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Mittwoch, 17. April 2013

God Gave Rock'n'Roll To You (I)

Dass ich selten und ungern etwas wegwerfe, was man "vielleicht irgendwann noch mal brauchen könnte", ist eine manchmal etwas lästige Angewohnheit, aber seit ich blogge, zahlt es sich doch immer mal wieder aus. So besitze ich z.B. heute noch ein vor ca. 8 Jahren als Magazin-Beilage zur Süddeutschen Zeitung erschienenes Heftchen über die "besten Anekdoten aus 50 Jahren Popgeschichte" - chronologisch geordnet, mit einer Anekdote aus jedem Jahr seit 1955. Da ist manches interessante Fundstück dabei, und nicht wenige davon beleuchten auch die religiöse Seite der Popkultur.

So bereits die Anekdote zum Jahr 1957, die sich um den Rock'n'Roll-Pionier und Profi-Exzentriker Little Richard (Richard Wayne Penniman, *1932) dreht. Der hielt im angegebenen Jahr den mit der Hündin Laika be"mann"ten Sputnik 2-Satelliten, den er während einer Australien-Tournee über den Himmel streifen sah, für einen Fingerzeig Gottes, dem Rock'n'Roll abzuschwören und sein Leben fortan der frommen Hingabe zu widmen; tatsächlich sagte er dem Showbusiness daraufhin Adieu und trat in eine Bibelschule in Huntsville/Alabama ein. Seine Abrechnung mit dem von ihm mitgeprägten Rock'n'Roll ist in  ihrer Griffigkeit und Prägnanz geradezu klassisch: "Rock'n'Roll ist vom Teufel, weil Rock'n'Roll dich dazu bringt, Drogen zu nehmen, und Drogen dich zu einem Homosexuellen machen." Chapeau - da könnte sich manch ein fundamentalistischer Traktatautor ein Beispiel dran nehmen.

Was in den 50er Jahren kulturelles Allgemeingut der bürgerlichen Gesellschaft war - dass Rockmusik die Jugend verroht, Gesetz und Ordnung untergräbt, die Moral zu Grunde richtet und den Verstand verwüstet, dass also, kurz gesagt, wer Rockmusik hört oder gar macht, auch kleine Kinder frisst -, ist eine Auffassung, die besonders in evangelikalen Freikirchen z.T. bis heute anzutreffen ist. Wer Rockmusik mag, sich aber trotzdem für keinen völlig degenerierten Menschen hält, mag sich über diese Sichtweise wundern. Da ist es gut, wenn einem mal jemand erklärt, was an Rockmusik eigentlich so schlimm ist. Etwas wortreicher als Little Richard tut dies der Schweizer Bibelschullehrer Roger Liebi in einer Broschüre, die ich einmal kostenlos in der Fußgängerzone von Celle in die Hand gedrückt bekam.

"Rockmusik!" ist die in sakralem Lila broschierte Schrift betitelt, darunter, in kleinerer Schrift: "Ausdruck einer Jugend in einem sterbenden Zeitalter". Der Untertitel ist aussagekräftig: Die Musik ist nicht das eigentliche Problem, sie ist nur ein Symptom, dessen Ursachen wesentlich tiefer liegen: Die Zeit ist kaputt. Auch das Ausrufezeichen im Titel ist bezeichnend: Dieses in der deutschen Schriftsprache normalerweise v.a. für Imperative und Interjektionen verwendete Satzzeichen benutzt Liebi gern und oft am Ende normaler Aussagesätze, offenbar, um damit Entrüstung, auch entrüstetes Erstaunen, auszudrücken bzw. beim Leser zu evozieren.

Monsieur Liebi holt weit aus, um die Rockmusik zu verdammen. Nach einer kurzen, im Großen und Ganzen korrekten Abhandlung über die Entstehung dieser Musikform lässt er sich über die kulturgeschichtlichen Voraussetzungen aus, die den immensen Erfolg dieser so barbarischen  Musik seiner Meinung nach erklären. Die Stichworte, in Form von Kapitelüberschriften: "Die Evolutionstheorie von Charles Darwin und die Krise des modernen Menschen"; "Existenzialismus" (auf einer halben Seite abgehandelt); "Aleister Crowley". Man könnte lachen, wenn's nicht so ernst gemeint wäre. Die Evolutionstheorie als Sündenfall des modernen Menschen gehört praktisch zwingend zum fundamentalistischen Repertoire: Eine Welt voller frommer, rechtschaffener Christen wird durch die gottlosen Lehren eines Darwin brutal vom rechten Weg gestoßen. Liebi folgert: Über die kurze Zwischenstufe des Existentialismus führt die Evolutionslehre geradewegs in den Satanismus.

Was das nun mit Rockmusik zu tun hat? - Mit wissenschaftlichem Anspruch erklärt Liebi seinen Lesern, dass Rockmusik durch ihre stilistischen Eigenarten und ihre Lautstärke körpereigene Rauschmittel freisetze, sexuell stimuliere und das kritische Bewusstsein ausschalte. Wer schon mal ein richtig gutes Rockkonzert miterlebt hat, wird wissen, dass da durchaus was Wahres dran ist. Einwenden könnte man hier freilich, dass dieses Freisetzen körpereigener Rauschmittel auch bei allerlei anderen Tätigkeiten ein durchaus erwünschter Effekt ist - beim Sport etwa, z.B. beim Marathonlauf; aber durchaus auch bei nicht wenigen religiösen Praktiken, zumal bei Bußübungen (Fasten, Schlafentzug...). In der Praxis des allem Anschein nach eher puritanisch inspirierten evangelikalen Fundamentalismus, wie ihn Roger Liebi vertritt, kommt dergleichen allerdings wohl eher weniger vor. Daher wäre es auch verfehlt, wenn etwa rationalistische Religionskritiker sich darüber mokieren wollten, dass gerade ein religiöser Fundi wie Liebi die Ausschaltung des kritischen Bewusstseins tadelt. Ich habe schon öfter darüber nachgesonnen - was hier und jetzt aber den Rahmen sprengen würde und daher nur angedeutet sei -, ob der strikte Buchstabenglaube, die, wenn man so will, Textfixiertheit evangelikaler Fundamentalisten nicht irgendwo sogar als ein (wenn auch illegitimes) Kind des Rationalismus betrachtet werden könne. Meiner persönlichen Erfahrung nach neigen Anhänger solcher ganz entschieden auf den Wortlaut der Schrift fixierten christlichen Glaubensrichtungen oft dazu, sehr "verkopft" zu sein und alles zu scheuen, was irgendwie nach Kontrollverlust riecht.

Das hat natürlich Gründe. Liebi verweist auf den Neurophysiologen und Nobelpreisträger Sir John Eccles (1903-1997), der die Existenz eines von der Materie des Gehirns unabhängigen Geists postulierte. "Wenn nun aber der Geist des Menschen passiv gemacht wird", argumentiert Liebi, "so kann sich ein 'anderer Geist' des Gehirncomputers bemächtigen" (S. 16). Zugegeben: Das ist durchaus auch gut biblisch. Denn wie sagte Jesus in Mt 12,43ff. über die Rückkehr der unreinen Geister:
"Ein unreiner Geist, der einen Menschen verlassen hat, wandert durch die Wüste und sucht einen Ort, wo er bleiben kann. Wenn er aber keinen findet, dann sagt er: Ich will in mein Haus zurückkehren, das ich verlassen habe. Und wenn er es bei seiner Rückkehr leer antrifft, sauber und geschmückt, dann geht er und holt sieben andere Geister, die noch schlimmer sind als er selbst. Sie ziehen dort ein und lassen sich nieder. So wird es mit diesem Menschen am Ende schlimmer werden als vorher."
Man tut also gut daran, seinen "Gehirncomputer" nicht unbeschäftigt zu lassen, auf dass die unreinen Geister es sich nicht gemütlich machen können. So weit, so gut. Zugunsten mehr oder minder 'berauschender' religiöser Praktiken, wie ich sie oben andeutungsweise angesprochen habe, ließe sich an dieser Stelle immerhin noch einwerfen, dass diese ja dazu dienen, sich Gott zu öffnen, und von Gott erfüllt zu sein - das heißt, im wörtlichen Sinne, "Enthusiasmus" - kann ja im Grunde nur gut sein. Wo aber Gott nicht ist, da lauert - zumindest im einigermaßen dualistisch anmutenden Weltbild mancher Glaubensgemeinschaften - allenthalben der Satan.

Und ganz besonders lauert er eben in der Rockmusik. Liebi betont, hier wie übrigens auch im Jazz seien afrikanische Einflüsse am Werk, die aus dem Kontext des "Götzendienstes" stammen. Eines Götzendienstes übrigens, zu dessen Kultpraxis auch etwas so Schauriges wie "Gruppensex" (S. 14) gehört habe. Dass die Anhänger von Naturreligionen - ohne sich dessen bewusst zu sein, die Armen - in Wirklichkeit den Teufel anbeten, steht für Liebi außer Frage, aber auch sonst ist interreligiöser Dialog seine Sache nicht - was z.B. deutlich wird, wenn er sich zu indischen Einflüssen in der Rockmusik (so bei den späten Beatles, bei Santana u.a.) äußert: "Durch all diese Einflüsse wurde das Denken unzähliger Jugendlicher hier im Westen durch hinduistische Ideen vernebelt" (S. 19f.). Nun gut, man sollte so fair sein, zuzugestehen, dass - da westliche Rock- und Jazzmusiker ihre persönlichen Zugänge zur hinduistischen Welt vielfach durch obskure Modegurus wie Maharishi Mahesh Yogi oder Sri Chinmoy vermittelt bekommen haben - an der Sache mit der "Vernebelung" im Einzelfall durchaus was dran sein mag. Aber so weit differenziert Liebi ja gar nicht erst. Lieber leitet er direkt über zu Okkultismus und Satanismus in der Rockmusik und behauptet in diesem Zusammenhang: "Im dem Song 'Sympathy for the Devil' beteten die Rolling Stones den Teufel an" (S. 20). Wer sich mal die Mühe macht, bei diesem, wie ich finde, höchst bemerkenswerten Song auf den Text zu achten, wird feststellen, dass das eine abstruse Unwahrheit ist.

Nun, die Eckpunkte der Debatte sind damit jedenfalls abgesteckt: Rausch, Ekstase, Drogen, Sex, der Teufel. Dass diese Themen sich in vielen Rock-Songtexten wiederfinden lassen, greift Liebi dankbar auf, weist aber mit Nachdruck darauf hin, dass es ihm nicht nur um die Texte geht, sondern noch viel mehr um die Musik selbst, die, "völlig unabhängig von ihrem Text, wegen der ihr eigentümlichen Stilmittel nicht wertneutral sein kann" (S. 28).

Mit dieser Auffassung, ich erwähnte es schon, steht Roger Liebi nicht allein. Von Verwandten und Bekannten, die freikirchlichen Gemeinden angehören, habe ich verschiedentlich gehört, was für heftige Auseinandersetzungen entstehen können, wenn jemand sich da anschickt, irgendwie rock-beeinflusste Musik ins Gemeindeleben zu integrieren, sei es direkt im Gottesdienst oder auch bei anderen Veranstaltungen. Immer wieder regen sich Stimmen, die insistieren, "christliche Rockmusik" könne es gar nicht geben, das sei ein Widerspruch in sich.

Es gibt sie aber natürlich doch. Und zwar gerade im freikirchlichen Milieu. Ebenso wie übrigens auch christlichen HipHop und vermutlich sogar christlichen Techno. Nun könnte man sich fragen, warum das so ist. Die Standardantwort derjenigen Christen, die diese Musik mögen oder selbst machen, lautet natürlich, man könne "jede Musik zur Ehre Gottes spielen". Da würden Liebi und seine Gesinnungsgenossen ja schon mal widersprechen; aber auch wenn man zustimmt, dass man das kann: Muss man? Zu welchem Zweck? Richtet sich die christliche Popmusikproduktion - es gibt da eigene Plattenlabels, eigene Festivals usw. - in erster Linie nach außen oder nach innen, will man dadurch Musikfans unterschiedlicher Couleur auf eine ihnen gemäße Weise an die christliche Botschaft heranführen oder eher vermeiden, dass die Jugendlichen aus den "eigenen Reihen" die Befriedigung ihrer musikalischen Vorlieben außerhalb des christlichen Spektrums suchen müssen (und somit über den Rock'n'Roll eben doch bei Sex & Drugs landen)? Und, die vielleicht gewichtigste Frage: warum ist christliche Rock- und Popmusik oft so uncool?

Fragen über Fragen. Ich schätze, dieser Beitrag will der Auftakt zu einer Serie werden. Bevor ich für heute schließe, muss ich jedoch noch einen Bogen zurück zum Anfang schlagen: zu Little Richards spektakulärer Bekehrung angesichts des Sputnik-Satelliten. Mancher Leser - so ging es jedenfalls mir, als ich die besagte Anekdote im SZ-Magazin las - wird sich gefragt haben: Ja Moment mal - schon 1957 hängte Little Richard seine Rock'n'Roll-Karriere an den Nagel und suchte seine Berufung in der Bibelschule? Da kann doch was nicht stimmen! - Stimmt aber doch; er ist nur nicht dabei geblieben. Schon fünf Jahre später stand Little Richard wieder auf der Bühne, unternahm eine Europa-Tournee, bei der - bei einem Auftritt in Hamburg - die noch wenig bekannten Beatles als Vorgruppe mit von der Partie waren, und nochmals einige Jahre später spielte Jimi Hendrix in seiner Begleitband. Letztlich bewirkte das Sputnik-Erlebnis somit lediglich eine vergleichsweise kurze Unterbrechung seiner Karriere; und wenn er nicht gestorben ist, dann rockt er noch heute...

2 Kommentare:

  1. Hey Hey, oh mei oh mei - bist Du high
    oder was?
    Super guter Artikel! :-)

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  2. Ich kann mit Rockmusik nur bedingt etwas anfangen (aus Gründen, die nichts mit Religion zu tun haben). Aber die Kantaten des Lutheraners Bach setzen bei mir durchaus Endorphine frei. Sexuelle Stimulation ist beim Betrachten von Gemälden des Calvinisten Rembrandt keineswegs ausgeschlossen. Mein kritisches Bewußtsein ist beim Singen der innigen Choräle des Lutheraners Paul Gerhardt deutlich unterbeschäftigt.
    Und wenn ich pseudowissenschaftlichen frömmlerischen Unfug lese, dann kann ich so richtig teuflisch grinsen. Oder aggressiv reagieren. In ganz schlimmen Fällen wachsen mir bei solcher Lektüre sogar Hörner.

    Übrigens merke ich an Liebi, wie alt ich bin. Das Wort "Gruppensex" habe ich zuletzt gelesen, als ich etwa 19 Jahre alt war, eher jünger. Traun fürwahr, wie hat sich doch die Sprache gewandelt.

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