Twitter kann ja oft ganz schön ärgerlich sein - frisst Zeit und verführt nur allzu leicht zu fruchtlosen Streitereien mit Blödköpfen -, aber ab und zu beschert einem die digitale Zwitschermaschine dann doch bemerkenswerte Entdeckungen, ohne die das Leben ärmer gewesen wäre. Neulich zum Beispiel wurde mir ein Tweet eines mir ansonsten unbekannten Nutzers in die Timeline retweetet, in dem dieser sinnierte, es sei doch eine sonderbare Vorstellung, dass Johnny Appleseed eine reale Person gewesen sei. Der Urheber des Tweets erhielt darauf eine Vielzahl von Antworten, unter anderem von jemandem, der erklärte, seine Frau sei mit dem echten Johnny Appleseed verwandt. Und ich dachte: Was? Wie? Wovon redet ihr?
Bezeichnend genug ist es übrigens, dass ich diese Tweets schon wenige Tsge später nicht mehr wiederfand. Warum? Weil man, wenn man bei Twitter "Johnny Appleseed" als Suchwort eingibt, eine unüberschaubare Menge an Fundstellen... äh... erntet. In den USA kennt diese halb legendäre, halb historische Gestalt offenbar buchstäblich jedes Schulkind -- genauer gesagt scheint seine Lebensgeschichte Lernstoff in der Grundschule zu sein, so ungefähr im zweiten Schuljahr. Und außerdem gibt es da diesen klassischen Disney-Film aus dem Jahr 1948.
"The Lord is good to me
And so I thank the Lord
For giving me the things I need:
The sun and rain and an appleseed" ---
Das klingt irgendwie #benOppig, dachte ich mir. Wenn es diesen Johnny Appleseed tatsächlich gab, wieso habe ich dann noch nie von ihm gehört? (Okay: "noch nie von ihm gehört" stimmt streng genommen nicht ganz, aber dazu später.) Kurzum, meine Neugier war geweckt -- und was ich bei einer ersten raschen Recherche herausfand, enttäuschte mich keineswegs: Der unter dem Namen Johnny Appleseed oder auf Deutsch auch als Hans Apfelkern bekannte amerikanische Volksheld, der mit bürgerlichem Namen John Chapman hieß und ungefähr von 1774 bis 1845 lebte, wird in der englischsprachigen Wikipedia-Version als "Missionar und Gärtner", in der deutschsprachigen gar als "ökologischer Pionier" geführt; seinen Ruhm verdankt er der Tatsache, dass er eigenhändig für die Verbreitung von Apfelbäumen im damaligen Wilden Westen sorgte, indem er - ausgerüstet mit einem Blechtopf, den er sowohl als Kochgeschirr wie auch als Hut benutzte, einer Bibel und einem Säckchen voller Apfelkerne - zwischen Pennsylvania und Illinois von Ort zu Ort zog und Aufzuchtgärten anlegte, die er dann der Obhut der örtlichen Siedler überließ. Zudem verkündete er das Evangelium unter den Indianern, die ihn als vom Großen Geist begnadet verehrten, und schloss Freundschaft mit wilden Tieren.
Eine Art Franz von Assisi des Wilden Westens also? --- Das wird man wohl mit einem klaren Jein beantworten müssen. Einen Wermutstropfen stellt es beispielsweise dar, dass Chapmsn alias Appleseed der sogenannten New Church angehörte, einer obskuren, theosophisch angehauchten Sekte, deren Glaubenslehre auf dem mystischen Schrifttum des schwedischen Spökenkiekers Emanuel Swedenborg (1688–1772) basierte.
Auch sonst bedarf die romantische Vorstellung von dem skurril gekleideten Vagabunden, der Apfelbäume pflanzt bzw. sät, wo immer er geht und steht, wohl der einen oder anderen Korrektur oder zumindest Relativierung. So gilt es zu bedenken, dass im Zuge der Besiedlung des Mittleren Westens das Anlegen von Obstgärten eine probate Methode war, den Wert eben erst erschlossener Grundstücke zu steigern; anschaulich geschildert wird diese Art der Bodenspekulation in Ferdinand Kürnbergers auch sonst sehr empfehlenswertem Roman "Der Amerikamüde" von 1855. Folgerichtig ließ sich Johnny Appleseed, trotz seiner betont anspruchslosen Lebensweise, seine Pflanzungen durchaus anständig bezahlen und hinterließ bei seinem Tod ein beachtliches Vermögen in Form von Landbesitz.
Da Johnny Appleseed ein entschiedener Gegner des Veredelns von Obstbäumen war, wird zudem angenommen, dass die Äpfel aus seinen Pflanzungen nicht besonders gut zum Essen geeignet gewesen sein dürften und wohl hauptsächlich zu Apfelwein (Cider) verarbeitet wurden, zumal dieser für Farmer an der Grenze der zivilisierten Welt einfacher herzustellen war als die meisten anderen alkoholischen Getränke. Der Journalist und Buchautor Michael Pollan meint daher, Johnny Appleseeds hauptsächliche Leistung sei es gewesen, den Siedler des Wilden Westens den Zugang zu Alkohol zu sichern, und nennt ihn den "amerikanischen Dionysos".
(Aus Cider wiederum kann man einen Applejack genannten Obstbrand herstellen, und wie ich gelesen habe, erfanden die Pioniere des Wilden Westens zu diesem Zweck eine primitive, aber wirksame Methode, die sogenannte Freeze Distillation. Die funktionierte so, dass man den Cider im Winter im Freien aufbewahrte und regelmäßig das gefrorene Wasser absammelte, wodurch der Alkoholgehalt in der verbleibenden Flüssigkeit nach und nach stieg. War der Winter lang und hart genug, war bis zum Frühjahr aus dem Apfelwein Apfelschnaps geworden. Raffiniert, was?)
Erst recht zwiespältig erscheint Appleseeds Lebensleistung angesichts des Umstands, dass er - laut einer 1871, also 26 Jahre nach seinem Tod, in Harper's New Monthly Magazine erschienenen, offenbar auf mündlicher Überlieferung basierenden biographischen Skizze - nicht nur dem Apfelbaum im Mittleren Westen der USA zur Verbreitung verhalf, sondern auch einer Pflanze mit dem bezeichnenden Namen Stinkende Hundskamille: Er hielt dieses Gewächs irrtümlich für eine potente Heikpflanze, mit der man u.a. Malaria kurieren könne, aber tatsächlich handelt es sich um ein übles Unkraut, das Hautreizungen und Atembeschwerden verursachen kann. Mir erscheint dieser Zug der Johnny-Appleseed-Saga auf faszinierende Weise symbolträchtig: Man kann darin, wenn msn denn will, geradezu eine Allegorie auf den Umstand sehen, dass er zusammen mit dem Evangelium auch die theosophischen Irrlehren Swedenborgs verbreitete,
Die volkstümliche Überlieferung hat Johnny Appleseed indes ein ehrendes Andenken bewahrt: An mehreren Orten, an denen er gewirkt hat, wird sein Geburts- oder Todestag als offizieller Feiertag begangen; neben dem bereits angesprochenen Disney-Film gibt es zahlreiche Kinderbücher über ihn -- und übrigens auch mehrere Punk-Songs. Was mich abschließend darauf bringt, wo der Name dieser bemerkenswerten Gestalt mir doch schon früher einmal begegnet ist: nämlich als Titel eines Songs von Joe Strummer & The Mescaleros, der auf dem Soundtrack der sehr sehenswerten Filmbiographie "Joe Strummer - The Future Is Unwritten" enthalten ist. Ich mag den Song:
Und Joe Strummer war ja seinerseits auch so ein seltsamer Heiliger. Schöne Textstelle übrigens: "If you're after getting the honey, then you don't go killing all the bees". Ja, in dem Liedtext geht es - zumindest unter anderem - um Ökologie. Was mich nun noch einmal darauf bringt, dass Johnny Appleseed von Tante Wiki als "ökologischer Pionier" gerühmt wird: Hierfür ist gerade seine oben schon einmal angesprochene Ablehnung des Veredelns von Obstbäumen von Belang, die allem Anschein nach religiös, nämlich durch den Respekt vor Gottes Schöpfung, motiviert war. Aus ökologischer Sicht (das hat mir meine Liebste bestätigt, die ja studierte Biologin ist, und vor allem politisch-ideologischen "framing" ist Ökologie zunächst einmal eine wissenschaftliche Teildisziplin der Biologie) hat die von Johnny Appleseed praktizierte Aufzucht von Bäumen aus Zufallssämlingen gegenüber dem Veredeln, das im Prinzip eine Art des Klonens darstellt, den Vorteil, dass sie eine größere genetische Vielfalt gewährleistet. Es ist daher wahrscheinlich, dass viele heutige Apfelvarietäten ihre Existenz letztlich dem Wirken Johnny Appleseeds verdanken.
Abschließend sei noch angemerkt, dass man sicherlich behaupten kann, Johnny Appleseed verdanke seine Popularität zu einem nicht unwesentlichen Anteil einer typisch US-amerikanischen Vorliebe für Sonderlinge und Exzentriker; wer aber meint, im biederen Deutschland hätte es "so etwas nicht gegeben", dem kann ich bei Gelegenheit gern einmal einen Vortrag über gustaf nagel halten...
"Freeze destilation" scheint schon steinzeitlich nachgewiesen sein. Aus Brei wird Bier, aus Bier friert Schnaps.
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