Nachdem die Wiederaufnahme der Artikelserie über den Fall Barbara Ubryk und seine Verarbeitung im Genre der Schundliteratur ein recht erfreuliches Echo gefunden hat, habe ich beschlossen, das Eisen zu schmieden, solange es heiß ist; fackeln wir also nicht lange, sondern kommen direkt zur nächsten Folge! – Das LXV. Kapitel von Dr. A. Rodes "Barbara Ubryk"-Roman trägt die Überschrift "Opfer der Lüste"; und die Erwartungen, die dieser Titel weckt, werden gewissermaßen doppelt eingelöst: einmal auf der Ebene der eigentlichen Romanhandlung, wo die Protagonistin Jovita alias Barbara zuerst beim Überqueren der Grenze vom russischen zum österreichischen Teil Polens eine sehr zudringliche Leibesvisitation über sich ergehen lassen muss und dann, als sie im Wald einschläft, von einem Jäger vergewaltigt wird; und zum anderen in einem Exkurs über einen historischen Fall von sexuellem Missbrauch durch einen Priester, nämlich den Fall der Cathérine Cadière und ihres Beichtvaters Jean-Baptiste Girard, der mehr als ein Jahrhundert vor der Handlungszeit des Romans europaweit Schlagzeilen machte. Der Exkurs über diesen Fall nimmt mehr als die Hälfte des Kapitels ein; schauen wir uns aber trotzdem erst einmal den Fortgang der eigentlichen Romanhandlung an.
Nachdem Jovita ihrem Beichtvater Gratian und ihrer Krankenpflegerin Kordula, die sie nach Krakau hatten bringen sollen, entkommen ist, erreicht sie "das Städtchen Nowo Brzesko" (S. 1039), wo sie die Weichsel überqueren und so auf österreichisches Gebiet überwechseln will; welche Behandlung ihr dabei seitens eines russischen Grenzbeamten zuteil wird, haben wir bereits angedeutet. In der österreichischen Zollstation am anderen Ufer erfährt sie, dass das Gut des Grafen Satorin in der Nähe liegt; wenn dieser Name dem geneigten Leser nichts sagt, ist das insofern einigermaßen verzeihlich, als seine letzte Erwähnung im Roman schon fast 500 Seiten zurückliegt: Eine gräfliche Familie Satorin hatte im Mittelpunkt einer Kindsvertauschungsgeschichte gestanden, die bereits im IX. Kapitel des Romans als Nebenhandlung eingeführt worden war: Weil der damalige Graf Satorin unbedingt einen Sohn haben wollte, hatte seine Frau ihre neugeborene Tochter gegen den jüngsten Sohn von Jaromir Ubryk austauschen lassen; die echte Grafentochter hatte Jaromir kurz darauf in einer Gastwirtschaft vergessen, woraufhin sie erst von Juden und später von Zigeunern aufgezogen wurde, schließlich aber als Dienstmädchen ins Haus ihrer leiblichen Mutter kam. Zu einem vorläufigen Abschluss war dieser Handlungsstrang in Kapitel XLIII dadurch gelangt, dass der falsche Grafensohn und die echte Grafentochter sich ineinander verlieben und heiraten, womit die poetische Gerechtigkeit hergestellt ist. Der derzeitige Graf Satorin ist demnach Barbara Ubryks leiblicher Onkel, und wie wir noch sehen werden, weiß sie davon – was zweifellos eine gewichtige Rolle für ihren Entschluss spielt, das Gut des Grafen prompt aufzusuchen.
Auf dem Weg dorthin wird sie jedoch von Müdigkeit übermannt und legt sich im Wald schlafen – wo sie von einem Jagdhund aufgespürt wird, der sogleich seinen Herrn herbeiführt.
"An die Dame herantretend, betrachte er sie genauer. Er ließ sich auf die Kniee nieder und beugte sich über sie. Ihr Gesicht war geröthet, sonst aber bleich und eingefallen. Der Mund war geöffnet und murmelte von Zeit zu Zeit unverständliche Worte. Der Busen hob und senkte sich rasch; es schien, als läge sie in schwerem Traume. Der Jäger sprach kein Wort; seine Lippen fest aufeinander gekniffen, haftete er seine Augen unverwandt auf die vor ihm liegende Dame. Das Blut trat ihm allmählig in die Wangen; auch seine Brust hob und senkte sich rascher unter dem Athem. Es war so stille im Walde, kein menschliches Wesen in der Nähe. Er, der Mann, fand sich allein mit einem Weibe im Walde. Niemand sah ihn, Niemand störte ihn, wenn er einer lüsternen Stimme folgte, die sich mächtig in ihm regte....." (S. 1044)
Hier wird geradezu so getan, als sei es das Natürlichste von der Welt, dass ein Mann, wenn er an einem einsamen Ort eine hilflose Frau antrifft, erst mal seine Lust an ihr befriedigt; das scheint mir recht bezeichnend, nicht nur für diesen Roman, sondern für das gesamte Genre.
"Eine Stunde später" tritt Jovita alias Barbara "aus dem Walde" und gelangt an "ein großes Gebäude [...], um welches im Kreise mehrere Bauernhöfe lagen" (ebd.): den Landsitz des Grafen Satorin. Sie lässt sich der Gräfin melden und stellt sich ihr als "eine unglückliche Frau" vor, die "nicht nur von boshaften Menschen , sondern auch von Noth und Elend verfolgt" werde (S. 1045):
"Nachdem ich mich auf österreichischen Boden gerettet hatte, hörte ich, daß es weit und breit keine edlere und mildherzigere Dame gäbe als Sie. Demnach beschloß ich, Ihre Güte in Anspruch zu nehmen und Sie um irgend eine Verwendung in Ihrem Dienste zu bitten" (ebd.)
Wie sich zeigt, hat die Mildherzigkeit der unter Zigeunern aufgewachsenen Gräfin allerdings Grenzen; so reagiert sie ausgesprochen ungnädig, als die Bittstellerin gesteht, aus einem Kloster entflohen zu sein:
"Mein Gott, eine entflohene Klosterfrau sind Sie? Was hat Sie nur auf solche Abwege gebracht? Kann es ein schöneres Leben geben als das fromme, herzliche und liebliche Zusammenleben in einem Kloster, wo man sich um Nichts zu kümmern hat, keinen Mangel leiden darf und nur für seiner Seele Heil zu sorgen hat?" (ebd.)
Jovita alias Barbara widerspricht beherzt: "Wer in der Welt lebt, urtheilt freilich von der günstigsten Seite über das Leben im Kloster; aber anders gestaltet sich die Ansicht, wenn man dieses Zusammenleben selbst geführt und unerträglich gefunden hat" (S. 1045f.). Die Gräfin lässt sich jedoch nicht beirren:
"O ich weiß es, daß viele Nonnen unzufrieden sind. Der Mensch kann ja Alles ertragen, nur nicht das Glück. Je besser es ihm geht , desto unzufriedener ist er. Weil diese Nonnen Alles besitzen, was sie nur immer wünschen, ein ruhiges, friedliches sorgloses Leben, so verlangen sie gerade nach dem Gegenstande, der ihnen durch ein Gelübde versagt ist, nach einem Manne" (S. 1046).
Barbaras Bitte, ihr eine Stellung im Hause zu geben, weist die Gräfin rundheraus ab:
"Eine Verwendung in meinem Dienste habe ich nicht für Sie; ganz untergeordnete Dienste könnte ich Ihnen nicht einmal geben, da sie der Arbeit ungewohnt und ihr vielleicht abhold sind. Ueberdies würde der Segen Gottes, der bisher sichtbar über meinem Hause gewaltet hat, von ihm weichen, wenn ich eine entflohene Klosterfrau, die ihre Gelübde gebrochen hat, aufnähme und ihr Unterkunft gewährte. Wenn Sie im Kloster nicht aushalten konnten[,] glauben Sie sich in einen Dienst besser zu finden?" (ebd.)
Währenddessen tritt "ein junger Mann in den Salon" (ebd.), der die Bittstellerin erkennt und sie mit ihrem Ordensnamen Jovita anspricht; woher er sie kennt, verrät er gleich darauf der Gräfin: "Es ist das dieselbe Jovita, von der ich Ihnen erzählte, daß ich sie liebte, und daß ich aus Gram über die Gelübde, die sie an das Kloster banden, Warschau verließ" (ebd.). Auch Jovita alias Barbara erkennt daraufhin ihren früheren Geliebten wieder: "Er ist Woicech Zarski!" (S. 1047). Darüber, was dieser im Hause des Grafen Satorin zu tun hat – nämlich, dass er eine "Stellung als Secretär des Grafen" hat – wird der Leser erst einige Seiten später aufgeklärt (S. 1050); die Gräfin jedenfalls hat sogleich den Verdacht, "daß [s]ie sich beide verabredet haben, hier zusammenzutreffen":
"Gewiß haben Sie diese Nonne veranlaßt, Woicech, aus dem Kloster zu entfliehen und hieher zu kommen. Und gedenken Sie hier Ihre Liebeleien fortzusetzen? Nie und nimmer werde ich das meinem Hause dulden." (S. 1047)
Diese Unterstellung wird von beiden vehement bestritten, was jedoch nichts daran ändert, dass die Gräfin Satorin in Übereinstimmung mit ihrem Ehemann die Entscheidung trifft, "daß man der flüchtigen Nonne die zur Weiterreise nöthigen Mittel , aber keinen Aufenthalt im Hause gewähren solle" (ebd.). Als der Graf im Salon erscheint, erkennt Jovita in ihm mit Schrecken "den – Jägersmann vom Walde, obgleich er jetzt in andern Kleidern stack" (S. 1048). – Hierzu wäre übrigens anzumerken, dass der österreichische Grenzbeamte, bei dem Jovita nach dem Weg gefragt hatte, vom Grafen Satorin als "einem gutherzigen Manne" gesprochen hatte (S. 1044) und der Leser sehr viel früher, nämlich auf S. 563, erfahren hatte, "daß Alexander und Yelva" – also Graf und Gräfin Satorin – "in der glücklichsten und friedlichsten Ehe zusammen lebten"; aber das heißt wohl nicht viel in einem Romankosmos, in dem der Geschlechtstrieb als ebenso unkontrollierbar wie Niesreiz dargestellt wird.
Jedenfalls ist nun auch der Graf bestrebt, Jovita möglichst schnell wieder loszuwerden; Woicech kann ihn jedoch überreden, "den Aufenthalt Jovitas wenigstens so lange [zu] erlauben, bis sie sich erholt und ihre Kleider etwas geordnet habe" (S. 1048). Woicech bemüht sich, von Jovita zu erfahren, was ihr seit ihrem letzten Zusammentreffen widerfahren ist; das wird allerdings dadurch erschwert, dass sich ihre Geistesstörung immer wieder bemerkbar macht:
"Man hat mir im Kloster etwas angethan, was? vermag ich nicht zu sagen. Man hat mich mit bösen Geistern besetzt gemacht und mich dann geschlagen, daß ich halbtodt liegen blieb. Auf einmal entkam ich. Ich wundere mich selbst, daß ich plötzlich keine Nonne mehr um mich sehe, daß ich in weltlichen Kleidern bei Dir sitzen kann. Wenn der Mond voll wird, vergeht mir das Gedächtniß; ich weiß nichts mehr von mir und den Dingen, die geschehen. Wenn der Mond abnimmt, werde ich ruhig, die Besinnung kehrt zurück und ich bin wie andere Menschen" (S. 1049).
Sie verrät Woicech auch, dass Graf Satorin ihr leiblicher Onkel ist; als er sie daraufhin "ihm als seine Nichte vorstellen" will (S. 1050), erhebt sie jedoch Einspruch und schildert ihm ihre Begegnung mit dem "Jäger vom Walde" (S. 1051):
"Er fand mich schlafend, Woicech. Als ich erwachte, lag ich in seinen Armen. Darum wagte er mich nicht anzusehen, als er so eilig durch den Saal rannte. Aus eben diesem Grunde soll er nie erfahren, daß ich seine Nichte sei; er soll mich für eine flüchtige Nonne halten, die ihn blos um Obdach und Speise bittet" (ebd.).
Als sie Woicech auf dessen wiederholte Erkundigungen, was ihr im Kloster widerfahren sei, eröffnet, ihr "früherer Beichtvater, Pater Gratian", trage "die Schuld an allem [ihrem] Unglücke" (S. 1052), fühlt dieser sich durch diese Mitteilung an "die Geschichte der Cadière" (ebd.) erinnert, die er daraufhin sehr ausführlich – rund 21 Seiten lang – nacherzählt. In einer Fußnote zu diesem Exkurs verweist der Verfasser auf eine Quelle mit dem Titel "Recueil général des Pièces concernant lé procês entre la Demoiselle Cadière et le Père Girard" und fügt hinzu: "Auszüge aus diesem acht Oktavbände starken Werke erschienen in fast allen lebenden Sprachen Europas; die deutsche bei Brockhaus in Leipzig, 1732" (ebd.). Auch der von Dr. Rode schon öfter als Quelle benutzte "Pfaffenspiegel" gibt dem Fall Cadière beträchtlichen Raum; zwischen der dortigen Schilderung und derjenigen im "Barbara Ubryk"-Roman lassen sich allerlei Parallelen bzw. Ähnlichkeiten feststellen, wortwörtliche Übereinstimmungen hingegen nicht oder kaum; mit anderen Worten, der Grad der Übereinstimmung lässt eher darauf schließen, dass beide Autoren dieselben Quellen benutzt haben, als dass der eine direkt vom anderen abgeschrieben hätte. In beiden Versionen wird es als Tatsache dargestellt, dass der Jesuitenpater Girard sein Beichtkind Cathérine Cadière unter Missbrauch seiner geistlichen Autorität verführt und sexuell erniedrigt und ihr, als sie schwanger wurde, ein abtreibendes Mittel verabreicht habe; dass der ausführlich geschilderte Gerichtsprozess mit einem Freispruch endete, wird mit Manipulationen des Jesuitenordens sowie damit erklärt, dass das Gericht dem Ansehen der Kirche nicht habe schaden wollen. Man muss allerdings wohl konstatieren, dass die letztgenannte Absicht deutlich verfehlt wurde, denn wie eingangs schon erwähnt, erregte der Fall europaweit Aufsehen – wohl auch deshalb, weil er im Zuge der Auseinandersetzungen zwischen Jansenisten und Jesuiten in Frankreich zur Diskreditierung der letzteren instrumentalisiert wurde.
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Die Verführung der Marie-Catherine Cadière durch Jean-Baptiste Girard, Buchillustration, 1735 (gemeinfrei) |
Anders als es bei den zahlreichen quasi-dokumentarischen Einschüben, die der Autor sich leistet, sonst meist der Fall zu sein pflegt, wirkt die Erzählung Woicechs über den Fall Cadière insofern unmittelbar auf die Handlung zurück, als sie bei Barbara alias Jovita einen erneuten Ausbruch ihres Wahnsinns "triggert", wie man heute sagen würde: Sie hält sich selbst für "die Katharina Cadière" (S. 1073), zeigt "dem erstaunten Woicech einige wunde Flecken auf der Brust" und behauptet, diese seien "die Wundmale Christi", und gleich darauf fühlt sie sich wieder von dem Dämon "Zoophyt" besessen (ebd.). Woicech lässt sie zu Bett bringen; am folgenden Tag, "[a]ls sich der Graf seiner täglichen Gewohnheit gemäß auf die Jagd begeben hatte" (S. 1076), zieht Woicech aus einem unverschlossenen Fache des Schreibpultes eine Menge Papiere hervor", die er "mit fieberhafter Eile abzuschreiben" beginnt: "Diese Arbeit setzte er noch mehrere Tage fort und schrieb selbst ganze Nächte hindurch. Die meisten Schriften waren in polnischer, einige in französischer Sprache geschrieben" (S. 1076). Vorerst ist nur zu erahnen, dass es sich dabei um Papiere handelt, die Woicech einige Seiten zuvor gegenüber Barbara erwähnt hatte und die teils "von einem gewissen Jaromir von Ubryk" und teils "von einem Kasimir von Ubryk herrühren" – wozu Barbara ihm erklärt hatte: "Jaromir ist mein Großvater, Kasimir mein Vater. Ihre Papiere überließen sie meiner Mutter Elka, und diese wird sie bei ihrem Tode ihrem Schwager, dem Grafen Alexander, übermacht haben" (S. 1050). Nachdem er sich eine volle Woche lang mit dem Kopieren dieser Schriftstücke beschäftigt hat, bittet er den Grafen um Urlaub, um "die Klosterfrau, der Sie bisher so großmüthig Ihre Gastfreundschaft angedeihen ließen, nach Krakau [zu] geleiten" (S. 1077); wobei man sich unwillkürlich fragt, ob es wirklich eine gute Idee ist, Barbara ausgerechnet an den Ort zu bringen, an den auch ihre Peiniger sie hatten schaffen wollen. Barbara selbst scheint ähnlich zu denken: "Nur nicht in's Kloster, Woicech!", fleht sie bei der Abfahrt, worauf dieser erwidert: "Eher zum Teufel!" (S. 1078).
"Er hatte sich die Zeit weidlich mit dem Schnupftabak vertrieben, den er seiner Gewohnheit nach in der Kapuze auf dem Rücken verborgen gehalten hatte. Alle Stunde nahm er eine Prise, und so war es trotz der Größe seiner Dose gekommen, daß er am dreißigsten Tage mit dem ganzen Vorrathe an Tabak zu Ende war.
Mit geheimer Bangniß schaute er daher in die Zukunft. Das Brevier zu beten ohne Schnupftabak – das kann kein ordentlicher Pfaffe leisten. [...] Nein, das stand fest, solange kein würziger Tabak herbeikam, könnten auch die Horen nicht mehr abgebetet werden.
Der Prior hatte in seiner Wuth über das Kezerthum in der Kutte den Pater Alfons nicht mehr das Tagelicht schauen lassen. Wider alle Regel wurde dieser weder zum Chorgebete, noch zur Messe zugelassen. Das Letztere war dem Pater sehr unangenehm, denn es entging ihm dadurch jeden Morgen ein tüchtiger Schluck Wein, der den Magen erwärmte. Jeden Mittag erhielt er ein Stück schwarzes Brod, einen Krug Wasser und dazu die kleine Disciplin zu 36 Geißelhieben, was ihm nicht absonderlich schmeckte, und am Abend ein Stück Käse mit Brod und einem Trunk Bier. Wenn das länger fortgegangen wäre, so würde er nicht nur bald aus Hunger an der Geißel genagt haben, sondern auch unfehlbar ein Heilger geworden sein" (S. 1104).
"Ein rechter Pfaffe war ich nie, und ist schon so dumm zugegangen, wie ich ins Kloster und in die Kutte kam. Lebt' ich dereinst in London als Käsepapierhändler und schwang mich zu einem ansehnlichen Maculaturhändler empor. Als guter Katholik, der ein Irländer immer ist, lief ich jedweden Sonn- und Feiertag hinein in die Kirchen allwo der nachmalige Cardinal Dr. Wisemann selber Zeit gar rührende Predigten vormacht" (S. 1108f.).
Was den "nachmalige[n] Cardinal" angeht, sei angemerkt, dass Nicholas Wiseman (1802-1865) erst 1850 die Kardinalswürde erhielt, wovon Pater Alfons in einem Romankapitel, das im Jahr 1847 spielt, also eigentlich noch nichts wissen kann; aber das darf man wohl als einen vergleichsweise geringfügigen historischen Schnitzer des Verfassers betrachten. Halten wir aber noch fest, dass, wenn Pater Alfons in London Predigten von Wiseman gehört haben will, dies in den Jahren 1835/36 gewesen sein müsste. Ins Kloster eingetreten ist der vormalige Käsepapierhändler jedoch nicht aus Frömmigkeit, sondern – und hier wird die Erzählung recht abstrus – weil der Vormund des Mädchens, das er heiraten wollte, ihm als Bedingung für die Einwilligung zur Eheschließung eine dreijährige Probezeit im Kloster abverlangte; er werde dann schon dafür sorgen, dass er von seinen Gelübden wieder entbunden werde. Dass dies in Wirklichkeit ein Trick des Vormunds war, um ihn loszuwerden und das Mädchen anderweitig zu verheiraten, ging Alfons erst auf, als es zu spät war – nämlich nachdem er in "Belgien, weil es in England nach der Parlamentsakte von anno 1820 keine Klöster gibt", ins erstbeste Kloster eingetreten war, "und das war ein Carmeliterkloster" (S. 1009). Dort wurde er schon bald der Ketzerei verdächtigt und von einem Kloster ins andere strafversetzt, bis er schließlich in Warschau landete. Über die Aufhebung des dortigen Klosters ist er nun nicht direkt unglücklich, abgesehen davon, dass er nun nicht weiß, wie er seinen Lebensunterhalt bestreiten soll. Für dieses Problem findet sich indes bald eine Lösung, da ein stereotyper reisender Engländer – "Lord Ainsworth [...], der bei der englischen Gesandtschaft in St. Petersburg attachirt gewesen," (S. 1116), ihn in seinen Dienst nimmt. Der ehemalige Pater Alfons nimmt nun wieder seinen bürgerlichen Namen Jedediah Pumpkins an und reist mit seinem neuen Dienstherrn alsbald in Richtung Posen ab.
– Dazu, dass und warum ich es als eine recht gezwungene und wenig glaubwürdige Wendung betrachte, den Pater Alfons mit dem im allerersten Kapitel des Romans als Trödler in London vorgestellten Jedediah Pumpkins zu identifizieren, habe ich mich schon bei früherer Gelegenheit geäußert und finde auch die hier angebotene "backstory" nur mäßig überzeugend; auf jeden Fall kann man aber trotz der Abreise nach Posen wohl davon ausgehen, dass das noch nicht das letzte war, was der geneigte Leser von Mr. Pumpkins erfährt, denn irgendwie muss er ja noch an die Papiere kommen, die er im ersten Kapitel dem Erzähler verkauft. Und es sollte mich gar nicht wundern, wenn es sich dabei um dieselben Papiere handelte, die Woicech Zarski im Hause des Grafen Satorin so eifrig abgeschrieben hat...
Respekt, wie Sie nach all den Jahren (der Romanhandlung und der Artikelreihe) diese verworrenen Handlungsstränge noch erklären können!
AntwortenLöschenDie aktuellen Kapitel sind ja mal wieder maximal dämlich, Jovita will ihren Onkel davor bewahren, zu erfahren, dass es seine Nichte ist, die er vergewaltigt hat, und nimmt dafür in Kauf, von ihrem tollen Lover doch wieder in Krakau verloren zu werden? Und was bitte ist eigentlich ein Käsepapier? Trotzdem verfolge ich die Handlung weiter mit Spannung 😁