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Mittwoch, 22. November 2023

Wutbürger beim Bäcker

Neulich bekam ich auf Facebook, von der unergründlichen Weisheit des Algorithmus für mich ausgewählt, einen abfotografierten Ausschnitt aus der "Westfalenpost" oder "Westfalenrundschau" zu Gesicht, einen Text von jener in der Tagespresse recht verbreiteten Art, die als Glosse beginnt und als Kommentar endet. "Die Kruste, aber dalli", ist der Text überschrieben, und im Mittelpunkt der Erzählung steht das unverschämte Verhalten eines Kunden in einer Bäckerei. Eine Bäckerei war es auch – die Stadtbäckerei Kamp aus Hagen nämlich –, die diesen Zeitungsartikel auf Facebook teilte und zustimmend kommentierte; in gewissem Sinne halte ich das allerdings für ein Missverständnis, denn im Grunde, so möchte ich behaupten, geht's der Verfasserin um ganz was Anderes, und die Szene in der Bäckerei ist dafür lediglich der Aufhänger. – 

Aber dazu später. Zunächst einmal sind wir wie gesagt in der Bäckerei – in "unserer kleinen Bäckereifiliale", wo "der Umgangston [...] an und für sich gut" ist: "Wir nehmen Rücksicht aufeinander. Die Jüngeren warten, bis die Älteren ihre Centstücke aus dem Portemonnaie gepfriemelt haben. Für quengelnde Kinder gibt es Spiele. Kennt sich mal eine neue Mitarbeiterin nicht aus, wird ihr geholfen. So wollen wir das." 

Die da "wir" sagt, ist Dr. Monika Willer, seit fast 30 Jahren Redakteurin bei der "Westfalenpost". Zu dem, was man so alles findet, wenn man ihren Namen googelt, gehört zum Beispiel, dass sie vor gut vier Jahren auf der Website des Erzbistums Paderborn nach ihrer Meinung zum diözesanen "Zukunftsbild" befragt wurde. Und auch wenn mir das, was sie dazu zu sagen hatte, (nicht allzu überraschend) ein wenig zu sehr von einem dienstleistungsorientierten Kirchenverständnis geprägt zu sein scheint und sie bei den Stichworten "Zölibat" und "Diakoninnen" entschlossen mit dem Mainstream schwimmt, finde ich ihre Kernaussage, die Kirche müss "vor Ort präsent bleiben" – "Wer Evangelisierung will, darf sich nicht aus der Fläche zurückziehen"; "Wenn Kirche es nicht schafft, existentielle kirchliche Aufgaben zu übernehmen, also die Basisseelsorge aufgibt, dann scheitert sie" –, durchaus nicht verkehrt. Und Ähnliches kann man auch über ihre Beobachtungen zum Gebaren mancher Kunden in ihrer sonst so harmonischen Lieblingsbäckerei sagen. 

Leute wie der "Kunde vor [ihr]" gefährden diese Harmonie nämlich: Er kommandiert die Verkäuferin herum, "blafft" und "blökt" und beschuldigt schließlich die Verkäuferin – die angesichts dieses Verhaltens bald "den Tränen so nahe" ist, "dass ihre Backen nass werden" – fälschlicherweise, ihm für eine Kornstange zu viel berechnet zu haben. – Bis hierher kann ich mit dem Text recht gut mitgehen; ich finde zwar den Tonfall der Autorin etwas unangenehm, aber doch nicht so unangenehm wie den des geschilderten Bäckereikunden. Ich teile auch die Einschätzung, dass ein solches aggressiv-forderndes, maßlos egoistisches Verhalten neuerdings verstärkt um sich greift – und zwar nicht nur beim Bäcker. Allein damit, was ich an Rücksichtslosigkeit und Feindseligkeit erlebe, wenn ich mit dem Kinderwagen in öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs bin, könnte ich wahrscheinlich eine wöchentliche Kolumne bestreiten. Auch bei solchen Begegnungen lässt sich beobachten, dass die Leute, die sich am ruppigsten aufführen, oft auch die sind, die sich am entschiedensten im Recht wähnen; die überzeugt zu sein scheinen, sie müssten auf niemanden Rücksicht nehmen,  aber alle anderen müssten Rücksicht auf sie nehmen. "Solche Leute", so meint Monika Willer –Leute also, die "[n]ur schreien, fordern, ohne Gegenleistung Extras beanspruchen und dafür nicht einmal 'Bitte' oder 'Danke' sagen" –, scheinen "neuerdings wie Pilze aus dem Boden" zu schießen. "Wo kommen die eigentlich alle her? Gab es die früher schon und sind uns nur nicht aufgefallen? Das sind Fragen, über die sich das Nachdenken lohnt" – ja, gewiss, da kann und will ich ihr nicht widersprechen. 

Die Frage ist halt immer, was bei diesem Nachdenken 'rauskommt. Denn wenngleich der Reihentitel "Kultiviert" vermuten lässt, es handle sich um eine Benimm-Kolumne, kann die Verfasserin es nicht lassen, ihre These, "Typen wie dieser" seien "ein Grund dafür, warum das Land den Bach runtergeht", ins Politische zu wenden – und da wird's dann bizarr. Da wird der nörgelnde Bäckereikunde nämlich unversehens zum Sinnbild jener "Schreihälse, die der Regierung und besonders den Grünen die Schuld an der komplizierten Weltlage geben, laut, fordernd, aggressiv und, ehrlich gesagt, nicht klug". – Ist das eine stimmige Analogie? Sicherlich hat es einen gewissen Reiz, sich in der Rolle der jungen, unerfahrenen Bäckereifachverkäuferin, die "weder Abläufe noch Preise" kennt", beispielsweise Annalena Baerbock vorzustellen. Aber ist das eine sinnvolle Art, Politik zu betrachten – wo es ja nun doch um mehr geht als um Kuchenreste oder um ein paar Cent mehr oder weniger für eine Kornstange? "Ja meine Güte, die Grünen sind nun mal jung und unerfahren und die Weltlage ist so kompliziert, natürlich machen die mal Fehler; da muss man mal ein Auge zudrücken, denn wenn man zu viel meckert, will den Job am Ende niemand mehr machen"? 

Um es in aller Deutlichkeit zu sagen: Wir haben in Deutschland nicht das Problem, dass die Bevölkerung der Regierung zu kritisch gegenüberstünde. Wir haben vielmehr das Problem, dass die Deutschen, statistisch nachweisbar, von jeher dazu neigen, der Regierung nicht kritisch genug gegenüberzustehen. Die herrschenden Verhältnisse zu hinterfragen, ist dem Deutschen prinzipiell zuwider und suspekt, und sind die Verhältnisse schlecht, gibt er daran lieber den Kritikern der Regierung die Schuld als der Regierung selbst. Frau Willer ist dafür selbst das beste Beispiel: Früher war sie Pro-Merkel, heute nimmt sie die Grünen in Schutz. 

Ich schätze, es wird Zeit, die "Hufeisentheorie" bezüglich des politischen Spektrums durch die "Brezeltheorie" zu ersetzen. Auch wenn ich selbst nicht genau weiß, wie die lauten sollte.

Letzteres wirkt umso überraschender, wenn man bedenkt, dass es doch eigentlich ausgesprochen konservative Werte sind, die Frau Willer so demonstrativ hochhält: Bitte und Danke sagen, sich in die Reihe stellen und warten bis man dran ist, keine übertriebenen Ansprüche stellen. Wenn sie sich über die "Gestalten" aufregt, "die demonstrieren, weil sie denken, der Staat schuldet ihnen ein gutes Leben", dann mag man der Meinung sein, sie habe da nicht ganz Unrecht; aber ist diese von Anspruchshaltung gegenüber dem Staat nicht gerade ein charakteristisches Erbe der Baby-Boomer-Generation – der die Autorin, nebenbei bemerkt, ja wohl selbst angehört –, und haben nicht gerade die Grünen als Partei ihre Wurzeln in ebenjenen politisch-sozialen Bewegungen der 1960er- und 70er-Jahre, die vom Staat das vermeintliche Recht auf ein gutes Leben einforderten? 

Aber über solche Fragen reflektiert die Verfasserin offenkundig gar nicht, denn ihr geht es – jedenfalls ihrer eigenen Wahrnehmung zufolge – nicht um politisch-ideologische Inhalte, sondern um Fragen von Anstand und Sitte: Die Regierung verdient Respekt, weil sie die Regierung ist; man soll ihr dankbar sein und sie nicht mit Forderungen behelligen. Wie man somit aus spießbürgerlich-konservativem Untertanengeist dazu getrieben werden kann, eine Regierung zu unterstützen, die konservativen Werten dezidiert feindlich gesonnen ist, erscheint ebenso bizarr wie illustrativ. 

Zur Abrundung des Gesamteindrucks sei erwähnt, dass dieselbe Monika Willer in einer Kolumne vom November 2021, während der soundsovielten Welle der Corona-Pandemie, die "Wut der Geimpften" heraufbeschwor. Wut auf wen? Auf die Ungeimpften natürlich, auf den "Esoteriker Jupp Kaputtnik" und auf "Willi Wichtig" aus Sachsen mit seiner "Diktatur-Nostalgie". Weil die schuld seien an den "tiefroten Coronainzidenzen", und weil sie nicht einsehen wollen oder können, "dass das Geld von der Arbeit kommt und von sonst nichts". Äh – aha. Der letztgenannte Punkt kommt etwas überraschend, aber aus Frau Willers Sicht passt das alles zweifellos bestens zusammen. Die Leute, die sich der Corona-Impfung verweigert haben, sind ja bestimmt auch dieselben Leute, die auch harmlose unerfahrene Bäckereifachverkäuferinnen anschnauzen. Man sieht hier, wie souverän die Westfalenpost-Redakteurin das "Wir gegen die"-Spiel beherrscht: Auf der einen Seite "wir", die sauberen, anständigen und selbstverständlich geimpften Bäckereikunden, auf der anderen Seite der pöbelnde Pöbel. Schön, wenn man so ein unerschütterlich fest gefügtes Weltbild hat. Dass es nur einer ganz leichten Drehung an der Gesinnungsschraube bedürfte, um in exakt demselben Tonfall beispielsweise gegen Migranten, Arbeits- oder Obdachlose zu hetzen, kommt ihr so natürlich nicht in den Sinn. 


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2 Kommentare:

  1. "Sicherlich hat es einen gewissen Reiz, sich in der Rolle der jungen, unerfahrenen Bäckereifachverkäuferin, die "weder Abläufe noch Preise" kennt", beispielsweise Annalena Baerbock vorzustellen." - mit Abstand die untergriffigste, aber dennoch unaufgeregt und elegant untergebrachte Formulierung, über die ich je hier im Blog gestolpert bin. Ich musste wirklich sehr lachen, vielen Dank. Auch die Beobachtung, dass es dem Durchschnittsdeutschen an mentalem Abstand zur Regierung mangelt, erfreut mein Herz - als Nichtdeutsche schütteln wir darüber immer wieder entsetzt unsere Häupter, aber viele Deutsche scheinen das gar nicht so problematisch zu finden.

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  2. Um einmal wie üblich philosophisch zu werden: Ich würde mich ja nun nicht unbedingt als ideologischen Liberalen, auch nicht Wirtschaftsliberalen bezeichnen, aber:

    >>Wenn sie sich über die "Gestalten" aufregt, "die demonstrieren, weil sie denken, der Staat schuldet ihnen ein gutes Leben"

    nun, die, die sie meint, demonstrierten nicht, weil sie vom Staat wollten, er solle ihnen die Mittel für ein gutes Leben *verschaffen*, sondern sie demonstrierten, weil sie vom Staat wollten, er solle damit *aufhören, sie ihnen wegzunehmen*.

    Daß man den Unterschied, scheint's, gar nicht *erkennt*, ist dann wohl schon Sozialismus im fortgeschrittenen Stadium.

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