Nachdem ich mir bei der soundsovielten Wiederaufnahme dieser lange liegengebliebenen Artikelserie erst mal einen doppelten Exkurs – zum einen über Sir John Retcliffes Romanzyklus "Biarritz" und zum anderen über "Paddington in Peru" – genehmigt habe, wird es nun wohl Zeit, dass ich mich wieder dem eigentlichen Hauptthema dieser Reihe zuwende, nämlich der Besprechung des abstrus-ausufernden Kolportageromans "Barbara Ubryk oder die Geheimnisse des Karmeliter-Klosters in Krakau" von Dr. A. Rode, mit der wir zuletzt bis zum LXII. Kapitel (von insgesamt LXXVI) gelangt waren. Die Protagonistin "Jovita von den Engeln", von der der Verfasser dem Leser weismachen will, sie sei identisch mit der realen Person Barbara Ubryk, war nach der Einnahme eines sogenannten "Prokrustespulvers" in geistige Verwirrung verfallen, woraufhin ihr schurkischer Beichtvater Pater Gratian die Behauptung aufgestellt hatte, sie sei nicht etwa wahnsinnig, sondern besessen; ein versuchter Exorzismus hatte damit geendet, dass Jovita von ihrer Krankenpflegerin Schwester Kordula blutig geprügelt wurde. – Bei alledem fällt es auf, dass die Handlung sich trotz des Romantitels und trotz der Tatsache, dass die echte Barbara Ubryk in einem Kloster in Krakau eingesperrt war, bis zu diesem Zeitpunkt immer noch im Karmeliterinnenkloster in Warschau abspielt.
Unter diesem Aspekt lässt es für den Handlungsfortschritt hoffen, dass das LXIII. Kapitel, "Die Nacht auf dem Samborgehöfte", den Leser zunächst auf die "Heerstraße von Warschau nach Krakau" führt (S. 976). In einer Kutsche, die auf dieser Straße unterwegs ist, sitzen drei Personen, über deren Identität der Leser erst über 20 Seiten später aufgeklärt wird: Vorerst erfährt man nur, dass es sich um einen Herrn und zwei Damen in bürgerlicher Kleidung handelt – und dass eine der Damen einen "dichte[n] Schleier" trägt und an der "lebhaften Conversation der beiden Mitreisenden keinen Theil" nimmt (ebd.). Sodann wird die Bemerkung, man werde "morgen schon auf österreichischem Gebiete" sein (S. 978), zum Anlass für einen Exkurs über die jüngere Geschichte der "nicht unter Rußlands Scepter befindlichen" polnischen Gebiete genommen (ebd.); dieser Exkurs erstreckt sich fast über die Hälfte des Kapitels, und wir können es uns hier wohl sparen, ausführlich auf seinen Inhalt einzugehen. Immerhin ist der Hinweis, die Aufhebung des Freistaats Krakau bzw. seine Annexion durch Österreich sei vor "einem Jahre" erfolgt (ebd.), relevant für die Chronologie der Romanhandlung: Wir schreiben demnach inzwischen das Jahr 1847, was insofern von Belang ist, als die reale Barbara Ubryk, zeitgenössischen Berichten zufolge, 1848 in eine Einzelzelle im Krakauer Karmel eingesperrt wurde. Dass der Verfasser seinen Exkurs über die Geschichte des preußischen Großherzogtums Posen, des österreichischen Galizien und des Freistaats Krakau bis 1846 in Form eines Gesprächs unter den Reisenden präsentiert, hat indes recht problematische Auswirkungen – insofern, als er dabei Einschätzungen und Anschauungen, die offenbar seine eigenen sind (so etwa, dass es dem polnischen Bürger- und Bauernstand im Großherzogtum Posen besser ergangen sei als zur Zeit der polnischen Eigenstaatlichkeit, und nicht zuletzt die Aussage "Preußen allein vermag es, das Deutschthum durch die Macht der Civilisation zu verbreiten, weil es an der Spize der Civilisation marschirt", S. 979), dem Herrn in der Kutsche in den Mund legt, ohne zu beachten, dass solche Ansichten schwerlich zu dessen Charakter passen. (Dass der Leser zu diesem Zeitpunkt noch nicht explizit darüber aufgeklärt worden ist, wer dieser Herr ist, macht die Sache nicht besser.)
An einer Stelle der Erzählung über den Krakauer Aufstand vom Februar 1846 "zuckte die verschleierte Dame in der Wagenecke zusammen" (S. 984); hier deutet sich also ein konkreter Zusammenhang zwischen dem zeitgeschichtlichen Exkurs und der fiktionalen Romanhandlung an: Veranlasst wird diese Reaktion der bisher so teilnahmslosen Mitreisenden durch die Erwähnung des Namens Ludwig Gorszkowski – "ein sehr geschätzter Philolog und vormals Professor an der Universität Krakau" (ebd.) – unter den Anführern des Aufstandes. Dieser Name war im Roman schon einmal – auf S. 698, dort allerdings Gorzkowski geschrieben – erwähnt worden, nämlich als Ehemann von Barbara Ubryks jüngster Schwester Anna. Ein Ludwik Gorzkowski (1811-1857) gehörte tatsächlich zu den führenden Köpfen des Krakauer Aufstandes, war allerdings kein Philologe, sondern Physiker; gleichwohl steht zu vermuten, dass der Autor schon bei der ersten Erwähnung von Gorzkowskis Namen die Absicht hatte, eine Verbindung der Romanhandlung zum Krakauer Aufstand vorzubereiten. Dass die verschleierte Dame in der Kutsche bei der Nennung von Gorzkowskis Namen offenbar erschrickt, sich aber wieder beruhigt, als ihr Reisebegleiter wenig später erwähnt, nach der Niederschlagung des Aufstandes habe Gorzkowski "in Brüssel mit Frau und Kindern Aufnahme" gefunden (S. 985), lässt beim aufmerksamen Leser den Verdacht aufkommen, die geheimnisvolle Reisende sei niemand anders als Barbara Ubryk (alias "Jovita von den Engeln"); gleichzeitig erscheint es angesichts dieser Flucht nach Brüssel fraglich, ob der Autor aus der Idee, einen der Anführer des Krakauer Aufstandes zum Schwager seiner Protagonistin zu machen, noch mehr erzählerisches Kapital wird schlagen können.
Es folgen noch einige Informationen über die Stadt Krakau, dann kommt die Kutsche an einem Gehöft an, und da es bereits Abend wird, beschließen die Reisenden, auf diesem Hof die Nacht zu verbringen. Der Schilderung der Ärmlichkeit und Unsauberkeit des Hofes wie auch der Einfältigkeit der Bauernfamilie wird breiter Raum gegeben; wer die Übernachtungsgäste sind, wird immer noch nicht explizit verraten: Die "unverschleierte Dame" spricht ihren Begleiter zunächst, auch wenn sie unter sich sind, durchweg mit Karol an; als die "verschleierte Dame" ihn einmal Hochwürden nennt, wird sie von ihm scharf zurechtgewiesen: "Wurde es Ihnen nicht ausdrücklich verboten, uns bei Namen und Stand zu nennen? Wann wollen Sie einmal gehorchen?" (S. 994). Gleichwohl spricht am nächsten Morgen auch die Bauersfrau ihren Gast mit "Hochwürden" an (S. 999). Für wahrscheinlicher, als dass sie sein Inkognito durchschaut hat, halte ich es indes, dass der Autor hier nicht aufgepasst hat – das wäre ja nicht gerade ein Einzelfall.
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Adriaen van Ostade, Bauernfamilie in der Stube, 1647 (gemeinfrei) |
Eine nähere Betrachtung verdient derweil das Abendessen der drei Reisenden. Das Angebot des Bauern, er "könne auch mit gutem Schnaps und frischem Fleische aufwarten" (S. 990), lehnt der Herr mit dem Hinweis ab "Speise und Trank führen wir selbst auf der Reise"; lediglich für "die schwarzverschleierte" bestellt er "warme Milch und Brod zum Abendessen" (ebd.). Während sich also die verschleierte Dame – von der man wie gesagt bereits ahnen kann, dass es die Titelheldin des Romans ist – mit in geronnene warme Milch gebrockten Brotstückchen begnügen muss (wobei sie "den Schleier zurückschlug und ihr blasses eingefallenes Gesicht enthüllte", S. 993), holt der Herr für sich selbst und die andere Dame "gesalzenen Schinken und kalten Braten" aus dem Reisegepäck hervor (S. 994). Dazu merkt er an: "Es ist zwar heute Freitag und die Fleischspeise verboten; um so besser soll mir der Schinken munden" (ebd.). Seine Begleiterin reagiert darauf mit dem Einwurf: "Wozu ist überhaupt die Enthaltung von Fleischspeisen an Freitagen geboten, Karol? Ich konnte nie einen vernünftigen Grund für dieses Gebot der Kirche finden" (ebd.). Wie man sich unschwer denken kann, nutzt der Autor dies für einen seiner zahlreichen Exkurse zur Lächerlich- und Verächtlichmachung kirchlicher Lehren:
"Es gibt ja viele kirchliche Gebote, die nur aufgestellt sind, damit sie übertreten werden. Einem Papste fiel es ein, die Fleischspeisen an Freitagen zu verbieten. Er wußte recht wohl, daß die Leute gerade des Verbotes halber an diesem Tage das Fleisch lieber genießen und erlaubte für Entrichtung einiger Gulden die Dispensation auf ein Jahr. Die Reichen kauften sich nun jedes Jahr von der Verpflichtung, das Gebot zu beachten, mit klingender Münze los, und dieses Geld fällt in den römischen Säckel als eine Art Fleischsteuer. Die Armen begnügen sich aber mit Fischen, deren zartes Fleisch im Grunde nicht schlechter ist , als das des Kalbes. Dadurch fanden früher die zahllosen Klöster, welche großartige Fischteiche hielten, enormen Absatz ihrer kaltblütigen Waare, und wurden so durch jenes Gebot zwei Fliegen mit einem Schlage geklappt" (ebd.).
Bald darauf geht man zu Bett, wobei die beiden Damen sich ein Bett teilen müssen; trotz des Zuredens ihrer Begleiterin weigert sich die blasse, stille Dame, sich ganz zu entkleiden, und behält ihr Unterkleid an. Um Mitternacht, als ihre beiden Mitreisenden fest schlafen, steht sie auf, kleidet sich an und stiehlt sich davon, nicht ohne die Kleider der beiden anderen an sich zu nehmen und sie – in der offenbaren Absicht, eine rasche Verfolgung zu verhindern – in eine Jauchegrube zu werfen. Erst als am nächsten Morgen ihre Flucht entdeckt wird, wird der Leser explizit über die Identität der drei Reisenden aufgeklärt: Die Entflohene war tatsächlich Jovita, die beiden anderen der schurkische Pater Gratian und ihre brutale Krankenpflegerin Schwester Cordula (die Schreibweise des Namens variiert), die offenbar die Absicht hatten, die geistesgestörte, angeblich besessene Jovita heimlich nach Krakau zu schaffen – warum bzw. wozu, erfährt der Leser erst im folgenden Kapitel, "Das Gespenst in der Kutte", in Form eines Briefes, den die Priorin des Krakauer Karmels im Beisein ihres Beichtvaters liest. Darin kündigt die Priorin des Warschauer Karmels, Zitta, ihrer Kollegin in Krakau die "Transferirung einer Nonne" (S. 1009) an:
"Die genannte Schwester wurde vor einiger Zeit von einem Zustande befallen, der sich nach längerer Beobachtung als dämonische Besessenheit bewies. Der böse Geist, der von der Unglücklichen Besiz genommen hat, zeigte sich als ein Geist der Unreinigkeit. Durch die Kraft der Kirche beschworen, rächte er sich dadurch, daß er andere Schwestern mit seinen unreinen Gedanken anfiel und in das Kloster Verwirrung und Trübsal brachte.
Zur Vermeidung ungeeigneter Auftritte einerseits, andererseits aber zum heilsamen Wohle der solchergestalt heimgesuchten Schwester wurde die Versezung derselben in ein anderes Kloster beantragt und die Ueberbringung in Ihr wohllöbl. Kloster anbefohlen. Der böse Geist ist von der Schwester noch nicht gewichen und macht sich nach Außen durch Raserei bemerkbar.
In Ausführung des ergangenen Befehles werde ich die Schwester Jovita morgen durch einen Pater und die Schwester Krankenwärterin zu Wagen nach Ihrem wohlöbl. Kloster überbringen lassen und unterstelle dieselbe Ihrer Jurisdiktion. Die Verfolgung katholischer Geistlichen von Seite der russischen Poppen [sic!] macht es nothwendig, daß die drei Personen in weltlichen Kleidern reisen" (S. 1010).
Angehängt an dieses Schreiben ist ein Dekret des Ordensprovinzials, in dem im Wesentlichen noch einmal dasselbe steht. – Was übrigens Jovitas Geisteskrankheit angeht, scheint diese sich seit dem vorigen Kapitel bedeutend gebessert zu haben; so ist es nicht verwunderlich, dass Schwester Cordula argwöhnt: "Ich wette darauf, daß der Teufel die Besessene entführt habe [...]. Ihrem zerrütteten Gehirne könnte unmöglich ein so teuflischer Gedanke entsprungen sein" (S. 1002). – Jedenfalls befinden sich Pater Gratian und Schwester Cordula durch Jovitas Flucht in einer misslichen Lage, umso mehr, als sie auf dem Samborgehöft bleiben müssen, bis ihre Kleidung gewaschen und getrocknet ist, was mehrere Tage dauert, sodass der Versuch einer Verfolgung von vornherein aussichtslos erscheint. Um in Krakau nicht zugeben zu müssen, dass Jovita ihnen "entwischt" ist (S. 1003), einigen sich Gratian und Cordula darauf, zu behaupten, "der böse Geist habe sie mitten in der Nacht, während wir schliefen, aus dem Bette geholt und durch die Lüfte entführt" (S. 1004). Da die Priorin des Krakauer Karmels – deren Beichtvater, der junge Pater Hyginus, ihr zuvor auseinandergesetzt hat, der Glaube an dämonische Besessenheit sei wissenschaftlich überholt – diese Geschichte nicht recht zu glauben scheint und grundsätzliche Zweifel daran äußert, dass Jovita besessen und nicht bloß "wahnsinnig und tobsüchtig" ist ("muß denn der Teufel überall im Spiele sein?", S. 1029), schildert Gratian ihr eindrücklich, wie der Dämon, von dem Jovita angeblich besessen ist, begonnen habe, "das ganze Kloster zu verderben" (S. 1028):
"Er zerbrach die Fenster, stürzte das Geräthe um, schnitt die Glockenseile ab und trug sie davon; er schlug das Cymbalum [...] zur Nachtzeit und beunruhigte in solcher Weise die Schwestern, daß manche von ihnen beinahe wahnwitzig wurden. Bei Nacht trieb er sich im Dormitorium mit solcher Bosheit umher, daß keine der Schwestern wagte , allein durch den Schlafsaal zu gehen und viele sich so im Bette verkrochen, daß sie den Nachtchor versäumten. In einer Nacht griff er die Schwester Euphrasia und zerriß ihre Kleider an zwölf Orten, indem er Spuren von Krallen zurückließ, wie ein wildes Thier des Waldes" (ebd.).
In dieser Manier geht es noch rund eine Seite weiter; die Priorin bleibt jedoch skeptisch. Als Gratian daraufhin anmerkt "Wenn aber diese Schwester zurückkehrt, werden Sie selbst Ihre Beobachtungen anstellen können" (S. 1029), erwidert sie zu Recht: "Wenn, ja! Wer kann es wissen, ob sie gleich dem Kloster zuläuft? Die Gelegenheit ist zu günstig, sie trägt jedenfalls weltliche Kleider [...] und wird nicht die geringste Lust verspüren, sich in die für ihren Zustand doppelt schwere Abhängigkeit des klösterlichen Lebens zu begeben" (S. 1029f.). – "Freiwillig wird sie schwerlich zurückkehren", räumt Gratian ein; "man wird sie aber durch die Hilfe der Gerichte einfangen lassen müssen"; dazu zeigt die Priorin indes wenig Neigung und weist darauf hin, dass sie "[d]ie weltliche Gewalt [...] erst anrufen" dürfe, "wenn der hochwürdige Provinzial es ausdrücklich erlaubt hat" (S. 1030).
– Auf der Rückreise nach Warschau gesteht Gratian seiner Begleiterin Cordula, dass er selbst nicht an Besessenheit glaubt:
"Was damals Pater Alfons im Refektorium mir entgegenhielt, war durchaus wahr. Besessene gibt es nicht mehr seit die Menschen durch die Wissenschaften civilisirter und die Bildung des Verstandes ein gemeinsames Gut Aller geworden sind. Krankheiten des Geistes und des Körpers, die man sich früher nicht deuten konnte, betrachtete man als Ausfluß böser Mächte, als Besessenheit. In Süditalien gibt es heute noch Besessene, – weil dort die Menschen in Allem noch um Jahrhunderte zurück sind" (S. 1032).
Damit nicht genug, enthüllt er der Schwester auch noch, dass er den Spuk im Kloster, von dem er der Krakauer Priorin berichtet hat, selbst inszeniert hat:
"Ich war es, der die Fenster zertrümmerte, das Geräthe umstürzte, die Glockenseile abschnitt und das Cymbalum schlug. Ich brachte die Nächte im Kloster zu, miaute, bellte, pfiff, heulte und kratzte im Schlafsaale, daß den Schwestern angst und bange wurde" (S. 1033).
Kaum sind Gratian und Kordula nach Warschau zurückgekehrt, dringt russisches Militär in das dortige Kloster ein, um einen Befehl des "Generalgouverneur[s] der Provinz Polen, Fürsten Murawief, und Generaladjutant Sr. kaiserlichen Majestät" (S. 1036) zu vollstrecken, demzufolge "[a]lle Manns- und Frauenklöster der römischen Kirche" in Russisch-Polen "aufzuheben" seien (S. 1037). Dieser Befehl ist auf den 29. April 1847 datiert – und man muss sich einmal mehr wundern, wie unbekümmert der Verfasser mit den historischen Fakten umspringt, denn an dieser Geschichte stimmt nun wirklich gar nichts. Das fängt damit an, dass der russisch beherrschte Teil Polens bis 1867 offiziell nicht Provinz, sondern Königreich Polen hieß und nicht von einem Generalgouverneur, sondern von einem Vizekönig regiert wurde; und dieser war anno 1847 nicht Fürst Murawjow, sondern Fürst Paskjewitsch; und überhaupt habe ich keinerlei Belege dafür gefunden, dass 1847 in Russisch-Polen die katholischen Klöster aufgehoben wurden. Man mag geteilter Meinung darüber sein, was daran erstaunlicher ist: dass der Autor ein solches Ereignis, das, wenn es denn stattgefunden hätte, zum Zeitpunkt des Erscheinens des Romans noch nicht viel mehr als 20 Jahre her gewesen wäre, einfach erfindet; oder dass ich mich nach allem, was der Autor sich in dieser Hinsicht schon geleistet hat, immer noch darüber wundere.
Den größten Teil des LXIV. Kapitels macht allerdings nicht die bis hierher skizzierte Handlung aus, sondern – wieder einmal – eine Reihe von Exkursen: Pater Gratian, der verrät, er sei in Krakau "geboren und erzogen" worden (S. 1005), schildert auf knapp drei Seiten die Sehenswürdigkeiten der Stadt, insbesondere die Kirchen, und Denkwürdigkeiten aus der Lokalgeschichte; dem Pater Hyginus legt der Autor nicht nur einige Ausführungen zum Krankheitsbild der Hysterie ("Sie ist eine Krankheit des weiblichen Geschlechtes, die vorzüglich in den Klöstern zu sinden ist. Sie entsteht aus der Nichtbefriedigung natürlicher Triebe und wird zur Hysteromanie oder Manneswuth, wenn kein Mittel dagegen angewendet wird", S. 1012) in den Mund, sondern auch einen über elf Seiten langen Exkurs über die schädlichen Folgen des Zölibats und über sexuelle Ausschweifungen, der – wie auch schon frühere Passagen ähnlichen Inhalts – teilweise wörtlich, teilweise mit geringfügigen Änderungen aus dem "Pfaffenspiegel" des Otto von Corvin abgeschrieben ist. – Damit geben die Kapitel LXIII und LXIV ein recht zwiespältiges, um nicht zu sagen widersprüchliches Gesamtbild ab: Auf der einen Seite kann man in der versuchten "Transferirung" Jovitas von Warschau nach Krakau das Bemühen erkennen, die Handlung voranzubringen – und dazu hatte der Autor, wenn man die Geschäftspraktiken des Kolportagebuchhandels bedenkt, auch allen Grund: Üblicherweise verpflichteten sich die Leser nach Ansicht einiger Probenummern vertraglich zur Abnahme eines vollständigen Romans, und damit hatten sie im Prinzip ein Recht darauf, dass der betreffende Roman innerhalb der angekündigten Anzahl von Lieferungen abgeschlossen wurde. (Es sei indes nicht verschwiegen, dass es keine Seltenheit war, dass Kolportageromane "Überlänge" bekamen, weil die Autoren es nicht schafften, rechtzeitig zum Schluss zu kommen.) Durch die umfangreichen Exkurse werden diese Bemühungen um Handlungsfortschritt jedoch wieder konterkariert. Daraus kann man einerseits schließen, dass der Verfasser unter erheblichem Zeitdruck arbeitete und froh war, das Schreibpensum, das ihm wöchentlich oder alle 14 Tage abgefordert wurde, durch hemmungsloses Exzerpieren von Sekundärquellen zu erfüllen; andererseits aber auch, dass ihm antikatholische bzw. antiklerikale Propaganda sowie nicht zuletzt die Befriedigendung pornographischer Gelüste wichtiger war, als eine schlüssige, überzeugend konstruierte Handlung vorzulegen. Wer zu Beginn des Romans glaubte, viel tiefer könne das erzählerische Niveau nicht mehr sinken, sieht sich wieder und wieder getäuscht.
– Wird der Autor auf den letzten gut 200 Seiten noch einmal die Kurve kriegen? Und vor allem: Wo steckt jetzt eigentlich Jovita, und wie wird sie wieder eingefangen (denn dass sie wieder eingefangen werden muss, ist ja vom Ausgang der Geschichte her zwingend vorgegeben)? Das werden wir uns in der nächsten Folge ansehen...
Großes Kino!
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