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Mittwoch, 23. April 2025

Der seltsame Fall der eingekerkerten Nonne, Teil 19

Unlängst war ich im Kino, wo ich mir zusammen mit Frau und Kindern "Paddington in Peru" ansah. Es handelt sich dabei um den dritten und neuesten Teil einer Filmreihe, die auf einer bekannten britischen Kinderbuchreihe basiert und in deren Mittelpunkt ein sprechender Bär steht, der von einer britischen Familie "adoptiert" und nach seinem Fundort, dem Londoner Bahnhof Paddington, benannt wurde. Die beiden früheren, 2014 und 2017 erschienenen Filme haben wir nicht gesehen, aber das erschwerte das Verständnis der Handlung nicht wesentlich. 

In "Paddington in Peru" wird das Geschehen dadurch in Gang gesetzt, dass der bärige Titelheld Post aus Peru erhält, wo seine alte Tante Lucy in einem von Ordensschwestern betriebenen "Heim für Bären im Ruhestand" lebt: Die Mutter Oberin der Einrichtung berichtet Paddington, sie sei in Sorge um Tante Lucy, die sich in letzter Zeit seltsam verhalte und ihn offenbar schmerzlich vermisse, und bittet ihn, sie so bald wie möglich aufzusuchen. Tatsächlich macht sich daraufhin die gesamte Familie Brown einschließlich der alten Haushälterin Mrs. Bird auf den Weg nach Peru, erfährt bei ihrer Ankunft im Heim für Bären im Ruhestand jedoch, dass Tante Lucy verschwunden ist. 

Die Darstellung der Ordensschwestern ist bis zu diesem Punkt der Handlung grundsätzlich sympathisch, wenn auch leicht skurril überzeichnet, bis hin zu deutlichen visuellen Anleihen bei der klassischen Musical-Verfilmung "The Sound of Music". Allerdings ergeben sich – zumindest für den Kenner antiklerikaler Schauerromane aus dem 19 Jahrhundert – schon bald erste Verdachtsmomente, dass im Heim für Bären im Ruhestand womöglich nicht alles mit rechten Dingen zugeht. Dieser Eindruck verstärkt sich, als Paddington und die Browns, von der Mutter Oberin mit einer geweihten Christophorus-Plakette ausgestattet, zu einer Expedition in den Dschungel aufbrechen, um die verschollene Tante Lucy zu suchen, während Mrs. Bird im Heim für Bären im Ruhestand zurückbleibt: Die alte Haushälterin bemerkt, dass das Haus voll von ungewöhnlich starken elektrischen Interferenzen ist, und entdeckt eine Starkstromleitung, die zu einer hinter der Orgel verborgenen Geheimkammer führt. 

Und plötzlich dachte ich: Was, wenn Bärin Lucy in Wirklichkeit gar nicht im Dschungel verschollen ist, sondern, warum auch immer, in dieser Geheimkammer gefangen gehalten wird? 

Nun, ich denke, es ist kein allzu großer Spoiler, wenn ich verrate, dass das nicht der Fall ist; der Film hat durchaus noch mehr und größere Überraschungen zu bieten. Auf jeden Fall aber hat mich diese Szene daran erinnert, dass ich meinen Lesern schon wieder ganz schön lange eine Fortsetzung der Saga um die eingekerkerte Nonne schuldig geblieben bin. Am Ende von Episode 18 hatte ich angekündigt, "demnächst" (ha ha) zu verraten, wie das Kapitel "Die sieben Todsünden" aus dem 3. Band von Sir John Retcliffes Romanzyklus "Biarritz" weitergeht; fangen wir damit also mal an. 

Wir erinnern uns: Der Freischärler-Hauptmann Chevigné hatte den Auftrag übernommen, einem Einsiedler in den Abruzzen eine Geheimbotschaft zu überbringen, deren Inhalt er selbst nicht kennen durfte; der Einsiedler war unmittelbar nach Erhalt des Schreibens auf geheimnisvolle Weise aus seiner in der Nähe des berüchtigten "Klosters der Verdammten" gelegenen Klause verschwunden, Chevigné hingegen hatte sich in der Klause schlafen gelegt, war dann aber plötzlich erwacht, weil er Chorgesang zu hören meinte, und hatte entdeckt, dass diese Klänge aus einem Geheimgang drangen, der die Klause des Einsiedlers mit dem Kloster verbindet. Wie ich ebenfalls bereits angemerkt habe, ist das, was Chevigné "im Folgenden beobachtet [...,] vom Autor offenbar bewusst in ein gewisses Zwielicht zwischen Traum und Wachen gehüllt"; aber was genau beobachtet er denn nun? – Zunächst einmal, wie der Einsiedler, "jetzt mit Stola und Scapulier geschmückt", die Sterbegebete (Commendatio animae) für eine sterbende Nonne spricht. Wenig später führt der Einsiedler, nun wieder "in seine rauhe Kutte gehüllt", eine Unterredung mit der Äbtissin des Klosters, Schwester Barbara (deren Gesicht "von einer Blässe und Härte" ist, "die mit dem Marmor des Todtenkopfs wetteifern konnte", und "den Ausdruck gefühlloser Strenge" zeigt); und nun wird es interessant, denn in dieser Unterredung geht es offenbar um die Geheimbotschaft, die, wie man schon früher erfahren hat, vom Consiglio di Tri stammt, "einem geheimen Rath der frömmsten Kirchenfürsten", dessen Autorität noch über der des Papstes steht. Und "diese geheime Instanz", um deren Existenz nur wenige wissen, hat nun offenbar der Äbtissin befohlen, unter den zur lebenslangen Buße in ihrem Kloster verurteilten Sünderinnen die "Jüngsten und Schönsten" auszuwählen, die jeweils eine der Sieben Todsünden repräsentieren – und diese sollen "für die Zwecke des heiligen Kollegiums ihre Buße unterbrechen und in die Verlockungen der Welt zurückkehren". Die Äbtissin hat nun sechs Sünderinnen ausgewählt, die die "Hoffart", den "Geiz", die "Unkeuschheit", die "Völlerei", den "Neid" und die "Trägheit" verkörpern; die siebte Sünde, der Zorn, wird von allen gemeinsam repräsentiert. 

Francisco de Goya: Flug der Hexen (1797). Gemeinfrei (Quelle und Lizenz hier)

Um einzuordnen, worauf Retcliffe mit dieser Wendung hinaus will, erscheint es unerlässlich, einen Blick auf die Gesamtkomposition des Romanzyklus "Biarritz" zu werfen. – Zentrales Merkmal von Sir John Retcliffes "Historisch-politischen Romanen aus der Gegenwart" ist der Versuch, das politische Zeitgeschehen mit den erzählerischen Mitteln des Geheimbundromans darzustellen und zu deuten; so werden zahlreiche Ereignisse aus dem Bereich der internationalen Politik als Ergebnisse der Machenschaften mehrerer Gruppen von Verschwörern dargestellt, die teils gemeinsam, teils gegeneinander agieren. Nachdem Retcliffes Großzyklus "Villafranca" in elf Bänden den Zeitraum vom Revolutionsjahr 1848 bis zum Französisch-Italienisch-Österreichischen Krieg von 1859 abgedeckt hatte, begann "Biarritz" mit der Schlacht von Castelfidardo vom 18. September 1860, bei der die Truppen des Kirchenstaates eine vernichtende Niederlage gegen jene des Königreichs Sardinien-Piemont erlitten; weitere Kapitel des ersten Bandes führten den Leser nach Warschau, Prag, Biarritz (passend zum Romantitel!), Sibirien und Kopenhagen. Zudem deutete der Titel der "I. Abtheilung" des neuen Romanzyklus – "Gaëta – Warschau – Düppel" – an, dass die Handlung von der Belagerung der neapolitanischen Festung Gaëta (1860/61) über den polnischen Aufstand von 1863 bis zum Deutsch-Dänischen Krieg von 1864 reichen sollte; insgesamt beabsichtigte Retcliffe, die Romanhandlung mindestens bis zum "Deutschen Krieg" von 1866 fortzuführen, spätestens ab dem fünften Band mehren sich die Anzeichen, dass der Autor inzwischen den Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 und die Deutsche Reichsgründung als Zielpunkt der Romanhandlung anpeilt.

In diesem politisch-zeitgeschichtlichen Panorama hat Retcliffe dem "Consiglio di Tri" nun offenkundig die Aufgabe zugedacht, für die politischen Interessen nicht allein des Kirchenstaates, sondern der weltweiten katholischen Kirche zu agitieren; und wenn dieses geheime Drahtzieher-Gremium nun verfügt, dass eine Auswahl von "Todsünderinnen aller Sparten" (V. Neuhaus) aus dem "Kloster der Verdammten" freigelassen werden soll, dann soll auch dies zweifellos den besagten politischen Interessen dienen. In welcher Form dies vonstatten gehen soll, ist vorerst nur zu erahnen, aber was man über die zu diesem Zweck ausgewählten Sünderinnen erfährt, enthält zumindest ein paar Fingerzeige.

So heißt es über die als Repräsentantin der "Hoffart" ausgewählte Schwester Giuliana: "Sie glaubt aus dem Blut eines Königs zu stammen. Ihr Stolz hat ein großes Land in schwere Kämpfe gestürzt und Ströme von Blut sind durch sie geflossen." Von welchem "große[n] Land" hier die Rede ist, mag der historisch bewanderte Leser bereits ahnen; aufgelöst wird es an einer späteren Stelle, als die betreffende Sünderin explizit als "Spanierin" bezeichnet wird. (Man beachte, dass die Frage der spanischen Thronfolge einen der Anlässe für den Deutsch-Französischen Krieg bildete!) Die Frage des Einsiedlers, ob Giulianas Freilassung nicht zu neuen Kämpfen führen werde, verneint die Äbtissin zwar – "[S]ie ist gestorben für die Welt; in der Fürstengruft ihrer Ahnen steht ein leerer Sarg" –, aber der Einsiedler wirkt nicht überzeugt. – Die Vertreterin der "Völlerei", Theresa, "ist eine Tochter des Gomorrha Paris", und es wird angedeutet, die "Hand eines Mächtigen, der einst zu ihren Liebhabern gezählt und dessen Geheimnisse sie kennt", habe dafür gesorgt, dass sie ins Kloster der Verdammten kam – sollte damit gar Napoleon III. gemeint sein? – Der Neid in seiner höchsten Form – ein "Haß gegen Alles was lebt , und den Schein der Sonne genießt" – wird von Schwester Matilda verkörpert, die "aus Polen" stammt, als Schülerin eines abtrünnigen Priesters gilt und "die Seele ihrer Schwestern mit den schändlichsten Ketzereien" vergiftet haben soll; die Trägheit wird verkörpert von Schwester Carlotta, einer "getaufte[n] Jüdin" und "ehemalige[n] Sängerin". Dass unter den verschiedenen Verschwörergruppen, die in Retcliffes Romanwelt insgeheim das Weltgeschehen lenken, die Juden eine besonders düstere Rolle spielen, hat bereits das Kapitel "Auf dem Judenkirchhof in Prag" im ersten Band von "Biarritz" gezeigt, das als literarische Vorlage für die berüchtigten "Protokolle der Weisen von Zion" gilt; hier nun entsteht der Eindruck, Schwester Carlotta solle als eine Art Doppelagentin des Vatikans in die jüdischen Verschwörerkreise eingeschleust werden. "Eine Familie auf einem der katholischen Throne Europa's ist durch sie in schwerer Gefahr gewesen", erfährt man über sie; "ein Selbstmord, von dem die Welt redet, war durch sie veranlaßt" – worauf sich diese Andeutung bezieht, habe ich nicht herausfinden können.

Der Befehl des Consiglio di Tri, den der Einsiedler der Äbtissin überbracht hat, sieht vor, die sechs ausgewählten Sünderinnen "nach Ponte Corvo zu senden an den Bürger Nicolo Valdieri, ihren Lastern sie zu überlassen, nachdem die Schrecken des Todes ihren Gehorsam verbürgt" – das heißt, vor ihrer Entlassung soll ihnen als ein memento mori der Leichnam jener Nonne gezeigt werden, für die der Einsiedler zuvor die Sterbegebete gesprochen hat. "Der Fluch ihrer Sünden gehe vor ihnen her und folge ihnen nach", heißt es weiter.

Kapitän Chevigné ist vor dem Einsiedler zurück in der Klause und gibt vor, die ganze Zeit geschlafen zu haben; allerdings wird er durch das, was er in dieser Nacht beobachtet und belauscht hat, veranlasst, sich auch in der folgenden Nacht zum Kloster der Verdammten zu schleichen. So wird er Zeuge, wie die sechs für die geheime Mission im Auftrag des Consiglio di Tri ausgewählten Frauen auf ihre Freilassung vorbereitet werden, indem sie gebadet werden und Zivilkleidung erhalten, und dabei ekstatisch ihre Rückkehr in die "Welt" feiern; kurz darauf wird das Kloster von piemontesischen Truppen überfallen, wobei der Einsiedler Fra Gerardo tödlich verletzt wird und Chevigné in Gefangenschaft gerät. (Übrigens wird wiederholt angedeutet, der Einsiedler, der mit seiner Lebensweise eine schwere Schuld abbüßt, sei in Wirklichkeit der Herzog von Praslin, der 1847 des Mordes an seiner Frau beschuldigt worden war und sich einem Strafprozess durch Selbstmord entzogen hatte – der Fiktion nach hätte er diesen Selbstmord also nur vorgetäuscht.) – Während die Piemontesen auf dem Gelände des Klosters ihr Biwak aufschlagen, beginnen die sechs Sünderinnen sogleich, den Offizieren die Köpfe zu verdrehen; derweil werden auch die übrigen Insassinnen des Klosters befreit, mit Ausnahme der "Aebtissin und zehn der Nonnen, die sich "weigern [...], das Kloster zu verlassen". Ein Offizier meldet dem General Pinelli, man habe "schändliche Kerker in diesem Kloster gefunden, Höhlen, in denen die Unglücklichen verdammt waren, allein zu vermodern, ohne je das Licht der Sonne wieder zu sehen! Wir haben fünf solche Unglückliche befreit. Wie es scheint, ist dies Kloster eine strenge Pönitenz -Anstalt, ein geistliches Zuchthaus!" Worauf der General erwidert: "Sind diese Klöster überhaupt etwas Anderes, als Zuchthäuser oder Nester der Faulheit, der Völlerei?"

– "[F]rei und frech ging die Sünde hinaus in die Welt!" lautet der letzte Satz des Kapitels; aber man kann sich ausrechnen, dass dies nicht das letzte gewesen sein wird, was der geneigte Leser dieses Romanzyklus von den sechs Sünderinnen erfährt – es folgen schließlich noch ganze zehn Bände. Tatsächlich wird in einem späteren Band sogar ein expliziter Bezug zum realen Fall der Barbara Ubryk hergestellt; darauf wird noch zurückzukommen sein. Offensichtlich ist jedenfalls, dass trotz aller Parallelen auf der Motovebene die Handlung bei Retcliffe erheblich komplexer und ambitionierter angelegt ist als in Dr. A. Rodes "Barbara Ubryk"-Fortsetzungsroman – dem wir uns gleichwohl in der nächsten Folge dieser Artikelserie wieder zuwenden werden, die hoffentlich nicht wieder so lange auf sich warten lassen wird wie diese. Aber über "Paddington in Peru" möchte ich hier und jetzt noch etwas sagen (Vorsicht, Spoiler!):

Wie schon gesagt, befindet sich in der Geheimkammer, die die alte Haushälterin Mrs. Bird entdeckt, kein finsteres Verlies – dafür aber eine Überwachungszentrale, von der aus die Mutter Oberin den Reiseweg der Familie Brown mitverfolgen kann; in die Christophorus-Plakette, die sie Mrs. Brown mitgegeben hat, ist nämlich ein Sender eingebaut. Die Oberin begründet dies damit, dass man den Browns auf diese Weise nötigenfalls zu Hilfe kommen könne, und genau das geschieht auch: Als die Familie augenscheinlich in Gefahr gerät, machen die Ordensschwestern ein altes Flugzeug flott, das, wie nebenbei erwähnt wird, anlässlich eines Papstbesuchs angeschafft wurde (der Hl. Johannes Paul II. war tatsächlich zweimal, 1985 und 1988, in Peru), und eilen zur Rettung. Das hartnäckige Gefühl, irgend etwas stimme mit dieser Mutter Oberin nicht, bewahrheitet sich schließlich aber doch – allerdings bringen die Macher des Films es dabei fertig, sich aus dem Fundus der Klosterkolportage zu bedienen, ohne in die antiklerikale Kerbe zu hauen: Der entscheidende Twist ist, dass die Mutter Oberin gar keine echte Ordensschwester ist, sondern eine Abenteurerin und Schatzjägerin, die sich lediglich als Ordensschwester ausgegeben hat, um die Leitung des Heims für Bären im Ruhestand übernehmen und den dort lebenden Bären Hinweise zur Lokalisierung des legendären Eldorado entlocken zu können. Ein besonders hübsches Detail: In einer Rückblende sieht man sie in einem Hippiekleid und mit einer Wandergitarre auf dem Rücken, die mit einem Peace-Zeichen und ähnlichen Symbolen verziert ist. Gitarre spielt sie zu Beginn des Films immer noch, jetzt aber eher im Stil von "Sœur Sourire, der singenden Nonne"...  



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1 Kommentar:

  1. Juhu, endlich neues von der eingekerkerten Nonne... Bzw von der Nebengeschichte. Vielen Dank!

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