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Freitag, 10. September 2021

Wenn es keine Wahl gibt bei den Wahlen

Eigentlich wollte ich ja noch was zu den Wahlen schreiben, und so langsam läuft die Zeit dafür ab; also habe ich mir gedacht, ich nähere mich dem Thema mal von der Peripherie her: In meinem Heimatstädtchen Nordenham werden nämlich schon an diesem Sonntag ein neuer Stadtrat und ein neuer Bürgermeister gewählt, und da ich in mehreren Nordenham-Gruppen auf Facebook bin, bekomme ich so allerlei davon mit. Die Stimmung in diesen Gruppen ist im Vorfeld der Wahl recht aufgeheizt, und was mich selbst betrifft, muss ich sagen, dass ich die Situation mit gemischten Gefühlen betrachte. Einerseits bin ich ein entschiedener Verfechter des Subsidiaritätsprinzips und daher theoretisch der Meinung, Kommunalwahlen seien die wichtigsten Wahlen überhaupt. Andererseits hat die Tatsache, dass ich in Butjadingen und Nordenham aufgewachsen bin und dort als Teenager und junger Erwachsener meine ersten Erfahrungen mit politischer Arbeit gesammelt habe, erheblich dazu beigetragen, dass ich ein Demokratieverständnis entwickelt habe, für das es geradezu grundlegend ist, Politikern zu misstrauen. So ähnlich wie in Douglas Adams' "Macht's gut und danke für den Fisch", wo von einem Planeten die Rede ist, der von Eidechsen regiert wird: Die Leute auf dem Planeten hassen die Eidechsen, aber sie wählen sie trotzdem, weil sie fürchten, wenn sie nicht wählten, würde womöglich die falsche Eidechse ans Ruder kommen. 

(Symbolbild) 

Auf dem Planeten Nordenham sind die Eidechsen üblicherweise in der SPD. Seit Menschengedenken wird die Kommunalpolitik im Städtchen von der SPD dominiert. Natürlich gibt es anderswo in Deutschland Kommunen, wo die CDU (oder in Bayern die CSU) diese Rolle spielt; ich möchte behaupten, das macht praktisch keinen Unterschied. Wo über Jahrzehnte hinweg de facto eine Einparteienherrschaft besteht, da spielt es im Grunde keine Rolle, wie diese Partei heißt oder wofür sie ihrem Parteiprogramm zufolge angeblich steht: Die Partei deckt praktisch das gesamte politische Spektrum in ihren eigenen Reihen ab; dass es auch noch andere Parteien gibt, ist eher eine Formsache. 

Letzteres zeigt sich übrigens auch darin, dass sich, wenn zufällig doch mal jemand von einer anderen Partei ans Ruder kommt, an den politischen Verhältnissen am Ort nichts Wesentliches ändert: Wie Benedict Anderson in "Die Erfindung der Nation" schreibt (oder zitiert er da nur jemanden? Hab das Buch gerade nicht zur Hand, empfehle es aber wärmstens), sind die realen Herrschaftsverhältnisse vergleichbar mit den elektrischen Leitungen in einem Palast: Bei einem Machtwechsel zieht zwar ein neuer Hausherr in den Palast ein, aber wenn er auf den Lichtschalter drückt, passiert trotzdem dasselbe wie unter dem früheren Hausherrn. In Nordenham wurde 2003 tatsächlich mal ein CDU-Kandidat zum Bürgermeister gewählt, und das endete ein paar Jahre später mit einer Verurteilung wegen Bestechlichkeit und versuchter Erpressung. Bei der aktuellen Wahl kandidiert der Sohn des CDU-Bürgermeisterkandidaten auf Platz 1 der CDU-Liste für den Stadtrat -- und dessen Frau auf Platz 1 der Grünen-Liste. Wer möchte es da den Nordenhamern verübeln, wenn sie doch lieber wieder SPD wählen wie schon immer. 

-- Nun ja, ein bisschen verüble ich es ihnen schon. Auf Facebook kursiert ein von der SPD Nordenham produziertes Video, in dem sich eine junge Frau (ich nenne sie "jung", weil sie so alt ist wie ich, und ich finde, das ist für Nordenhamer Verhältnisse noch relativ jung -- aber vielleicht spricht da auch nur meine Eitelkeit aus mir) für den SPD-Bürgermeisterkandidaten Nils Siemen ausspricht. U.a. aus Rücksicht auf meine Familie schaue ich mir Facebook-Videos in der Regel ohne Ton an, und so kam ich in den Genuss der automatisch erstellten Untertitel zu diesem Video. Und ich muss schon sagen, automatisch erstellte Untertitel kennen keine Gnade und machen keine Gefangenen. Was die Frau in dem Video - den automatischen Untertiteln zufolge - angeblich sagt, ist Wort für Wort dies: 

[Anfang fehlt] für Nord Hamm ist, weil er einfach ein toller Netzwerker ist. Er bedingt durch seine Tätigkeit bei der Wirtschaftsförderung Wesermarsch äh kennt er viele Menschen, die äh wichtige Entscheidungen treffen und er wird von der SPD unterstützt, eine starke Partei, die über tolle bündnis- und landespolitische Krise zusammengetagt und nur über diese Politiker ist es möglich, dass wir Fördergelder generieren für Norden Hamm. ähm eine Stadt, die mit einer Klammkasse leben muss und wenn hier etwas bewegen möchten im Norden Hamm, dann brauchen wir einfach jemanden, der Siemen, der die Netzwerke hat der Fördergelder generieren kann, damit wir vielleicht ein fahrradfreundliches Morgen haben, irgendwann einmal sind oder vielleicht auch unseren Strand relativieren. Ja, ich denke, dass wir mit ihm einen tollen Kandidaten haben den jeder unterstützen will. 

-- Okay, ich bin ein bisschen gemein. Die automatische Untertitelung zu diesem Video ist unter anderem deshalb so schlecht, weil es - wie ich festgestellt habe, als ich versuchsweise doch mal den Ton einschaltete - irre viele Nebengeräusche gibt: Anscheinend wurde es in einem Zelt auf dem Marktplatz aufgenommen, während nebenan eine Band spielte, oder so. Nichts gegen "Atmo", aber man kann's auch übertreiben. Trotzdem versteht man ja so ungefähr, was sie meint

Nämlich dies: Man soll Nils Siemen zum Bürgermeister wählen, weil er so ein toller Netzwerker ist. "Netzwerker" ist übrigens die Selbstbezeichnung eines parteiinternen Flügels der SPD, aber ich bezweifle, dass das hier gemeint ist; gemeint ist wohl eher oder jedenfalls in erster Linie, dass Siemen gute Kontakte und Beziehungen hat. Weil er in der richtigen Partei ist und außerdem aus der Wirtschaftsförderung kommt. Und solche Kontakte und Beziehungen braucht es, um Nordenham nach vorne zu bringen. Toll, oder? Woanders würde man bei einem solchen Politikverständnis von Filz, Klüngel oder Korruption sprechen; in Nordenham gilt das als normal. So normal, dass man ganz offen damit Wahlkampf machen kann. 

Interessant ist auch, dass die Frau, die in diesem Video zu sehen und zu hören ist, durchaus keine zufällig auf dem Marktplatz aufgegabelte Passantin ist, sondern selbst für die SPD für den Stadtrat kandidiert. Das wurde wohl "vergessen" zu erwähnen. Nicht dass jemand denkt, dieser Umstand habe irgendeinen Einfluss auf ihre Meinung zum Bürgermeisterkandidaten der SPD. 

Übrigens, da ich ja erwähnte, dass die Dame so alt ist wie ich, ist es wohl kaum überraschend, dass ich sie von früher her kenne -- allerdings eher flüchtig; so flüchtig, dass ich erst mal überlegen musste, wer das noch war. Zunächst lockte mich wohl auch ihr Name auf die falsche Spur: Ich hatte auf dem Gymnasium eine Mitschülerin mit demselben Nachnamen, deshalb überlegte ich zunächst, ob diese Dame vielleicht ihre Schwester sei. Aber dann fiel mir ein: Nee, Quatsch, sie ist die Schwester von jemandem, mit dem ich vor ewigen Zeiten mal in einer Theatergruppe gespielt habe -- und sie war damals schon mit dem Bruder der besagten Mitschülerin zusammen und hat ihn inzwischen offenbar geheiratet. 

Tja. Wahrscheinlich ist das so, wenn man aus einer Stadt wie Nordenham kommt und es nicht rechtzeitig schafft, von da wegzukommen. Irgendwann heiratet man sein High School Sweetheart und kandidiert für die SPD für den Stadtrat. 

Etwa zwei Wochen vor dem Wahlkampfvideo für Nils Siemen war sie mir schon einmal durch einen Facebook-Beitrag mit Bezug zum Kommunalwahlkampf aufgefallen: Darin beklagte sie sich bitterlich über eine anonyme, gegen die SPD gerichtete Plakatkampagne, die den Umstand, dass die Nordenhamer Stadtverwaltung im Zuge der Greensill-Pleite 13,5 Millionen Euro in den Sand gesetzt hat, als "13,5 Mio. Gründe, nicht die SPD zu wählen", bezeichnete. Eine "Schandtat" sei diese Plakataktion, so meine Altersgenossin wörtlich. Zahlreiche Reaktionen auf Facebook zeigen, dass sie mit dieser Einschätzung nicht allein steht. Also, ich weiß ja nicht. Sicherlich kann man darüber streiten, inwieweit die Nordenhamer SPD für diesen Millionenverlust verantwortlich zu machen ist; und tatsächlich ist es hierzulande nicht legal, Plakate zu kleben, auf denen kein "V.i.S.d.P." angegeben ist. Mein punk-inspiriertes Rechtsverständnis würde das allerdings eher unter "ziviler Ungehorsam" verbuchen. In Nordenham hingegen gilt so etwas als Majestätsbeleidigung, wenn nicht sogar als Blasphemie. 



3 Kommentare:

  1. Danke für diese treffende Schilderung der Nordenhamer (kommunalpolitischen) Verhältnisse - in unserer Kleinstadt ist's nicht viel anders, ähnlich auch in den Städten und Gemeinden der Umgebung, soweit ich das als einfacher parteiloser jedoch wacher und politisch interessierter Bürger beurteilen kann.
    Hassen tue ich die kommunalpolitisch Aktiven nicht, allenfalls verachte ich einzelne, während ich andere (relativ wenige) respektiere und ganz wenige sogar schätze.
    Bin insgesamt froh, dass gerade den beiden letztgenannten Kategorien Zuzuordnende sich das doch immer noch antun und diesen Dienst für die Bevölkerung machen.

    Deshalb informiere ich mich permanent umfassend und gehe u. a. auch regelmäßig zur Wahl - damit ich die ganz miesen Reptilien wenn schon vielleicht nicht gänzlich verhindere, so doch in ihren Aktionsfeldern einhege und begrenze.

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    1. Die von mir gewählte Bezeichnung "Reptilien" hätte ich besser in Anführungsstriche gesetzt, damit die Anspielung auf Douglas Adams Roman von den da regierenden Eidechsen deutlich wird und nicht das Ganze mir nicht etwa doch noch als Diffamierung und hate speech ausgelegt wird.

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  2. Als "Dikaturgeschädigter" (CDU-Wanderwitz) weiß ich, daß der Zentalplansozialismus zwei Sozialtypen hervorgebracht hat: Den Plandiktator, der keine Einwände kennt, aber über die Realität nur bedingt informiert wird und es vielleicht auch garnicht wissen will, und den Anpassungsopportunisten, der es besser weiß, aber lieber schweigt und auf bessere Zeiten hofft. Könnte es sein, daß das bundesdeutsche Politsystem ebensolche Typen an die Macht bringt?
    Man kann aber annehmen, daß Plandiktatoren im wirtschaftlichen Wettbewerb über kurz oder lang wegkonkurriert werden, weil sie Innovationen behindern. Opportunisten und Schönredner können sich in wirtschaftlichen und politischen Verwaltungen eher etablieren. Das erklärt wohl, warum Bürokratie die Tendenz hat, unbegrenzt zu expandieren, alles in Verwaltung zu ersticken und immer weniger auf die Reihe zu kriegen. Ob man da letztlich auch darauf hoffen kann, daß irgendwann der Wettbewerb da radikal eingreift, ist wohl eine offene Frage.

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