auf die Bezeichnung "Sekte" wird noch zurückzukommen sein. Sodann fällt es auf, dass es damals die "Konservativen" waren, die am volkskirchlichen Modell festhielten, während der "gemeindekirchliche" Ansatz als "progressiv" galt. Das hat sich heute nahezu um 180 Grad gedreht. Ich sage "nahezu", weil es die "volkskirchlichen Konservativen", wie ich sie fortan mal nennen möchte, durchaus noch gibt; an der Basis, unter den regelmäßigen Gottesdienstbesuchern, dürften sie sogar eine recht signifikante Größe darstellen, aber im derzeitigen Ringen um die zukünftige Gestalt der Kirche spielen sie, meiner Wahrnehmung zufolge, praktisch keine Rolle. Auf der anderen Seite muss man natürlich betonen, dass diejenigen "liberalen Christen", die sich heute als Verteidiger des "Modells Volkskirche" positionieren, damit nicht die vorkonziliare Volkskirche meinen – denn die gibt es schlichtweg nicht mehr. Vielmehr geht es ihnen darum, die Restbestände der volkskirchlichen Strukturen dadurch zu "retten", dass man sie zur Dienstleistungskirche umgestaltet – etwas, wogegen sich die ursprüngliche "Konzilsgeneration" mit Händen und Füßen gewehrt haben würde. (Aber das – dass die nachkonziliaren Progressiven, von Lothar Zenetti bis Johann Baptist Metz, stets betonten, es sei gerade nicht ihre Absicht, den Gläubigen ihr Christsein einfacher ubd bequemer zu machen, vielmehr wollten sie ihnen mehr Hingabe, mehr Eifer, mehr Glaubensernst zumuten und abverlangen – ist ein Thema, das ich wohl lieber mal in einen zukünftigen Blogartikel auslagern sollte, um hier nicht vollends den ohnehin schon recht strapazierten Rahmen zu sprengen.) 

Bevor ich der Frage nach den Ursachen dieses Paradigmenwechsels weiter nachspüre, sei noch erwähnt, dass Plate meint, es sei "keine Frage", dass "durch die Liturgiereform [...] in der katholischen Volkskirche die gemeindekirchlichen Tendenzen in einem Ausmaß verstärkt worden" seien, "das man anfangs nicht unbedingt beabsichtigt hatte", und schwärmt: "Wo die Erneuerung aufgenommen wurde, bildete sich lebendige Gemeinschaft um den Altar und damit 'Gemeindekirche'. Volkskirchliche Züge wurden zurückgedrängt und teilweise sogar zerstört" (Plate,  S. 107). – Nun gut: Leute, die die Nachkonzilszeit bewusst und z.T. aktiv miterlebt haben, schwelgen nicht selten bis heute gern in Erinnerungen daran, was für eine Aufbruchsstimmung, was für eine Begeisterung damals durch die Gemeinden wehte, und da ich diese Zeit selbst nicht miterlebt war, kann ich nicht beurteilen, inwieweit das tatsächlich so war und inwieweit da nachträgliche Verklärung eine Rolle spielt; fragen darf man aber allemal, warum dieser Aufschwung des Gemeindelebens so wenig nachhaltig war. Plate führt dies offenbar darauf zurück, dass die "gemeindekirchlichen" Impulse des Konzils und der Liturgiereform aus Rücksicht auf die konservativen Volkskirchen-Anhänger nur zögernd und halbherzig umgesetzt wurden; ich hingegen habe den Verdacht, es dürfte auch eine Rolle gespielt haben, dass diese "gemeindekirchliche" Bewegung, da sie praktisch ausschließlich von den "Progressiven" getragen wurde, eine unheilvolle Verbindung mit einer grundsätzlichen Skepsis gegenüber Tradition, Dogma und Hierarchie einging und dadurch allzu schnell in politisch-sozialen Aktivismus einerseits und Esoterik und Synkretismus andererseits abdriftete, man könnte auch sagen: in pelagianische und gnostische Häresien. (Auch daran könnte man der Verweigerungshaltung der volkskirchlichen Konservativen wohl eine gewisse Mitschuld zuweisen, aber auch da ist der empirische Befund komplexer, als man von der Theorie her vermuten würde. Sogar der in vielerlei Hinsicht stramm konservative, in späteren Jahren gar des Rechtsextremismus verdächtigte "Komm-mit-Kalender" war Anfang der 70er Jahre voll auf Gemeindekirche eingestellt. Aber auch das ist ein Thema, auf das ich vielleicht lieber ein andermal zurückkomme.) 

Ein Kipppunkt in der Haltung der innerkirchlichen "Lager" hinsichtlich der Frage "Volkskirche oder Gemeindekirche?" zeichnet sich bei Plate ab, als er die Anmerkung in den Raum stellt: "Gemeindekirchliche Vorstellungen wurden 'unnötig elitär' genannt. Läuft vielleicht die liturgische Erneuerung auf die Errichtung einer Gemeindekirche sektiererischen Charakters hinaus?" (S. 108) – Der Vorwurf, ein Kirchenmodell, das dem einzelnen Mitglied mehr aktive Beteiligung und Eigeninitiative abverlangt und damit auch mehr Eigenverantwortung aufbürdet, sei "elitär", wurde ursprünglich wohl von "konservativer" Seite formuliert, hat die "Progressiven" aber offenbar nachhaltig verunsichert. Denn elitär, das wollen sie auf keinen Fall sein – auch wenn bzw. gerade weil sie es tatsächlich oft sind: Die "einfachen Leute" haben nämlich in aller Regel ein eher konservatives Temperament (im Sinne Hildebrands), und das können sich die "progressiven" Intellektuellen nur damit erklären, dass die "einfachen Leute" eben irgendwie ein bisschen doof sind. – Heute wird der Vorwurf, Forderungen nach mehr "gemeindekirchlichen" Formen würden die Kirche "zur Sekte machen", ja bevorzugt von "progressiver" (oder jedenfalls "liberaler") Seite erhoben, womit der angesprochene Paradigmenwechsel wohl komplett wäre. 

Angemerkt sei übrigens noch, dass einer der wohl prominentesten Vertreter der These, die Zukunft der Kirche liege in ihrer Transformation von der Volks- zur Freiwilligenkirche, von jeher ein gewisser Joseph Ratzinger war. In dieser Hinsicht führt eine gerade Linie von seinem aufsehenerregenden "Hochland"-Aufsatz ("Die neuen Heiden und die Kirche") aus dem Jahr 1958 zu seiner "Entweltlichungs"-Rede im Freiburger Konzerthaus im Jahr 2011. – "Sie haben stets betont, dass es Ihrerseits eine Kehrtwende zu Ihrem früheren Denken nicht gegeben hat", merkt Peter Seewald in den "Letzten Gesprächen" an, worauf der emeritierte Papst schlicht erwidert: "Ich glaube, das kann jeder, der meine Sachen liest, bestätigen" (Letzte Gespräche, S. 185). Wie sehr sich trotz dieser Konsistenz die öffentliche Wahrnehmung Ratzingers alias Benedikts XVI. im Laufe der Jahrzehnte gewandelt hat – vom reformorientierten Konzilstheologen zum erzkonservativen Hardliner, der zuletzt noch als "Schattenpapst" die Reformbestrebungen seines Nachfolgers hintertrieben habe –, ist ein besonders eindringlicher Beleg dafür, wie sich die Maßstäbe dafür, was im kirchlichen Kontext "progressiv" und was "konservativ" sei, in dieser Zeit verschoben haben. Zum Teil ist es der Fortschrittsideologie der Moderne sicherlich inhärent, dass man nie fortschrittlich genug sein kann: der Fortschritt schreitet unerbittlich weiter fort, und wer stehen bleibt, fällt zurück. Es kommt aber noch etwas anderes hinzu. In den "Letzten Gesprächen" sagt Benedikt XIV. mit Blick auf seine Studentenzeit über sich und seine Kommilitonen: "Wir waren fortschrittlich. Wir wollten die Theologie von Grund auf erneuern und damit auch die Kirche neu und lebendiger gestalten. [...] Hier wollten wir mit der Kirche vorangehen, überzeugt, dass sie gerade auf diese Weise wieder jung wird" (Letzte Gespräche, S. 101). Und als Peter Seewald ihn fragt, ob er sich beim Konzil dem "progressiven" Lager zugehörig gefühlt habe, bejaht er das – und erläutert: "Damals bedeutete progressiv noch nicht, dass man aus dem Glauben ausbricht, sondern dass man ihn besser verstehen lernt und ihn richtiger, von den Ursprüngen her, lebt. Ich war damals noch der Meinung, dass wir das ja alle wollen." (Letzte Gespräche, S. 153f.) – Ich würde sagen, dieser Anspruch der progressiven Bewegung innerhalb der Kirche ist als Anspruch auch bei Plate noch zu spüren, aber bereits deutlich korrumpiert durch einen Geist des Ungehorsams und der Auflehnung gegen Tradition und Hierarchie, durch Bequemlichkeit, falsches (weltliches) Fortschrittsdenken und noch verschiedene andere Tendenzen, über die Hildebrand in "Das Trojanische Pferd in der Stadt Gottes" – ich kann dieses Buch wirklich nicht g'nug empfehlen! – allerlei zu sagen hat und die Benedikt hier in dem schlichten Befund zusammenfasst, "dass man aus dem Glauben ausbricht"

Bevor ich zum Schluss komme, muss ich aber doch noch einmal einen Bogen zurück zu meinem Ausgangspunkt schlagen: Die Debatte darüber, ob Taufgespräche verpflichtend oder nur als Empfehlung eingeführt werden sollten, stellt ein für mich auf den ersten Blick überraschendes, aber jedenfalls bezeichnendes Beispiel für den "volkskirchlichen" Standpunkt der damaligen Konservativen dar. Wenn man einmal anfängt, darüber nachzudenken, gibt es allerdings tatsächlich plausible Gründe, aus einer konservativen Position Einspruch gegen ein verpflichtendes Taufgespräch zu erheben. Gültig und wirksam ist ein Sakrament "ex opere operato", noch dazu ist die Taufe heilsnotwendig – will man es da wirklich verantworten, unnötige Hürden vor dem Zugang zur Taufe zu errichten? – Ich wage dennoch zu behaupten, heutzutage werden Einwände gegen katechetische Mindestanforderungen für die Zulassung zu den Sakramenten tendenziell eher nicht von konservativer Seite erhoben. (Es gibt allerdings Ausnahmen.) Umgekehrt scheint es, dass die Lehre von der Wirksamkeit der Sakramente "ex opere operato" in jüngerer Zeit gerade von "progressiver" Seite dazu herangezogen wird, weitreichende Befugnisse für Laien in der Kirche zu fordern, und man fragt sich zuweilen: Glauben die das eigentlich echt oder wollen sie nur die "Konservativen" mit deren eigenen Waffen schlagen?; aber das gehört nun thematisch schon eher in den kommenden Artikel "Der Geist und die Synodalen"

Für diesmal sei das Schlusswort wiederum Joseph Ratzinger alias Benedikt XIV. gewährt. Schon vor dem eigentlichen Beginn der Würzburger Synode, im April 1970, merkte er in einem Vortrag im Münchner Kardinal-Wendel-Haus an: "Man klagt darüber, dass die große Menge der Gläubigen im Allgemeinen zu wenig Interesse für die Beschäftigung mit der Synode aufbringe" – fügte jedoch hinzu, "dass mir diese Zurückhaltung eher ein Zeichen von Gesundheit zu sein scheint": Es sei nicht nur "verständlich", sondern "objektiv kirchlich gesehen auch richtig", dass den Menschen "die Geschäftigkeit des kirchlichen Apparats, von sich selbst reden zu machen, allmählich gleichgültig wird". Die Gläubigen möchten schließlich "nicht immer neu weiter wissen, wie Bischöfe, Priester und hauptamtliche Katholiken ihre Ämter in Balance setzen können, sondern was Gott von ihnen im Leben und im Sterben will und was er nicht will" (zit. n. Seewald, S. 574f.). Und im Oktober 1972 beklagte er in einem weiteren Vortrag, "die tatsächlichen Aussagen und Absichten des Vaticanum II" gerieten zusehends in "Vergessenheit": Sie würden "zunächst durch die Utopie eines kommenden Vaticanum III und dann durch Synoden abgelöst [...], die vom Vaticanum II allenfalls den 'Geist', aber nicht die Texte gelten lassen – den 'Geist', das bedeutet hier: die Zuwendung zur Zukunft als dem Feld der unbegrenzten Möglichkeiten" ( zit. n. Seewald, S. 575). 


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Literaturangaben: 

  • Benedikt XIV.: Letzte Gespräche. Mit Peter Seewald. München: Droemer, 2016 
  • Dietrich von Hildebrand: Das Trojanische Pferd in der Stadt Gottes. Aus dem Englischen übertragen von Josef Seifert. Regensburg: Habbel, 1968. 
  • Manfred Plate: Das deutsche Konzil. Die Würzburger Synode – Bericht und Deutung. Freiburg/Basel/Wien: Herder, 1975 
  • Peter Seewald: Benedikt XVI. Ein Leben. München: Droemer, 2020. 

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