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Sonntag, 17. September 2017

Eigentlich gehört ihr zu uns!

Mein persönliches Highlight beim Marsch für das Leben 2017 war ein Moment kurz vor dem Beginn des Ökumenischen Abschlussgottesdienstes, als eine kleine Gruppe von Gegen[?]demonstranten den Platz vor der Bühne enterte und das folgende Transparent enthüllte: 


Die auf dem Foto teilweise verdeckte unterste Zeile lautet übrigens "Kapitalistische Optimierung sabotieren!". Okay, die Wortwahl ist recht charakteristisch für einen bestimmten Typus von Linken, die das, wogegen sie sich wenden, erst mal in möglichst pompösem ideologischem Vokabular beschreiben müssen, um sich der Legitimität des Dagegenseins zu vergewissern - wozu es insbesondere gehört, dass alles Schlechte irgendwie "kapitalistisch" sein muss. Aber immerhin räumt diese Unterzeile jegliche möglicherweise noch bestehenden Zweifel aus, dass das Transparent sich tatsächlich gegen Präimplantations- und Pränataldiagnostik wendet. Das tut der Marsch für das Leben allerdings auch; sprich, hätte sich das Farbschema des Transparents nicht so auffällig vom corporate design des Marschs unterschieden und hätten die Demonstranten, die das Transparent hielten, dabei nicht "Kein Gott - kein Staat - kein Patriarchat" skandiert, hätte man eigentlich keinen Grund gehabt, diese Aktion für einen Gegenprotest zu halten.

Zur Verdeutlichung: Mal angenommen, man ginge zu einer Demonstration gegen - sagen wir mal - die Abschiebung abgelehnter Asylbewerber nach Afghanistan. Nur so als Beispiel. Und Leute, die in dieser Frage gegenteiliger Meinung sind, organisieren eine Gegendemo. Und nun sähe man in den Reihen der Gegendemonstranten jemanden, der ein Schild mit der Aufschrift "Afghanistan ist KEIN sicheres Herkunftsland!" hochhält. Was würde man da denken? Ich schätze, man würde denken: Entweder der hat sich verlaufen oder er hat sich als "Maulwurf" in die Gegendemo eingeschlichen.

Letzteres wäre beim Marsch für das Leben theoretisch durchaus denkbar, denn die Gegendemonstranten machen das ihrerseits ja auch gern so: dass einige von ihnen zunächst unerkannt im Demonstrationszug mitlaufen und sich erst nach einer Weile als Gegner zu erkennen geben. (Das war auch diesmal wieder so, vor allem zu Beginn des Marsches; ich komme später noch darauf zurück.) Könnte man also theoretisch auch mal umgekehrt machen. Aber das war hier wohl kaum der Fall. Die Erklärung für die oben geschilderte Transparent-Aktion dürfte viel banaler sein: Sie ist einfach ein besonders augenfälliges Beispiel dafür, dass viele der Gegendemonstranten gar nicht wissen, wogegen sie protestieren.

Daran sind sie nicht ganz und gar selber schuld. Ich habe in den letzten Jahren genug Mobilisierungs-Flyer zu den Protesten gegen den Marsch für das Leben in die Finger bekommen und einschlägige Websites besucht, um recht gut zu wissen, was für ein finsteres Zerrbild des Marsches und seiner Unterstützer da gezeichnet wird. Frauenfeindlich, homo- und transphob, sexistisch, rassistisch, faschistisch... Vermutlich je nach der zu mobilisierenden Zielgruppe werden diese Vorwürfe unterschiedlich stark gewichtet, aber präsent sind sie in der Regel alle. Die Berichterstattung vermeintlich seriöser Medien trägt auch nicht unbedingt dazu bei, dieses Bild zu korrigieren - ganz zu schweigen von den Stellungnahmen etwa der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-Schlesische Oberlausitz (EKBO) oder des Diözesanrats der Katholiken im Erzbistum Berlin. Im Vergleich zu letzteren sind mir die linksradikalen Krakeeler am Straßenrand sogar noch deutlich sympathischer: Immerhin gehen die für ihre - wenn auch irregeleiteten - Überzeugungen auf die Straße und riskieren etwas dafür, zum Beispiel sich mit der Polizei anzulegen; während die Sesselfurzer von EKBO und Diözesanrat lediglich ihre Gesinnungslosigkeit als "Ausgewogenheit" verkaufen und sich dafür auch noch auf die Schulter klopfen. 

Nun könnte man natürlich meinen, im Unterschied zu Vertretern der Spezies "Sesselfurzer" hätten die Gegendemonstranten ja ausreichend Gelegenheit, beim Marsch für das Leben ihre Fehleinschätzungen dieser Veranstaltung durch eigene Anschauung zu korrigieren. Tja, wenn sie denn z.B. den Redebeiträgen bei der Kundgebung etwas Aufmerksamkeit schenken würden, anstatt nur zu versuchen, sie durch Sprechchöre der ewig gleichen dümmlichen Parolen zu übertönen. Dann würde ihnen vielleicht mal auffallen, dass es eigentlich nicht in ihrem Sinne sein kann, einen geistig behinderten Jungen und seine Mutter auszubuhen oder, wie vor ein paar Jahren geschehen, eine Schweigeminute zum Gedenken an die Opfer der Nazi-Euthanasieaktion T4 durch ein Pfeifkonzert zu stören. Allerdings darf man - neben grundlegenden ideologischen Verständnisbarrieren (z.B.: Was ist eigentlich Abtreibung? Legitimer Ausdruck des Rechts der Frau auf körperliche Selbstbestimmung oder doch die grausame Tötung eines wehrlosen Kindes?) - auch die Gruppendynamik des Augenblicks nicht außer Acht lassen. Wenn man mit lauter Gleichgesinnten hinter einer Polizeiabsperrung zusammengepfercht ist und den vermeintlichen Feind anrücken sieht, dann will man nicht in Frage stellen, ob man wirklich auf der richtigen Seite steht. Das Mitgrölen von Sprechchören trägt zusätzlich dazu bei, das kritische Denken auszuschalten, und das Adrenalin tut ein Übriges. Für Reflexion bleibt da kein Platz, jedenfalls nicht, solange die Situation andauert. Vielleicht irgendwann im Nachhinein. Man soll ja die Hoffnung nicht aufgeben. Wie sang ausgerechnet John Lennon: "I hope some day you'll join us".

-- Ich wollte noch etwas zu den "Maulwürfen" sagen, die sich unauffällig in den Demonstrationszug einschlichen und dort dann Schilder zeigten oder Parolen riefen, die sie als Gegendemonstranten auswiesen. Relativ kurz nach dem Start des Marsches gab es ein paar solcher Fälle, und zwei- oder dreimal sah ich mich, obwohl ich keinen Ordnerdienst hatte, veranlasst, einzuschreiten, wenn Marsch-Teilnehmer Anstalten machten, den Gegendemonstranten an den Kragen zu gehen, ihnen beispielsweise gewaltsam ihre Schilder zu entwinden oder Ähnliches. Wenn man Eskalation vermeiden will, muss man eben immer auch und besonders auf die eigenen Leute aufpassen. Ironischerweise, so schien es mir jedenfalls, führte mein Eingreifen dazu, dass einige Frauen mittleren Alters mich verdächtigten, ebenfalls ein "Maulwurf" zu sein. Was mich allerdings eher amüsierte als ärgerte.


Von diesen kleinen Zwischenfällen abgesehen sah und hörte man von den Gegenprotesten in diesem Jahr erheblich weniger als in früheren Jahren, hauptsächlich wohl deshalb, weil die Polizei sehr souverän und konsequent für räumlichen Abstand sorgte. An der Kreuzung Dorotheenstraße/Friedrichstraße gelang es den Protestlern allerdings vorübergehend, den Demonstrationszug zu blockieren, und ich vermute (genau weiß ich es nicht, da ich mich im Vorfeld nicht über die geplante Route informiert hatte), dass infolgedessen auch die Route des Marsches spontan geändert wurde. Für so eine Blockade braucht man sicherlich eine einigermaßen stattliche Anzahl an Personen, ein paar Hundert werden's also wohl gewesen sein; aber ansonsten sah und hörte man immer nur recht spärliche Grüppchen.






Zu den Dingen, die den Zorn der Gegendemonstranten stets in besonderem Maße herausfordern, gehört übrigens interessanterweise der betont christliche Charakter des Marschs für das Leben. Die Feindschaft der Marsch-Gegner gegenüber dem Christentum schlägt sich in diversen Plakatmotiven und im Text mehrerer immer wieder zu hörender Sprechchöre nieder, nicht zuletzt aber auch darin, dass sich seit einigen Jahren ein nicht unwesentlicher Teil der Störaktionen auf den Ökumenisches Abschlussgottesdienst konzentriert. Dieses Jahr hielt sich das Ausmaß der Gottesdienst-Störungen ziemlich in Grenzen, aber ein ganz eigenes Gefühl ist es doch, wenn einige Tausend Gottesdienstteilnehmer das Apostolische Glaubensbekenntnis sprechen und jeweils in den Sprechpausen von ferne zu hören ist: "Kein Gott - kein Staat - kein Patriarchat"...

Bischof Dr. Rudolf Voderholzer (Regensburg) predigte. 
Für diese Feindseligkeit gegenüber dem Christentum gilt das eingangs Gesagte in besonderem Maße: Die Störer wissen gar nicht, wogegen sie protestieren, d.h. sie haben überhaupt keine Ahnung vom christlichen Glauben. Auch das haben sie gemeinsam mit... äh nein, das schreib' ich jetzt nicht. Aber im Ernst: Die Warnungen vor der angeblichen Gefährlichkeit "christlicher Fundamentalisten" sind ja nun auch nicht erst seit gestern im Mainstream der als seriös geltenden Medien angekommen und werden auch und nicht zuletzt von kirchlichen Gremien und Verbänden kräftig mit befeuert - die werden schon wissen, warum. Und wenn wir es bei den Gegendemonstranten mit Leuten zu tun haben, die sich ideologisch eher in der Nachfolge der Republikaner im Spanischen Bürgerkrieg sehen, muss man sich wohl umso weniger wundern, wenn diese mit den Begriffen Christentum und Kirche geradezu den Inbegriff alles Üblen assoziieren. Vor diesem Hintergrund habe ich den trotz Allem weitgehend störungsfrei verlaufenen und insgesamt einfach schönen Abschlussgottesdienst als ein starkes Zeichen empfunden, nicht zuletzt auch deshalb, weil in diesem Gottesdienst explizit auch für die Gegendemonstranten gebetet wurde.



Nebenbei fiel beim Abschlussgottesdienst noch einmal besonders auf, was schon während des Marsches selbst zu bemerken war: Die Altersstruktur der Teilnehmer am Marsch für das Leben hat sich in den letzten Jahren zunehmend in Richtung Jugendlicher und junger Erwachsener verschoben. Eine Entwicklung, die optimistisch in die Zukunft blicken lässt! -- Wie schon im letzten Jahr wurden sowohl die Auftaktkundgebung als auch der Abschlussgottesdienst musikalisch von der Gruppe Gnadensohn begleitet; bei der Kundgebung spielten sie eigene Kompositionen, beim Gottesdienst hingegen einige Klassiker charismatischer Lobpreismusik: "So groß ist der Herr (Ein König voller Pracht)", "Mein Jesus, mein Retter" und zum Abschluss "Zehntausend Gründe". Da wehte direkt ein Hauch von MEHR über den Platz der Republik, und mit MEHR meine ich natürlich die gleichnamige Gebetskonferenz... die, bei aller Unterschiedlichkeit des Anlasses, mit dem Marsch für das Leben noch eine weitere interessante Gemeinsamkeit hat, nämlich ihre spezifische Form von Ökumene. Will sagen, ihren Charakter als überkonfessionelles Projekt von Katholiken und Freikirchlern, aus dem sich landeskirchliche Protestanten weitestgehend heraushalten. Das gibt zu denken, möchte ich meinen. Jedenfalls war es unter diesem Aspekt einigermaßen folgerichtig, dass ich bei beiden "Events" ziemlich weitgehend dieselben Bekannten getroffen habe...

Es war übrigens insgesamt meine sechste Teilnahme am Marsch für das Leben, und ich muss sagen, diesmal fand ich die Veranstaltung besonders gelungen und bin ausgesprochen froh darüber. Was ich nicht geschafft habe, ist, am selben Abend auch noch zum Nightfever zu gehen. Schon ein bisschen schade, dass das ausgerechnet beides am selben Tag war, aber im Nachhinein habe ich mich dann ehrlich gesagt auch gefragt, ob es mit ein bisschen gutem Willen auf beiden (!) Seiten nicht hätte möglich sein sollen, das besser zu koordinieren. So ein "Nightfever spezial" für die Teilnehmer des Marschs für das Leben, womöglich sogar unter freiem Himmel (das Wetter war toll!)... Träumen kann man ja mal.

Insgesamt würde ich mir eigentlich noch mehr Unterstützung für den Marsch für das Leben von Seiten der Kirche wünschen - sowohl auf der Ebene der Bistümer als auch der Pfarrgemeinden. Aber vielleicht ist es auch ganz gut, dass die sogenannte "Amtskirche" keine so herausragende Rolle bei der Organisation des Marsches spielt - dann wird umso deutlicher, dass es sich um eine Basisbewegung von Laien handelt.

Weitere lesenswerte Berichte gibt's auf dem Blog "Katholisch? Logisch!" von Kollegin Claudia:


Und: Ich freue mich jetzt schon auf nächstes Jahr!




6 Kommentare:

  1. "Ein König voller Pracht" und "Mein Jesus" sind aber keine speziell charismatischen Lieder, sondern ganz normale Jubilate-Deo-Klassiker. Ten Thousand Reasons auch fast nicht...

    :-)

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    1. Erfreuen sich aber im charismatischen Lobpreis großer Beliebtheit.

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    2. ja klar, aber eben auch bei z. B. mir ;-)

      #ausgruenden

      #nichtwichtigernehmenalsesist

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    3. Das hängt meines Erachtens aber damit zusammen, dass die Jugend 2000 seit jeher einen äußerst starken charismatischen Flügel hatte.

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  2. Ich hätt ja gerne die Parusie schon vor dem nächsten September, aber sollte der Herr bis dahin nicht in Herrlichkeit wiederkommen und ich noch leben - beides ist möglich -, bin ich auch gerne wieder dabei.

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  3. Bitte nicht die vergessen, die körperlich nicht anwesend waren, das Anliegen aber im Gebet unterstützen. Berlin würde aus allen Nähten platzen!

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