[Hinweis: Den folgenden Text habe ich für ein Programm der Berliner Künstlergruppe Die Tönenden Hörlinge verfasst, in dem es thematisch u.a. um die seit Jahresbeginn wieder einmal besonders präsent erscheinende terroristische Bedrohung ging und das am vergangenen Rosenmontag uraufgeführt wurde.]
They sentenced me to twenty years of boredom. Sie verurteilten mich zu zwanzig Jahren Langeweile - die Übersetzung "Stumpfsinn" habe ich auch einmal gelesen, das passt metrisch besser, aber ich bin mir nicht sicher, ob das als Übersetzung für boredom nicht ein wenig zu stark ist. Wer 'sie' sind, die das lyrische Ich zu dieser Strafe verurteilt haben, das erfahren wir nicht, wohl aber, wofür er diese Strafe erhalten hat: for trying to change the system from within - für den Versuch, das System von innen heraus umzugestalten. Eine Art "Langer Marsch durch die Institutionen" also, und ein solcher kann - wie die Erfahrung der 68er lehrt - durchaus zwanzig Jahre oder länger dauern. Und sicherlich kann einem dabei auch mal ganz schön langweilig werden. Aber ist diese Langeweile dann wirklich eine Strafe oder nicht vielmehr eine notwendige Begleiterscheinung auf dem Weg zum selbstgesteckten Ziel? Oder, anders gefragt: Ist die Langeweile womöglich ein inhärenter Charakterzug eben jenes Systems, das nicht zuletzt deshalb umgestaltet oder, besser noch, umgestoßen zu werden verdient?
They sentenced me to twenty years of boredom. Sie verurteilten mich zu zwanzig Jahren Langeweile - die Übersetzung "Stumpfsinn" habe ich auch einmal gelesen, das passt metrisch besser, aber ich bin mir nicht sicher, ob das als Übersetzung für boredom nicht ein wenig zu stark ist. Wer 'sie' sind, die das lyrische Ich zu dieser Strafe verurteilt haben, das erfahren wir nicht, wohl aber, wofür er diese Strafe erhalten hat: for trying to change the system from within - für den Versuch, das System von innen heraus umzugestalten. Eine Art "Langer Marsch durch die Institutionen" also, und ein solcher kann - wie die Erfahrung der 68er lehrt - durchaus zwanzig Jahre oder länger dauern. Und sicherlich kann einem dabei auch mal ganz schön langweilig werden. Aber ist diese Langeweile dann wirklich eine Strafe oder nicht vielmehr eine notwendige Begleiterscheinung auf dem Weg zum selbstgesteckten Ziel? Oder, anders gefragt: Ist die Langeweile womöglich ein inhärenter Charakterzug eben jenes Systems, das nicht zuletzt deshalb umgestaltet oder, besser noch, umgestoßen zu werden verdient?
Ich habe Interpretationen gelesen, in denen die zwanzig Jahre Langeweile auf das Eingepferchtsein in Bildungseinrichtungen, also Schule und Universität, bezogen wurde. Und obwohl ich persönlich mich in der Schule durchaus nicht permanent, und an der Uni sogar nur relativ selten, gelangweilt habe, scheint mir diese Deutung nicht abwegig. Das Individuum, das versucht, das System von innen heraus umzugestalten, wäre demnach das Kind, dem seine anarchischen Neigungen mit Hilfe des Bildungssystems ausgetrieben werden sollen. Eine Neigung, die Ordnung der Dinge radikal in Frage zu stellen, kann man bei Kindern im Vorschulalter ja tatsächlich häufig beobachten, zum Beispiel im Supermarkt, wenn sie darauf bestehen, den Schokoriegel, den sie sich ertrotzt haben, sofort aufzuessen, noch ehe er bezahlt ist. Wenn ich sehe, dass Eltern diesem kindlichen Drängen nachgeben und nur noch die leergefressene Verpackung aufs Kassenband legen - ist ja schließlich ein Barcode drauf -, dann denke ich unwillkürlich: Ihr tut euren Kindern keinen Gefallen, wenn ihr sie nicht frühzeitig gewöhnt, dass sie nicht Alles haben können, und schon gar nicht sofort. Der Frust wird nur umso größer, je später im Leben sie feststellen müssen, dass das Prinzip der unverzüglichen Bedürfnisbefriedigung an seine Grenzen stößt. Irgendwann werden sie es feststellen müssen - und dann wird es um Größeres gehen als um einen Schokoriegel.
-- Aber ich glaube, ich komme ein bisschen von meinem Thema ab. Vielleicht auch nicht, das wird sich noch zeigen. Eigentlich soll es hier jedenfalls um Leonard Cohens First We Take Manhattan gehen - einen Song, der nach dem 11. September 2001, obwohl nicht allzu lange zuvor noch frisch von Joe Cocker gecovert, wie von Geisterhand aus dem Radio verschwand; besonders nachhaltig in Deutschland, was sich womöglich nicht zuletzt daraus erklärt, dass auf die Titelzeile First we take Manhattan die Worte Then we take Berlin folgen.
Die lange Liste der Songs, die nach Nine Eleven einem inoffiziellen Boykott der meisten Radiosender zum Opfer fielen, umfasst zahlreiche Titel, die inhaltlich überhaupt nichts mit Terrorismus oder einstürzenden Hochhäusern zu tun hatten, sondern lediglich gewisse Reizwörter enthielten, von denen befürchtet wurde, sie könnten unerwünschte Assoziationen auslösen. It's Raining Men zum Beispiel, oder Leaving On A Jet Plane. Klappert man die Liste jedoch nach solchen Songs ab, deren Texte bei genauerem Hinsehen genau diese Art von Assoziationen tatsächlich zu rechtfertigen scheinen, dann landet man über kurz oder lang, wenn nicht bei In The Air Tonight von Phil Collins, dann eben bei First We Take Manhattan.
Ganz eindeutig ist das selbstverständlich nicht. Wie Robin Williams im Film Der Club der toten Dichter sagt: Wir sind keine Klempner, wir haben es mit Lyrik zu tun. Ein lyrischer Text, wenn er etwas taugt, funktioniert immer auf mehreren Bedeutungsebenen, und so ist es kaum erstaunlich, dass man immer wieder auf Leute trifft, die aus First We Take Manhattan nichts Anderes heraushören als die lediglich in ein etwas martialisches Vokabular gekleidete Geschichte eines Musikers, der nach Jahren der Erfolglosigkeit seinen großen Durchbruch gekommen wähnt. So ganz geht diese Deutung jedoch nicht auf. Nehmen wir nur mal den Vers Remember me, I used to live for music: Einst lebte das lyrische Ich für die Musik - aber die 'used to'-Form impliziert unmissverständlich: jetzt nicht mehr. Das wäre für einen Musiker, der gerade kurz vor dem lange herbeigesehnetn Durchbruch steht, mehr als sonderbar. Und an anderer Stelle heißt es: I thank you for those items that you sent me, The monkey and the plywood violin. Der Affe mag als unvermeidliches Requisit des stereoptypen Leierkastenmanns verstanden werden und könnte somit ein Symbol für die Jahre der Erfolglosigkeit sein; aber auf einer Sperrholzvioline kann man nicht musizieren. Somit kann sich auch der folgende Vers I practised every night, now I'm ready kaum auf eine Musikerkarriere beziehen. Was aber ist es dann, was das lyrische Ich jede Nacht geübt hat?
Die beiweitem plausibelste Antwort auf diese Frage scheint mir zu sein: Er bereitet ein Attentat vor. Der Versuch, das System von innen heraus umzugestalten, ist gescheitert und wurde bestraft; jetzt ist es an der Zeit, das System frontal anzugreifen. Mit Gewalt.
Ich wünsch mir den Tod und kann ihn nicht erwarten
Bewaffnet mit Bomben und Granaten
Ich zünd die Bombe inmitten der Menge
Drück auf den Knopf
Mitten im Zentrum oder in der U-Bahn
Drück auf den Knopf
Al Jannah, al Jannah
(Das Paradies, das Paradies)
-- Nein, diese Verse stammen natürlich nicht von Leonard Cohen; sie stammen von Denis Cuspert alias Deso Dogg alias Abu Maleeq, dem zum Propagandisten der Terrorgruppe "Islamischer Staat" avancierten ehemaligen Berliner Gangsta-Rapper. Ich schätze, der Niveauunterschied wird deutlich. Aber Abu Maleeq geht es eben auch nicht um Kunst, sondern um Propaganda. Bei Leonard Cohen heißt es stattdessen:
I'm guided by a signal in the heavens
I'm guided by the birthmark on my skin
I'm guided by the beauty of our weapons.
Festzuhalten ist hier, dass auch bei Cohen das Handeln des angehenden Terroristen deutlich religiös motiviert ist - man könnte sogar sagen, die religiöse Motivation wirke hier tiefer und ernster als bei Abu Maleeq alias Deso Dogg, bei dem Lebensmüdigkeit bzw. Lebensüberdruss und die Hoffnung auf das Paradies einander gegenseitig zu bedingen scheinen. Cohens Attentäter in spe weiß sich geführt durch ein Zeichen vom Himmel; zudem hat er, so sieht er es jedenfalls, seine Berufung nicht selbst gewählt, sondern er ist dazu geboren - er trägt ein Geburtsmal auf seiner Haut. Gleichwohl freut er sich nicht weniger als Abu Maleeq darauf, dass sich seine Bestimmung endlich erfüllt: How many nights I prayed for this, to let my work begin.
Neben seinem religiösen Sendungsbewusstsein hegt das lyrische Ich allerdings auch einen persönlichen Groll: einerseits allgemein gegen Jene, die ihn zu zwanzig Jahren Langeweile verurteilt haben und an denen er sich nun rächen will - eine Rache, die er ironisch als Belohnung bezeichnet (I'm coming to reward them); andererseits auch ganz konkret gegen einen gewissen Mister aus dem fashion business, dem er unter anderem vorhält: I don't like these drugs that keep you thin. Es ist wohl nicht allzu weit hergeholt, zu unterstellen, dass das lyrische Ich die Modebranche als exemplarisch für die Oberflächlichkeit und Dekadenz jenes 'Systems' betrachtet, gegen das er aufbegehrt; und wenn er auf den Drogenkonsum in dieser Branche zu sprechen kommt, ist es ein durchaus bemerkenswertes Detail, dass diese spezielle Art des Drogenkonsums nicht etwa dazu dient, der tristen Realität zu entfliehen, sondern ganz im Gegenteil dazu, den speziellen Anforderungen dieses Business zu genügen (nämlich dünn zu bleiben). Irgendwie scheint das alles auch im Zusammenhang zu stehen mit etwas Schlimmem, das der Schwester des lyrischen Ichs zugestoßen ist, aber darüber erfährt man nichts Genaueres.
Und last not least scheint der angehende Attentäter auch gegen seine Frau oder Lebensgefährtin einen Groll zu hegen. Zugegeben, es ist nur meine Interpretation, dass von einer solchen überhaupt die Rede ist, und zwar fast überall dort, wo jemand mit you angesprochen wird (von dem fashion business Mister einmal abgesehen). Bei allen Interpretationen zu Cohens Songtext, die ich gelesen habe, hat es mich - gelinde gesagt - überrascht, dass sie sich sämtlich die Zähne an jener wiederkehrenden Passage ausgebissen haben, die von einer anderen Stimme als derjenigen Cohens, nämlich von einer Frauenstimme, gesungen wird:
I'd really like to live beside you, baby
I love your body and your spirit and your clothes
But do you see that line there moving through the station?
I told you, I told you
Told you I was one of those.
Dass sie nicht in der Lage sein wird, ihn aufzuhalten, sagt er ihr ganz deutlich auf den Kopf zu: You know the way to stop me, but you don't have the discipline. Disziplin, das haben sie nicht, die oberflächlichen Menschen, die als Kinder nicht daran gehindert wurden, den Schokoriegel im Supermarkt schon aufzuessen, ehe er bezahlt war. Er aber, er hat Disziplin gelernt, auf die harte Tour, in zwanzig Jahren der Langeweile. So gesehen ist es vielleicht sogar nicht nur ironisch, dass er seine Rache an den Leuten, denen er diese Jahre der Langeweile verdankt, als "Belohnung" beschreibt.
Dass die Frau ein oberflächlicher Mensch ist, gibt sie ausgerechnet in der Beteuerung ihrer Liebe zu ihrem Mann zu erkennen. Zwar erklärt sie, auch seinen Geist zu lieben - seinen spirit, was unter anderem auch so etwas wie Hingabe an eine Sache, Ehrgeiz, Engagement, Be-geist-erung bedeutet -, aber das geht beinahe unter neben dem Bekenntnis ihrer Liebe zu seinem Körper - und zu seiner Kleidung. And I still don't like your fashion business, Mister.
- Nahezu alles, was er zu ihr sagt, ist von einer auffallenden Bitterkeit geprägt. You loved me as a loser, and now you're worried that I just might win - man kennt so etwas. Mit einem höhnischen Lachen 'dankt' er ihr für die albernen, nutzlosen Geschenke, die er von ihr bekommen hat - den Affen und die Sperrholzvioline, wir hörten bereits davon. Und schließlich: Remember me, I brought your groceries in. Er hat ihr die Einkäufe 'reingetragen, was er im Rückblick anscheinend als erniedrigend, entwürdigend empfindet, wie das ganze ruhige, unauffällige Leben an ihrer Seite, das sich letztlich unter die zwanzig Jahre Langeweile subsumieren lässt. Das ist nun vorbei: It's Father's Day and everybody's wounded. Jetzt ist Vatertag, und alle sind verwundet. Im Zuge meiner Recherchen für diesen Vortrag habe ich allen Ernstes nachgelesen, ob der Vatertag in den USA womöglich auf den 11. September fällt. Das ist nicht der Fall: Der Father's Day in den USA, 1974 von Präsident Nixon (ausgerechnet!) zum offiziellen Feiertag erhoben, ist der dritte Sonntag im Juni. Mohammed Atta und seine Gefährten waren wohl keine Leonard-Cohen-Kenner, aber vielleicht wäre es ihnen auch egal gewesen. In Deutschland wird der Vatertag inoffiziell an Christi Himmelfahrt gefeiert, also am sechsten Donnerstag nach Ostern. Das ist ja noch ein bisschen hin.
Aber so lange auch nicht mehr.
Coole Interpretation! Kennst Du die Cover-Version von R.E.M.?
AntwortenLöschenKannte ich bisher nicht - hab ich mir grad mal angehört. Sehr R.E.M.-ig... ;)
Löschen(Im Ernst: Danke für den Tipp! Gefällt mir, wenn auch nicht ganz so gut wie das Original.)