Ziemlich genau sieben Jahre ist es her, dass ich hier über einen "Streit der Königinnen" in der evangelischen Kirchengemeinde in Friedrich-August-Hütte, einer Industriesiedlung im Stadtnorden meines Heimatstädtchens Nordenham, berichtet habe; genauer gesagt ging es um einen Konflikt zwischen einer ehemaligen Kirchenratsvorsitzenden und der Pfarrerin. Damals urteilte ich, die ganze Angelegenheit scheine sich eher um persönliche Animositäten zu drehen und es sei aus der Distanz praktisch unmöglich zu beurteilen, welche Seite im Recht sei. Insider-Informationen wurden mir leider auch keine zugetragen. Sieben Jahre später kann man feststellen, dass die angefeindete Pfarrerin immer noch im Amt ist; was hingegen schon ziemlich bald nicht mehr da sein könnte, ist die Gemeinde, einschließlich des Kirchengebäudes. Anders ausgedrückt: Dass die Kritiker der Pfarrerin anno 2018 gegenüber der Lokalpresse erklärten, sie sähen "schwarz für die Zukunft des Pfarrbezirks FAH", erweist sich rückblickend als realistische Einschätzung, wenn auch auf andere Weise als gedacht und aus Gründen, für die man wohl nicht direkt die Pfarrerin verantwortlich machen kann.
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Die Pauluskirche im Nordenhamer Ortsteil Friedrich-August-Hütte. Foto von Michael Durwen auf kirchbau.de (Quelle und Lizenz hier), nachbearbeitet. |
Also mal der Reihe nach: Wie schon häufiger thematisiert, sieht sich die Evangelische Landeskirche Oldenburgs mit einem rapiden Mitgliederschwund konfrontiert – auch und nicht zuletzt in der Wesermarsch, wo in den Jahren meiner Kindheit noch gefühlt fast alle evangelisch waren. Zu den Maßnahmen, mit denen die Landeskirche auf diesen Niedergang reagiert, zählt neben massivem Personalabbau auch ein Beschluss der Landessynode, demzufolge "die Betriebskosten für Immobilien bis zum Jahr 2030 um mindestens 30 Prozent (im Vergleich zum Jahr 2018) gesenkt werden müssen", wie die Kreiszeitung Wesermarsch berichtet. Da zeigen sich also augenfällige Parallelen zum Immobilienentwicklungskonzept des katholischen Erzbistums Berlin, und hier wie dort müssen die einzelnen Gemeinden – 107 sind es in der Oldenburgischen Landeskirche – selber zusehen, von welchen Gebäuden sie sich trennen, um die Quote zu erfüllen.
Vor diesem Hintergrund lud die evangelisch-lutherische Kirchengemeinde Nordenham-Blexen, zu der auch der Pfarrbezirk Friedrich-August-Hütte mit der 1966 eingeweihten Pauluskirche gehört, jüngst zu einer Gemeindeversammlung ein – und zwar in den Gemeinderaum der Pauluskirche, offenbar um der Tatsache Rechnung zu tragen, dass gerade dieser Standort akut bedroht ist. Zu der Gemeinde gehören zwei Kirchengebäude, und wenn aus Kostengründen und wegen mangelnder Auslastung eins davon aufgegeben werden muss, dann ist es ziemlich klar, dass das nicht die St.-Hippolyt-Kirche in Blexen sein wird, die "mit über 900 Jahren die wohl älteste Kirche im Kirchenkreis Wesermarsch" ist und damit, wie die Kreiszeitung Wesermarsch schreibt, "kulturhistorisch eine herausragende Bedeutung in der Region hat"; außerdem wurde sie erst unlängst aufwändig saniert. Ein Neubau aus den 1960er Jahren, der damals dem Wachstum der Gemeinde durch den Zuzug von Heimatvertriebenen sowie durch Arbeitsmigration im Zuge des Wirtschaftswunders Rechnung tragen sollte, kann da natürlich nicht mithalten. Erwähnenswert erscheint in diesem Zusammenhang auch, dass die Blexer Kirchengemeinde von 1978-2013 sogar noch einen dritten Standort hatte, die Friedenskirche im Problemstadtteil Einswarden – "ein eher funktionaler Zweckbau aus rotem Backstein". Zur Entwidmung dieser Kirche hielt die damalige Oberkirchenrätin Annette-Christine Lenk eine plattitüdenreiche Predigt, von der man sich unschwer vorstellen kann, dass sie mit minimalen Anpassungen für alle möglichen Anlässe dieser Art wiederverwendet werden könnte: Da war von der "Hoffnung" die Rede, "dass mit diesem Ende auch ein Neuanfang gemacht wird"; weiter hieß es "Wir bleiben bei aller Zuversicht Suchende und Wandernde", "Wir sind Gemeinde in Veränderung und Bewegung, wir bleiben an der Seite des wandernden Volkes Gottes als Mitwandernde". Da liegt der Rasierpinsel aber ganz, ganz tief im Klo.
Um Wortspenden dieser Preisklasse war offenkundig auch das Blexer Pfarrerehepaar (ja, die – bisher noch – zwei Pfarrstellen der Gemeinde sind mit einem Ehepaar, Dietmar Reumann-Claßen und Anke Claßen, besetzt) bei der Gemeindeversammlung nicht verlegen: "Die Menschen, die zusammenkommen – sie sind die Kirche und nicht das Gebäude", betonte die für den Pfarrbezirk Friedrich-August-Hütte zuständige Pfarrerin Anke Claßen zu Beginn der Veranstaltung; das Tragikomische daran war indes, dass es gerade mit dem Zusammenkommen der Menschen sichtlich haperte: Gerade mal 19 Personen – einschließlich der Pfarrer und der Mitglieder des Kirchenrats, wie die Kreiszeitung hervorhebt – waren zur Gemeindeversammlung erschienen, von derzeit noch 3.000 Geneindemitgliedern (für die nächsten zehn Jahre ist ein Rückgang um ein Drittel prognostiziert). "Die Gemeinde sollte hier sein, wo ist sie?", fragte ein Kirchenratsmitglied bei der Versammlung daher, worauf Pfarrer Reuman-Claßen – so liest es sich jedenfalls in der Kreiszeitung – konstatierte: "Kein Mensch meint heute, er braucht Religion. Kein Mensch meint heute, er braucht den Glauben."
Da könnte man nun meinen, wenn das die Einstellung eines Pfarrers sei, dann brauche man sich über die Situation der Kirche nicht zu wundern und es sei nur konsequent, den Laden dichtzumachen. Fairerweise sollte man allerdings wohl erwägen, dass so ein aus dem Zusammenhang gerissenes Zitat möglicherweise keinen ganz richtigen Eindruck davon vermittelt, wie der Pfarrer diese Worte gemeint hat. Möglicherweise wollte er damit gar nicht seine eigene Meinung ausdrücken, sondern Ergebnisse der jüngsten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU) referieren, womöglich sogar Thesen des derzeit in Kirchenkreisen viel diskutierten Buches "Wenn nichts fehlt, wo Gott fehlt" von Jan Loffeld wiedergeben. Und selbst wenn es tatsächlich nur der frustrierte Stoßseufzer eines kurz vor der Pensionierung stehenden Seelsorgers sein sollte, könnte man das menschlich einigermaßen verständlich finden. Dennoch ist die Aussage so, wie sie dasteht, problematisch – und bezeichnend für die tadelnswerte Neigung der institutionellen Kirchen, soziologische Befunde zum Relevanzverlust von Religion wie Naturgesetze zu betrachten. Da kann man nichts machen, das is' halt so. Das offenbart einerseits einen bedenklichen Mangel an Gottvertrauen, und andererseits schirmt man sich damit sehr effektiv gegen etwaige Regungen von Selbstkritik ab. So zum Beispiel und nicht zuletzt gegen die Frage: Wenn es nun doch noch Leute gibt, die für Glaube und Religion empfänglich sind – warum sollten die die Antworten auf ihre metaphysischen Fragen und ihre spirituellen Bedürfnisse gerade in der evangelischen Kirche suchen? – Pfarrer Reuman-Claßen kenne ich nicht persönlich, hatte ihn auf meinem Blog allerdings vor Jahren schon mal am Wickel, anlässlich eines am Gründonnerstag 2019 in der Nordwest-Zeitung veröffentlichten Artikels mit der Überschrift "So unterschiedlich feiern Heiden und Christen Ostern", in dem der Blexer Pfarrer Seit' an Seit' mit der damals in Tossens lebenden und wirkenden Schamanin Patricia Winter alias "Hexe Minerva" über die Bedeutung des Osterfests befragt wurde. So aberwitzig dieser Artikel von seiner ganzen Anlage her war, so schmerzlich war es anzusehen, was für eine blasse Figur Pfarrer Reumann-Claßen neben der Hexe von Tossens abgab, wie wenig er ihrem kruden Neopaganismus argumentativ entgegenzusetzen hatte. – Das ist zwar wiederum nur ein punktueller Eindruck, aber er verweist auf ein tiefer liegendes Problem: Ich würde behaupten, für einen religiös interessierten oder "spirituell suchenden" Menschen ist es zunehmend schwierig zu erkennen, woran die evangelische Kirche überhaupt noch glaubt.
– Außer an den Klimawandel natürlich. Während die Oldenburgische Landeskirche einerseits, wie gesagt, bis 2030 ihre Immobilien-Betriebskosten um 30% reduzieren will, hat sie sich gleichzeitig das Ziel gesetzt, "die Treibhausgas-Emissionen bis 2035 um 90 Prozent" zu reduzieren, um bis 2045 "Klimaneutralität" zu erreichen. Bei der Gemeindeversammlung in Friedrich-August-Hütte kritisierte ein ehemaliges Kirchenratsmitglied, die Landessynode habe bei diesem Beschluss "nicht genug den finanziellen Aufwand berücksichtigt" – worauf Pfarrerin Claßen mit dem klassischen Satz antwortete: "Wir als Kirche wollen helfen, dass sich die Erde nicht weiter erwärmt." Na klar: Sachliche Einwände mit ideologischen Bekenntnissen abschmettern, so haben wir's gern.
Man muss sich das mal auf der Zunge zergehen lassen: Eine Kirche, die es nicht hinkriegt, vor Ort Seelsorge zu betreiben, die die Menschen erreicht, traut sich gleichwohl zu, die Erderwärmung aufzuhalten.
Übrigens geht aus dem letzten Satz des Kreiszeitungs-Artikels zur Gemeindeversammlung hervor, dass "die sonntäglichen Gottesdienste [...] für die ganze Gemeinde abwechselnd in Blexen und FAH stattfinden". Um sicherzugehen, dass ich diesen Satz richtig verstanden habe, habe ich die Gottesdienstzeiten im gemeinsamen Gemeindebrief der Kirchengemeinden Blexen und Nordenham ("Nordlichter") für die Monate Juni bis August nachgelesen, und tatsächlich, es gibt immer nur einen Sonntagsgottesdienst für die ganze Gemeinde, und der findet alle zwei Wochen in Blexen und alle zwei Wochen in Friedrich-August-Hütte statt. Wozu, mag man sich fragen, hat die Gemeinde dann eigentlich zwei Pfarrstellen? – Nun, zumindest diese Frage wird sich demnächst erledigt haben, denn in rund einem Jahr tritt das Pfarrerehepaar Claßen/Reumann-Claßen in den Ruhestand, und fortan "wird die Gemeinde dann nicht mehr zwei Pfarrstellen haben, sondern nur noch eine". Deshalb wird auch überlegt, das Pfarrhaus in Blexen "zu verkaufen oder es selbst umzubauen in mehrere Wohneinheiten": "Benötigt werde es nicht unbedingt." Ach so? Und wo soll dann der oder die zukünftige Pfarrer/Pfarrerin wohnen? – Na ja, irgendwo halt: "Die Präsenzpflicht sei in der Landeskirche schon längst aufgelockert".
Na super. Ganz tolle Idee, in einer Situation, in der die Kirche sich offenbar immer schwerer damit tut, die Menschen zu erreichen, auch noch die Präsenzpflicht der Geistlichen aufzuheben. Soviel zum Thema "Seelsorge vor Ort".
Ich muss es mal in aller Deutlichkeit sagen: Es fällt mir wirklich schwer, einer Kirche, die so zielstrebig daran arbeitet, sich selbst überflüssig zu machen, eine Träne nachzuweinen. Aber vielleicht kann ihr Niedergang den anderen christlichen Konfessionen als abschreckendes Beispiel und Warnung dienen. Hoffen wir, dass sie bereit sind, daraus zu lernen.