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Donnerstag, 2. November 2023

Komm, lass uns kleben

Unlängst – ich erwähnte es bereits – habe ich erstmals im öffentlichen Raum ein Rekrutierungsplakat der "Letzten Generation", im Volksmund besser bekannt als "Klima-Kleber", gesehen. Ich weiß ehrlich gesagt nicht, warum dieser Anblick mich so überraschte; vermutlich hatte ich mir einfach nicht vorstellen können, dass so eine radikale Aktivistengruppe derart öffentlich um Mitstreiter wirbt. Vielleicht war das ein bisschen naiv von mir, aber so sehr dann wohl doch nicht; es hat schließlich seinen Grund, dass man diese Werbung nicht in den Hallen am Borsigturm oder in der Markthalle des Tegel-Quartiers findet, sondern an einer Häuserwand in Prenzlauer Berg, in der Gegend zwischen Mauerpark und Kulturbrauerei. Einer Gegend, die zwar stark von Gentrifizierung betroffen, aber nichtsdestoweniger immer noch entschieden links-alternativ geprägt ist; wovon der Stil der dort ansässigen Lokale und Geschäfte ebenso Zeugnis gibt wie die Graffiti an den Wänden und eben auch der ausgeprägte Hang zum "wilden Plakatieren". 

Jedenfalls fand (und finde) ich das Plakat faszinierend: Der Slogan "Was wirst du tun?" in Kombination mit dem trotzig-vorwurfsvollen Blick der abgebildeten Person macht unmissverständlich deutlich, dass das Plakat den Betrachter zu einer Gewissenserforschung auffordert – er soll sich fragen, ob er es verantworten kann, sich nicht selbst ebenfalls an die Straße zu kleben oder etwas mindestens ebenso Bedeutsames zu tun. Es liegt auf der Hand, dass das Plakat die erhoffte Wirkung nur bei solchen Betrachtern haben kann, die bereits eine gewisse Neigung mitbringen, die Aktionen der "Letzten Generation" als vorbildlich und bewundernswert zu betrachten. 

Diese Feststellung wiederum hat mich dazu gebracht, darüber zu sinnieren, wie es eigentlich kommt, dass die "Letzte Generation" gerade in der linken Szene so einen Heldenstatus genießt. – Damit meine ich nicht nur, dass es durchaus nicht selbsterklärend ist, warum das Thema Klima- oder allgemein Umweltschutz im politischen Spektrum gemeinhin "links" verortet wird. Man hat sich halt irgendwie daran gewöhnt, aber um nachzuvollziehen, wie es eigentlich dazu gekommen ist, müsste man wohl mindestens bis in die 1970er Jahre zurückgehen, als die maoistischen "K-Gruppen" sich in großem Stil in die zuvor eher in ländlich-konservativen Milieus verwurzelte Anti-Atomkraft-Bewegung einklinkten. Das ist ein spannendes Thema, das ich hier und jetzt jedoch nicht vertiefen kann. Die Frage, um die es mir hier und jetzt geht, ist nicht so sehr, warum sich die radikale Linke überhaupt für das Thema Klimaschutz interessiert, sondern warum ein signifikanter Teil der radikalen Linken sich derzeit mehr für Klimaschutz zu interessieren scheint als für diverse andere, "klassisch linke" Themen, die es ja schließlich auch noch gibt. Und man erzähle mir jetzt bitte nicht, das liege daran, dass das Thema Klimaschutz nun einmal objektiv das dringlichste sei. Das mag man so sehen oder auch nicht, aber es ist sicherlich nicht der Grund

Während ich dieses Plakat betrachtete, kam mir der Gedanke: Ein Aspekt, der hier eine Menge erklärt, ist die Erkenntnis, dass Radikalisierung ein Wettbewerb ist.  Ein klassisches Anschauungsbeispiel für dieses Phänomen ist die Gründungs-Vorgeschichte der RAF. – Wir erinnern uns: Anno 1968 standen Rainer Langhans und Fritz Teufel von der "Kommune I" vor Gericht wegen zweier Flugblätter, in denen, angeregt durch einen Kaufhausbrand in Brüssel mit zahlreichen Todesopfern, das Anzünden von Kaufhäusern als Mittel empfohlen wurde, gegen den Konsumterror zu protestieren und zugleich ein bisschen Vietnamkriegs-Feeling in den Alltag des deutschen Bürgers zu transportieren. Die Verteidigung argumentierte, bei diesen Flugblättern handle es sich nicht um Anstiftung zu Straftaten, sondern um Satire; das Gericht schloss sich dieser Auffassung an, Langhans und Teufel wurden freigesprochen. Keine zwei Wochen später legten Andreas Baader und Gudrun Ensslin mit zwei weniger namhaften Mittätern Brände in zwei Kaufhäusern in Frankfurt am Main. Damit wurden sie buchstäblich über Nacht zu den Stars der linksradikalen Szene – weil sie etwas machten, worüber andere nur redeten. Michael "Bommi" Baumann, der bald darauf Bomben für die anarchistische "Bewegung 2. Juni" bauen sollte, formulierte es so: "Ob die da nun ein Kaufhaus angesteckt haben oder nicht, war mir im Augenblick scheißegal, einfach dass da mal Leute aus dem Rahmen ausgebrochen sind und so eine Sache gemacht haben [...]. Die Brandstiftung ist natürlich auch eine Konkurrenzgeschichte. Wer die knallhärtesten Taten bringt, der gibt die Richtung an." (Zitiert nach Stefan Aust, Der Baader Meinhof Komplex, S. 62) 

Damit will ich natürlich nicht die Verkehrsblockaden der "Klima-Kleber" mit Kaufhausbrandstiftung oder gar mit den später folgenden Verbrechen der RAF auf eine Stufe stellen. Worauf ich hinauswill, ist vielmehr, dass in der gegenwärtigen Situation die "Letzte Generation" diejenige Gruppe ist, die – jedenfalls in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit, und auf die kommt es schließlich an – "die knallhärtesten Taten bringt", die es mit allem, was sie tut, auf die Titelseite der Bildzeitung schafft. Das macht diese Gruppe attraktiv auch für solche jungen Leute, deren Anliegen vielleicht gar nicht in erster Linie der Klimaschutz ist, sondern die einfach ein diffuses Bedürfnis in sich spüren, zu rebellieren, gegen die herrschenden Verhältnisse aufzubegehren. 

Der im staatsbürgerlichen Sinne konservative Teil meiner Leserschaft muss jetzt ganz tapfer sein (ist aber von mir ja ohnehin Kummer gewohnt): Wenn ich von einem "diffusen Bedürfnis nach Rebellion" spreche, meine ich das gar nicht abwertend. Im Gegenteil, ich halte ein solches Bedürfnis – besonders, aber nicht nur bei jungen Erwachsenen – nicht allein für legitim, sondern es ist mir grundsätzlich sogar sympathisch (auch wenn die Formen, in denen dieses Bedürfnis sich auslebt, es nicht unbedingt sind). – Wie ich bei passender Gelegenheit nicht müde werde zu betonen, dürfte die Wahrnehmung, dass die Welt, so wie sie ist, in einem fundamentalen Sinne nicht in Ordnung ist, gerade Christen eigentlich nicht fremd sein. Ich möchte an ein Zitat aus C.S. Lewis’ "Mere Christianity" ("Pardon, ich bin Christ") erinnern, das ich in einem ähnlichen Zusammenhang schon einmal gebracht habe:  

"Vom Feind besetztes Land – das ist diese Welt. Das Christentum berichtet davon, wie der rechtmäßige König gelandet ist, in Tarnung, könnte man sagen, und wie er uns alle aufruft, uns an einem großen Sabotagefeldzug zu beteiligen. Man geht im Grunde in die Kirche, um dort die geheimen Funksprüche unserer Freunde abzuhören. Deshalb ist der Feind so erpicht darauf, uns von dort fernzuhalten." 

Freilich birgt das von Lewis gewählte Bild die Gefahr, allzu wörtlich genommen zu werden und so den Blick dafür zu verstellen, dass die Opposition des Christen gegen die Welt, wie sie ist, in erster Linie kein politischer, sondern ein spiritueller Konflikt ist; wie der Apostel Paulus schrieb: "Wir haben nicht gegen Menschen aus Fleisch und Blut zu kämpfen, sondern gegen Mächte und Gewalten, gegen die Weltherrscher dieser Finsternis, gegen die bösen Geister in den himmlischen Bereichen" (Eph 6,12). Das heißt nicht, dass das Eintreten für das Reich Gottes – das Eintreten dafür, dass "[S]ein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden" – nicht auch eine politische Relevanz hätte, wenn man Politik im weitesten Sinne den Prozess des Aushandelns der Regeln des Zusammenlebens in Staat und Gesellschaft versteht. Aber wenn Christus zu Pilatus sagt "Mein Reich ist nicht von dieser Welt" (Joh 18,36), dann bedeutet das eben auch, dass Seine Herrschaft sich nicht in den Formen und Kategorien weltlicher, also politischer Herrschaft verwirklicht. Dafür, was dabei herauskommen kann, wenn man dies aus dem Blick verliert – wenn man die Frohe Botschaft vom Reich Gottes so sehr mit bestimmten politischen Zielsetzungen identifiziert, dass das politische Engagement sich schließlich verselbständigt und die Glaubensinhalte des Christentums, soweit sie sich nicht unmittelbar in politische Forderungen "übersetzen" lassen, uninteressant werden –, bieten etwa die lateinamerikanische Befreiungstheologie, aber auch die "politische Theologie" von Leuten wie Dorothee Sölle oder Helmut Gollwitzer, warnende Beispiele; unter anderem deshalb finde ich es so wichtig, dass die "Benedikt-Option" sich so entschieden gegen eine Vergötzung der Politik ausspricht, wie sie gerade in den westlichen Demokratien weit verbreitet ist. 

- - Aber worauf wollte ich eigentlich hinaus? Am besten erläutere ich das vielleicht, wie es nun einmal meine Art ist, mit Hilfe einer weiteren Abschweifung. Vor über zwei Jahren habe ich mit großem Interesse Darryl Coopers Podcast-Reihe "God's Socialist" über die Hintergründe und den zeitgeschichtlichen Kontext des Jonestown-Massakers gehört, und seinerzeit notierte ich in meinem Wochenbriefing, dass in diesem Podcast auf das Buch "Dedication and Leadership" von Douglas Hyde Bezug genommen werde und dass ich dieses Buch wohl mal würde lesen müssen. Nun, gelesen habe ich es bis heute nicht, aber was im Podcast darüber gesagt wurde, ist trotzdem bei mir hängen geblieben, und kürzlich habe ich mir die betreffende Passage nochmals angehört. Douglas Hyde (1911-1996) – nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Präsidenten der Republik Irland – war ein britischer Kommunist und Redakteur der Parteizeitung Daily Worker, sagte sich jedoch 1948 vom Kommunismus los und konvertierte zur katholischen Kirche. Sein 1956 erschienenes Buch "Dedication and Leadership" basiert auf einer Reihe von Vorträgen, die Hyde vor Vertretern katholischer Organisationen hielt, und widmet sich der Frage, wodurch es dem Kommunismus möglich war, innerhalb weniger Jahrzehnte die halbe Welt zu erobern, und was man daraus lernen könne. Als einen entscheidenden Faktor benennt Hyde die absolute, todesverachtende Hingabe kommunistischer Aktivisten an ihre Mission, für die er diverse Beispiele aus aller Welt anführt. Wie aber gelang es den kommunistischen Agitatoren, die zumeist jungen Leute, die sie für ihre Bewegung rekrutierten, zu einer solchen Hingabe zu inspirieren? – Hyde gibt eine bestechend simple Antwort: Wenn man Menschen nur wenig abverlangt, bekommt man in der Regel auch nur wenig von ihnen. Verlangt man ihnen jedoch viel, ja alles ab, dann kann man erleben, wie viel zumindest einige der so angesprochenen Menschen zu geben bereit und fähig sind. – Mir fällt dazu immer wieder eine Jugendmesse anlässlich des Starts eines neuen Firmkurses ein, die ich anno 2019, "vor Corona", in Herz Jesu Tegel miterlebte. Da hörten die jungen Firmbewerber im Evangelium, wie Jesus Dinge sagt wie "Wenn jemand zu mir kommt und nicht Vater und Mutter, Frau und Kinder, Brüder und Schwestern, ja sogar sein Leben gering achtet, dann kann er nicht mein Jünger sein" (Lk 14,26), und in der anschließenden Predigt wurde ihnen erklärt, sie müssten das nicht so ernst nehmen. Ich war schon damals der Meinung, dass das ein fataler Fehler sei, und von Douglas Hyde habe ich gelernt, was daran so fatal ist. Die These, junge Menschen hätten von Natur aus einen starken Hang zum Idealismus und sogar einen Drang zum Heroismus, mag man als unzulässige Verallgemeinerung betrachten, und sicherlich können wir uns darauf einigen, dass diese Neigungen individuell sehr unterschiedlich stark ausgeprägt sind. Aber wer noch nicht einmal den Versuch unternimmt, dieses Potential abzurufen, der wird es auch nicht in Aktion erleben. Gegebenenfalls tut das dann eben jemand anderes.  

Auf die Kirche bezogen, heißt das: Mit einer Jugendpastoral, die sich nett, harmlos, niederschwellig und dezidiert nicht-radikal gibt, erreicht man nur die Laschen und die Lauen, und da das in den Großkirchen schon seit ein paar Generationen so praktiziert wird, ist es nicht verwunderlich, dass das Erscheinungsbild dieser Kirchen von Leuten dominiert wird, die den Eindruck erwecken, selbst nicht so richtig überzeugt von dem zu sein, was sie predigen – zumindest nicht überzeugt genug, um dafür etwas zu riskieren. Diejenigen jungen Leute, die auf der Suche nach etwas sind, wofür sie sich begeistern, ja aufopfern können, gewinnen so leicht den Eindruck, der christliche Glaube haben ihnen nichts zu bieten, und gehen folgerichtig lieber woanders hin. Zum Beispiel eben zu den "Klima-Klebern"

Um es noch einmal auf den Punkt zu bringen: Eine Kirche, die, um nur ja niemanden vor den Kopf zu stoßen, den christlichen Glauben nur mehr in einer abgetönten, verdünnten, anspruchslosen und dem Zeitgeschmack angepassten Gestalt zu verkünden wagt, vermittelt den Eindruck, dieser Glaube sei im Grunde bedeutungslos – außer vielleicht, wenn er sich mit aktuellen politischen und sozialen Anliegen verbindet. Insofern ist es nur folgerichtig, dass – wie ich vor ein paar Jahren in der Tagespost schrieb – Vertreter kirchlicher Institutionen oder kirchennaher Verbände, wenn sie sich an "Fridays for Future"-Demonstrationen und ähnlichen Aktionen beteiligen oder zu deren Unterstützung aufrufen, den Eindruck erwecken, dass sie "sich von einem Sendungsbewusstsein und einem missionarischen Eifer mitreißen lassen, der ihnen selbst schon lange abhanden gekommen ist". Ebenso passt es ins Bild, dass wir heute katholische Jugendverbände haben, deren Mitglieder lieber im Namen der Welt gegen die Kirche rebellieren statt umgekehrt, und sich dabei auch noch besonders mutig vorkommen. 


3 Kommentare:

  1. Chapeau und Danke für diesen Artikel. Ich persönlich habe darüber hinaus immer so meine Schwierigkeiten damit, die Klimakleber als Spinner abzutun. Sich bei Wind und Regen auf den nassen Asphalt zu kleben, ist nun mal keine Kleinigkeit und zollen mir einen gewissen Respekt ab. Jesus selber wurde ja nach seiner "Brotrede" auch als Spinner bezeichnet und er hatte anscheinend überhaupt kein Problem damit. Was wir allerdings durchschauen müssen, ist die idelogische Propaganda, von wem auch immer, die Klimakleber und FFF Hüpfer für die eigenen "satanischen" Ziele schamlos ausnutzt. Um das aufzuklären wäre ich bereit mich überall hinzukleben wo es nötig wäre.

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  2. Vielen Dank für diese interessante Perspektive, der ich viel abgewinnen kann. Dass viel bekommt, wer viel verlangt, lässt sich aktuell gut nachvollziehen: in Israel lassen junge und mitteljunge Menschen, die dies dezidiert nicht müssten, momentan alles liegen und stehen, um sich der Armee anzuschließen. Auf der anderen Seite sind Menschen, die von klein auf gelernt haben, es wäre ihre Lebensaufgabe, sich für ein "freies" Palästina zu opfern, genau dazu bereit.
    Es funktioniert also, wenn man das entsprechende Angebot macht, a) sich mit einer Idee oder Gruppe entsprechend zu identifizieren und b) dann für die Idee oder Gruppe entsprechend Zeit, Energie, Ressourcen...bis hin zum eigenen Leben einzusetzen.
    Die Frage für mich ist, ob nicht die gesamte deutsche (und etliche europäische) Gesellschaften diese Angebote nicht mehr machen WOLLEN - aus historisch begründeter Angst vor Mißbrauch. Mir scheint, in Deutschland soll alles möglichst uncharismatisch, möglichst unmitreissend, möglichst unemotional sein, um zu verhindern, dass jemand "verführt" und "mitgerissen" wird (wie so HJ-Mitglieder anno dazumal). Der bevorzugte Politikertyp scheint der angejahrte Bürohengst zu sein, bitte möglichst kein Schwung, kein Pep, bitte möglichst nichts Mitreißendes!
    Vielleicht irre ich mich da als nichtdeutsche teilnehmende Beobachterin auch, weil mir das spezifisch deutsche Verständnis dafür fehlt? Keine Ahnung.

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