Samstag, 30. April 2016

Der seltsame Fall der eingekerkerten Nonne, Teil 2

Wir erinnern uns: Im Sommer 1869 ging die Nachricht um die Welt, dass bei der polizeilichen Durchsuchung eines Karmelitinnenklosters im damals zu Österreich-Ungarn gehörigen Krakau eine Frau namens Barbara Ubryk in einem finsteren Verlies entdeckt worden sei, in dem sie jahrelang unter menschenunwürdigen Bedingungen eingekerkert gewesen sei. Nur wenige Wochen darauf begann der Münchner Verlag Neuburger & Kolb mit der Veröffentlichung eines umfangreichen Fortsetzungsromans mit dem Titel Barbara Ubryk oder die Geheimnisse des Karmeliter-Klosters in Krakau, verfasst von einem gewissen "Dr. Rode". Im Einleitungskapitel wird behauptet, der Roman basiere auf Dokumenten, die der Verfasser bei verschiedenen Büchertrödlern in Paris und London entdeckt habe, sowie auf mündlichen Mitteilungen. Die folgenden Kapitel lassen jedoch keinerlei Zusammenhang mit dem Fall Barbara Ubryk erkennen; vielmehr schildern die Kapitel II-VIII (S. 15-82) Intrigen von Jesuiten und Franziskanern in einem Schloss im damals russischen Teil Polens (heute in der Ukraine). 

In Kapitel IX (S. 82-95) wird ein neuer Handlungsstrang eröffnet, der in einem Elendsviertel am Rande von Warschau beginnt. Eine in bitterer Armut lebende Familie hat gerade ihr achtes Kind, einen Knaben, bekommen. Dem versoffenen Vater Jaromir, der sich mit einer adligen Abstammung brüstet und es daher trotz seiner Armut verschmäht, Arbeiten anzunehmen, die er für unter seiner Würde hält, wird in einer Schenke von einem Bekannten (dessen Name, Boleslaw Biernacky, erst in einem späteren Kapitel genannt wird) ein Geschäft vorgeschlagen: Er soll seinen neugeborenen Knaben gegen das Kind einer Gräfin, ein Mädchen, austauschen - da die Gräfin den Zorn ihres derzeit abwesenden Gatten fürchtet, wenn dieser erfährt, dass sie ihm nach acht Jahren kinderloser Ehe immer noch keinen Knaben, sondern eben 'nur' ein Mädchen geboren hat. Dafür soll Jaromir 10.000 Gulden bekommen, wovon Biernacky für seine Vermittlung allerdings 30% Provision verlangt. Trotz des energischen Widerspruchs seiner Frau lässt Jaromir sich auf den Handel ein, doch nach vollzogener Kindsvertauschung vergisst er das Mädchen in einer Schenke, in der er auf dem Rückweg einkehrt. "Wahrscheinlich hatte es einer der anwesenden Fuhrleute oder Juden [...] mit sich genommen" (S. 95). 

Der letzte Satz des Kapitels lautet: "Die Frau hieß Kattinka und der Mann Jaromir Ubryk" (ebd.). Nachdem der Mann bis dahin nur mit dem Vornamen genannt worden und die Frau gänzlich namenlos geblieben war, liegt der Verdacht nahe, dass dieser Satz nachträglich eingefügt wurde, um einen Zusammenhang mit dem Titel des Romans zu suggerieren. Gleichzeitig erscheint es denkbar, dass das ganze IX. Kapitel ein nachträglicher Einschub ist - zumal Kindsvertauschungsgeschichten zwar beim zeitgenössischen Publikum ausgesprochen beliebt waren, es jedoch vollkommen unklar bleibt, worauf dieser Handlungsstrang hinauslaufen soll: Nachdem das vertauschte Grafenkind verschwunden ist, dürfte es schwierig werden, es Ubryk als vermeintlichem Vater zuzuordnen, und die spätere Nonne Barbara kann dieses Kind auch nicht sein, denn dann müsste diese zum Zeitpunkt ihrer Befreiung aus dem Kloster schon 70 Jahre alt sein. 

Die Kapitel X-XIII (S. 95-132) knüpfen wieder an die bisherige Haupthandlung an: Den Jägerburschen Prokop, der an der Gefangensetzung des Pater Gregor mitgewirkt hat, plagt das Gewissen, und er beichtet seine Tatbeteiligung dem Pfarrer von Zitomir. Dieser steckt jedoch mit den Franziskanern unter einer Decke und benachrichtigt die Mönche des nahegelegenen Klosters Worotin, die daraufhin den Pater nach etwa zweiwöchiger Gefangenschaft aus dem Forsthaus befreien lassen; das Forsthaus wird dabei niedergebrannt. Pater Gregor sucht umgehend den Grafen Zolkiewicz auf und enthüllt ihm, dass Rebinsky ein Jesuit sei; zudem redet er dem schwachen und unsicheren Grafen ein, die Beweise, die Rebinsky ihm dafür vorgelegt hat, dass Pater Gregor ihn hintergangen und bestohlen hat, seien von dem Jesuiten gefälscht worden. Der Graf schenkt dem Franziskaner Glauben und verfügt, dass Rebinsky sein Schloss und seine Güter unverzüglich zu verlassen habe; daraufhin spielt dieser seine Trumpfkarte aus und lässt dem Grafen ein bislang zurückgehaltenes Schreiben des Franziskaners zukommen, in dem dieser seinen Ordensoberen unter Bruch des Beichtgeheimnisses die schwersten Verfehlungen des Grafen - nämlich seine Schuld am Tod seines Bruders, seiner ersten Frau und ihres Liebhabers - verrät. Nun wird statt des Jesuiten der Franziskaner von den Gütern des Grafen verbannt und Rebinsky wieder in Gnaden aufgenommen; das Schreiben, das die früheren Verbrechen des Grafen enthüllt, leitet er derweil an seine Ordensoberen in Rom weiter - warum erst jetzt und nicht schon früher, nun ja, das gehört zu den Inkonsistenzen des Romans, die zuweilen den Eindruck erwecken, der Autor wisse ebensowenig, was seine Figuren als nächstes tun werden, wie diese selbst. 

Recht interessant ist ein Religionsgespräch zwischen dem Grafen und Rebinsky in Kapitel XI, in dem der Jesuit - offenbar in der Absicht, jeglichen bleibenden Eindruck der Lehren Pater Gregors auf den Grafen auszulöschen - einem religiösen "Indifferentismus" (S. 105) das Wort redet und verschiedene Lehren der Katholischen Kirche explizit leugnet - vor allem die der Wirksamkeit des Sakraments der Beichte zur Vergebung der Sünden: "Ein Priester ist ein Mensch wie ein anderer, und wenn er behauptet, die Macht der Sündenvergebung zu besitzen, so geschieht dies nur, um dadurch sich die Herrschaft über die Seelen der Gläubigen anzumassen [sic] und egoistische Zwecke zu verfolgen" (S. 106). Den Franziskaner überrascht diese Taktik seines Widersachers allerdings überhaupt nicht: "Dem Jesuiten ist jedes Mittel heilig, wenn es ihn zu seinem Zwecke führt. Er verläugnet seinen Orden, seine Religion, er tritt als Weltmann auf unter allen Formen, wenn er dadurch zum Ziele gelangen kann" (S. 112). 

Derweil scheint Rebinskys vorrangiges Ziel darin zu bestehen, die junge Comtesse Elka zu verführen: In seiner Eigenschaft als Hauslehrer nutzt er sogar das Fach Biblische Geschichte, um durch die Erzählungen von König Davids "Abenteuer mit der Gemahlin des Urias" und den "tausend Frauen" Salomos (S. 116) die Leidenschaft des Mädchens zu wecken. Parallel dazu macht Gräfin Julie - die zweite Frau des Hausherrn - dem Lehrer ihrer Stieftochter immer deutlichere Avancen; die Überschrift des XIII. Kapitels bezeichnet sie gar als "moderne Putiphar" (sic!; S. 124). Rebinsky ist zwar durchaus gewillt, sich die Liebesfreuden mit der Gräfin nicht zu versagen, aber erst einmal will er die pubertierende Elka vernaschen und schleicht sich zu diesem Zweck - mit ihrem Einverständnis, wohlgemerkt - in ihr Schlafzimmer. Und was passiert dort? 
"Wir bedauern, hier in der Uebersetzung abbrechen zu müssen und die weitere Folge des Kapitels nicht mittheilen zu können; denn leider fehlen an dieser Stelle in unserem Manuskripte mehrere Blätter." (S. 131) 
Na, das ist ja mal eine verschämte Art, von einer Quellenfiktion Gebrauch zu machen! -- Das Kapitel endet damit, dass der Förster des Grafen erhängt aufgefunden wird - vermutlich ein Racheakt der Franziskaner für die Gefangensetzung des Pater Gregor, als dessen Gefängniswärter der Förster fungiert hatte. 

Fassen wir mal bis hierher zusammen: Wir befinden uns in der 3. Lieferung, der Autor hat bereits mehr als 10% des ihm zur Verfügung stehenden Platzes verbraucht, auf dem Umschlag der Lieferungshefte steht immer noch "Barbara Ubryk oder die Geheimnisse des Karmeliter-Klosters in Krakau", und die Leser, die sich ab der zweiten Lieferung zur Abnahme des ganzen Werks verpflichtet haben, warten auf sensationelle Enthüllungen über die Hintergründe eines aufsehenerregenden aktuellen Ereignisses - und die Handlung spielt nach wie vor knapp 70 Jahre in der Vergangenheit, ist noch nicht einmal in die Nähe von Krakau gekommen, und auch von einem Karmeliterkloster oder irgendwelchen Karmelitern ist weit und breit keine Spur. Der Name Ubryk wurde erst zweimal am Rande erwähnt. Wie lange werden sich das die zeitgenössischen Leser gefallen lassen? 

Nun, in den Kapiteln XIV-XVI (S. 132-158) spielt immerhin wieder der in Kapitel IX eingeführte Jaromir Ubryk die Hauptrolle. Als er ohne Kind nach Hause zurückkehrt, verschlimmern sich die Wochenbettbeschwerden seiner Frau durch den Gram über die Wegnahme ihres neugeborenen Knaben dramatisch, und bald darauf stirbt sie unter schrecklichen Krämpfen. Jaromir tröstet sich in der Schenke - wo auch sonst - und trifft dort erneut auf seinen Bekannten Biernacky, dem er zunächst Vorwürfe macht, weil er ihn zu der Kindsvertauschung angestiftet hat. Biernacky jedoch hat schon wieder einen spektakulären Vorschlag für seinen alten Freund Jaromir - und diesmal geht es, ganz im Stile der "Historisch-politischen Romane aus der Gegenwart" von Sir John Retcliffe alias Hermann Goedsche, um eine politische Verschwörung. Von der Qualität der Romane Retcliffes ist Dr. Rode allerdings weit entfernt: 
"Die schrecklichen Ereignisse, von denen Du bei der Erstürmung von Warschau durch die Russen vor einigen Jahren Zeuge warst, werden Dir noch frisch im Gedächtnisse sein. Die Moskowiter metzelten Männer, Greise und Kinder unbarmherzig nieder und begingen himmelschreiende Grausamkeiten. Kosziusko [sic] fiel und rief: Finis Poloniae! Polen wurde getheilt, jedoch wollen wir hoffen, daß diese Theilung nicht lange bestehen werde, es muß wieder ein großes mächtiges Reich werden. das Volk ist der Tyrannei seiner Unterdrücker müde und wartet nur auf das Zeichen und den Augenblick, um dieses drückende Joch abzuschütteln." (S. 137) 
Kurz und gut: Biernacky will Jaromir für einen polnisch-nationalistischen Geheimbund rekrutieren - und verrät ihm auch gleich dessen Pläne: "An einem bestimmte Tag soll [...] im ganzen Königreiche die Erhebung losbrechen, und alle Russen, die sich im Lande befinden, gleichzeitig ermordet werden" (ebd.). 

-- Was fällt uns daran auf? Zunächst einmal entspricht es zwar den historischen Tatsachen, dass die Russen bei der Niederschlagung des Kósciuszko-Aufstandes im November 1794 ein Massaker im Warschauer Vorort Praga anrichteten; hingegen ist der Satz "Kosziusko fiel und rief: Finis Poloniae!" mindestens irreführend, und das in mehrfacher Hinsicht: Tadeusz Kósciuszko war bereits knapp einen Monat vorher, am 10. November 1794, in der Schlacht von Maciejowice verwundet worden und in Gefangenschaft geraten, aber nicht 'gefallen'; bei dieser Gelegenheit soll er den Ausspruch "Finis Poloniae!" ("Das Ende Polens!") getätigt haben, was er selbst jedoch später bestritt. Nachdem Zar Paul I. ihn 1796 begnadigt hatte, lebte Kósciuszko im Exil in den USA und der Schweiz und starb erst 1817; zur Handlungszeit dieser Szene des Romans war er vom Exil aus noch durchaus aktiv in der polnischen Nationalbewegung. 

Der gravierendste, auch für den weiteren Handlungsverlauf des Roman folgenreichste historische Patzer dieser Passage ist jedoch, dass stillschweigend vorausgesetzt wird, Warschau habe bereits zu diesem Zeitpunkt der Handlung zum russischen Teil Polens gehört: Tatsächlich wurde Warschau in der 3. Polnischen Teilung von 1795 Preußen zugeschlagen und kam erst 1815 in Folge des Wiener Kongresses als Hauptstadt des in Personalunion mit dem Kaisertum Russland regierten Königreichs Polen (auch "Kongresspolen" genannt) unter russische Herrschaft. 

Auch ganz abgesehen von solchen historischen Fehlern und Unstimmigkeiten wirkt dieser neuerliche Wendepunkt der Handlung - dass derselbe Mann, der Jaromir gerade erst zu einer Kindsvertauschung angestiftet hat, ihn gleich am nächsten oder übernächsten Tag in eine politische Verschwörung einweiht - sonderbar unplausibel und übers Knie gebrochen. Einem Retcliffe wäre vermutlich eine zwar verzwickte, aber doch halbwegs nachvollziehbare Begründung dafür eingefallen, warum Jaromir erst eine Kindsvertauschung ins Werk setzen musste, ehe er in die Umsturzpläne gegen die russische Herrschaft in Polen eingeweiht werden konnte; Dr. Rode bliebt diese Begründung schuldig, und so entsteht der Eindruck, der Autor habe sich, nachdem er den Handlungsstrang um die Kindsvertauschung durch das Verschwinden des einen Säuglings vorerst an die Wand gefahren hat, auf die Schnelle etwas Neues ausdenken müssen. -- Jedenfalls endet das XIV. Kapitel mit der Aufnahme Jaromir Ubryks in den nationalrevolutionären Geheimbund, und somit darf sich der Leser über ein freimaurerisch inspiriertes Initiationsritual mit allem genreüblichen Brimborium (Totenschädel, Dolch etc.) freuen. Der Versammlungsort der Verschwörer liegt übrigens in "den Kellern des Jesuitenklosters" (S. 144), womit angedeutet wird, dass die polnische Nationalbewegung insgeheim vom katholischen Klerus gelenkt wird - auch dies ein zeittypisches Klischee, das gleichzeitig eine assoziative Verknüpfung mit der antiklerikalen und insbesondere antijesuitischen Tendenz der Haupthandlung um den skrupellosen Pater Rebinsky herstellt. 

Geht man davon aus, dass jede Lieferung des Romans drei Druckbogen à 16 Seiten umfasste, dann markiert die Verschwörerszene im Klostergewölbe den Schluss der 3. Lieferung. Interessant wäre es natürlich, zu wissen, in welchem zeitlichen Abstand die einzelnen Lieferungen erschienen; aber vielleicht ergeben sich diesbezüglich später noch Indizien. 

(Fortsetzung folgt!) 


2 Kommentare:

  1. Ich frag mich grad, ob das jetzt besser oder schlechter als die Dienstagsfrauen ist......

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  2. Das ist immerhin ein Beweis dafür, daß nicht alles schlechter geworden ist. In der Literatur zumindest gab es schon früher genau so Schlechtes und weit Schlechteres als heute.

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