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Montag, 23. Juni 2025

Der seltsame Fall der eingekerkerten Nonne, Teil 24

Wohlan, Leser: Allmählich nähern wir uns dem Ende des 1244 Druckseiten starken, 1869/70 in Fortsetzungen erschienenen Romans "Barbara Ubryk oder die Geheimnisse des Karmeliter-Klosters in Krakau" von Dr. A. Rode. Man mag finden – und ich selbst bin ganz entschieden dieser Auffassung –, dass der Quervergleich mit thematisch verwandten Passagen aus dem Œuvre des unbestrittenen Meisters des zeitgeschichtlichen Sensationsromans, Sir John Retcliffe alias Hermann Goedsche, die die Mängel von Dr. Rodes Roman nur umso deutlicher hervortreten lässt, aber wissen, wie die Geschichte ausgeht, will man ja doch. Also dann: 

Das LXXII. Kapitel, überschrieben "Auch eine christliche Liebe", beginnt mit einem dem Naturforscher Carl von Linné (1707-1778) zugeschriebenen Zitat: "Alles, was auf der Welt ist, hat Berechtigung, auf derselben zu existiren", habe dieser "in der Einleitung zu seiner Abhandlung über giftige Reptilien" geschrieben (S. 1164) – wozu der Erzähler anmerkt: "Doch die Welt [...] ist bestrebt, sich von dem ihr Schädlichen zu emancipiren" (ebd.). In diesem Sinne habe sie "längst ihr Verdammungsurtheil über das Klosterwesen gesprochen" (ebd.); dass "jene Mauern [...], hinter welchen der Geist getödtet und der Leib gemästet wird", gleichwohl immer noch existieren, wird darauf zurückgeführt, dass es "so schwer" sei, "eingewurzelte Uebel abzuschütteln, selbst wenn die bessere Einsicht geweckt und die Ueberzeugung ihrer Verwerflichkeit allgemein geworden ist" (ebd.). 

Nach dieser Einleitung schildert das Kapitel, wie Barbara alias Jovita im Krakauer Karmel ankommt; die dortige Priorin, die "nicht sehr erfreut über ihr Erscheinen" ist, lässt auf den Rat ihres Beichtvaters Hyginus "die Expriorin von Warschau herbeirufen", um Jovitas Identität zu beglaubigen. Als die Schwester Zitta die Krakauer Priorin "vor der Verunreinigung des Klosters durch die Anwesenheit dieser Besessenen" warnt, bekräftigt diese ihre schon früher geäußerte Überzeugung, "daß es keine Besessenen gäbe und sie in ihrem Hause die Verbreitung derartigen Geredes nicht dulden werde" (S. 1165). Hingegen erwägt sie, Jovita "wegen Bruch der Gelübde einsperren" zu lassen; Pater Hyginus jedoch rät zu "Gnade" und empfiehlt der Priorin, "es mit der Pön dritten Grades genügen" zu lassen (S. 1166). Um was für eine zweifelhafte Gnade es sich dabei handelt, erläutert der Erzähler wie folgt: 

"Im dritten Grade wird man während zwölf Tagen täglich dreimal, und zwar jedesmal nach dem Ave Maria, gegeißelt, bekömmt nur Wasser und Brod, geht nicht zur Communion und bleibt im Carcer. [...] Bedenkt man [...], daß bei jeder Geißelung 36 Hiebe [...] aufgetragen, und zwar mit aller Kraft auf die entblößten Rücken und Lenden aufgetragen werder, so ist die Züchtigung gewiß eine sehr exemplarische. Wird sie nun gar während des Tages mehrmals wiederholt, und kann sich der so unsinnig kasteite Körper nur mit Wasser und Brod erhalten, so ist klar, daß eine Pön namentlich des dritten Grades zur vollendeten Hinrichtung wird" (S. 1167). –

Erinnern wir uns an dieser Stelle daran, dass auch Pater Alfons, als er wegen Ketzerei im Klostergefängnis saß, dreißig Tage lang "[j]eden Mittag [...] ein Stück schwarzes Brod, einen Krug Wasser und dazu die kleine Disciplin zu 36 Geißelhieben" erhielt, worüber es lediglich hieß, dass es "ihm nicht absonderlich schmeckte" (S. 1104). Sehr im Gegensatz zu dieser eher augenzwinkernden Schilderung wird die Folterung Jovitas alias Barbaras geradezu wollüstig ausgemalt, wobei auch der Hinweis auf ihre "Körpervorzüge [...], deren sie trotz der grausamen Behandlung in dem früheren Kloster noch zahlreiche besaß", ihre "Alabasterhaut", die "indeß durch viele Narben entstellt" ist, nicht fehlen darf (S. 1166). Gleich darauf gerät der Verfasser ins Moralisieren: 

"Wo in aller Welt verlangt Gott eine so unsinnige Selbstmarter? Und aus Liebe zu Gott sich halbtodt prügeln – ist das kein Wahnsinn? Kann man wirklich seine Liebe zu Gott nicht anders bezeugen? Ja, und gerade die Frauen zeigen hierin eine besondere Wollust! Es ist zwar bekannt, daß der Blutdurst und die Unbarmherzigkeit der Weiber in der großen französischen Revolution bei weitem diejenige der Männer überstiegen, allein eine so permanente Grausamkeit wie die der klösterlichen Pönen läßt sich nicht durch die Erhitzung der Geister entschuldigen" (S. 1167). 

Es folgen, wie schon in früheren Kapiteln, anekdotische Ausführungen zu Geißelungen und anderen asketischen Praktiken, garniert mit angeblichen Zitaten von Teresa von Àvila, Ignatius von Loyola und anderen Heiligen, sowie allgemeine Betrachtungen über die Verhältnisse in Klöstern. So heißt es z.B.: 

"In Italien, wo die Nonnen aus der Welt, die sie nie zu lieben aufhören, in ihr Kloster jene bestigen Leidenschaften mitbringen, die eben nur unter diesem heißen Himmel entstehen können, ist es häufig genug zum Verbrechen gekommen. Vor einigen Jahren kam es in einem römischen Kloster unter den Nonnen zu Messerstichen; zwei oder drei fanden dabei den Tod und trotz aller Umsicht, den schrecklichen Skandal zu vertuschen, erfuhr es doch die ganze Stadt. Die Veranlassung gab ein sehr geliebter Pater" (S. 1171). 
Es wird eingeräumt, in Deutschland kämen "die Nonnen niemals zu solchen Ausschreitungen. Messer und Dolche gehören nicht zu den deutschen Sitten" (ebd.). 

Obwohl sich der Verfasser in seinen Schilderungen erneut auf "Untersuchungsakten" zum Fall Barbara Ubryk beruft – aus denen etwa mitgeteilt wird, der "Beichtvater P. Hyginus Masofsky" habe angegeben, Barbara sei nach ihrer Ankunft im Krakauer Karmel "sehr verschlossen, hartnäckig, ja böswillig geworden" (S. 1171) –, enthält das Kapitel wenig, was über genretypische Klischees hinausginge. Daher möchte ich, wie schon angekündigt, an dieser Stelle erneut einen Seitenblick auf einen anderen, sich ebenfalls als authentisch ausgebenden Text zum Fall Barbara Ubryk werfen, nämlich das in den USA erschienene antikatholische Pamphlet "The Convent Horror: The Story of Barbara Ubryk. Twenty-One Years in a Convent Dungeon Eight Feet Long, Six Feet Wide" , das vorgeblich Barbara Ubryks eigenen Bericht über die Vorgänge enthält. Bei früherer Gelegenheit habe ich bereits die Darstellung von Barbaras Lebensgeschichte bis zu ihrem Eintritt ins Kloster in den Blick genommen und dabei festgestellt, "dass es sich hier um eine völlig andere Geschichte handelt als in Dr. Rodes Roman"; es ist wohl nicht sehr überraschend, dass dieser Befund auch für das Folgende gilt. 

Die Barbara des "Convent Horror", die, wie schon einmal festgestellt, rund zehn Jahre jünger ist als in Dr. Rodes Roman und wohl auch in Wirklichkeit, tritt ins Noviziat der Karmeliterinnen in Krakau ein, ohne zuvor in einem anderen Kloster gewesen zu sein, und legt im Jahr 1846 ihre Gelübde ab. Die Superiorin des Klosters heißt Josepha und der Beichtvater Fr. Calenski – bei Dr. Rode heißen sie Mutter Tharsilla und P. Hyginus Masofsky –, und Barbara gibt an, beide, besonders aber die Oberin, hätten sie in der Zeit ihres Noviziats ausgesprochen freundlich behandelt; die Oberin Josepha habe ihr sogar zahlreiche kleine Wohltaten erwiesen, die "eigentlich gegen die Regeln des Klosters" verstießen. In den ersten Monaten, nachdem sie ihre Gelübde abgelegt hatte, bemerkte Barbara diesem Bericht zufolge eine allmähliche Veränderung des Verhaltens der Oberin und des Beichtvaters ihr gegenüber: Mutter Josepha behandelt sie zunehmend "kühl, distanziert, ja sogar überheblich", wohingegen der Beichtvater Fr. Calenski ihr gegenüber eine auffallend größere Vertraulichkeit an den Tag legt als gegenüber den anderen Nonnen. Zunächst legt er ihr nahe, entgegen der Weisungen der Oberin nicht mehr zu fasten und sich zu geißeln, damit ihre Schönheit keinen Schaden nimmt; dann küsst er sie; schließlich setzt er sie unter Drogen und versucht sie zu vergewaltigen, aber sie leistet unerwartet starken Widerstand, woraufhin der Beichtvater von ihr ablässt, aber ankündigt, sie für ihr Verhalten zu bestrafen. Als die durch die lautstarke Auseinandersetzung alarmierte Mutter Josepha die Szenerie betritt, erkennt Barbara zu ihrem Schrecken, dass die Oberin sie nicht etwa vor dem lüsternen Priester beschützen will, sondern vielmehr mit diesem unter einer Decke steckt. 

Wie man unschwer feststellen kann, weist diese Geschichte keine besonders großen Übereinstimmungen damit auf, was man in Dr. Rodes Roman über die Nachstellungen gelesen hat, denen Barbara im Warschauer Kloster durch Pater Gratian ausgesetzt war; im Krakauer Kloster widerfährt ihr erst recht nichts Derartiges. Über den dortigen Pater Hyginus heißt es zwar, dass er "die neue Nonne mit sonderbaren Blicken und blinzelnden Augen" betrachtete (S. 1172); "ein hämischer Zug spielte um seine Lippen", und weiter wird er wie folgt beschrieben: "Er war wohlgenährt und sein Gesicht von Fett strotzend, seine Haut glänzte" (ebd.); auch sagt er zu Barbara alias Jovita "Gehorche und ergib Dich mir. Je gehorsamer, willfähriger und ergebener Dein Benehmen gegen mich ist, desto reichere Gnaden wird Dir der Herr verleihen, Du sollst es nicht zu bereuen haben" (ebd.); es ist jedoch keine Rede von irgendwelchen sexuellen Annäherungsversuchen. Stattdessen wirft der Beichtvater "einen Haß auf Jovita", wenn auch nur deshalb, "weil ihr Herz bereits einem Andern gehörte und ihm also nicht mehr offen stand" (S. 1173). 

Ehe wir uns ansehen, wie es der Ich-Erzählerin des "Convent Horror" weiter ergeht, wenden wir uns aber lieber mal dem LXXIV. Kapitel von Dr. Rodes "Barbara Ubryk"-Roman zu, das die Überschrift "Geschichte des Mannes ohne Kopf" trägt. Dieses knüpft unmittelbar an das vorletzte Kapitel "Der Traum einer Nonne" an und beginnt mit einem Gespräch zwischen Woicech Zarski und seinem Novizenmeister, der Woicech erklärt, alle Orden seien "nach demselben Systeme errichtet": 

"Der Unterschied der Orden besteht eigentlich nur in den Farben der Kutten, im Uebrigen handelt es sich nur darum, ob sie weit oder nicht weit hinter dem Jesuitenorden, dem Ideale alles Mönchsthums, zurückgeblieben sind. Je mehr ein Orden der Gesellschaft Jesu gleicht, desto vollkommner ist er, und um so unvollkommner und unheiliger, je weniger er sich die bewundernswerthen Eigenschaften dieser Tugendhelden ä, die Grundsäße und Praktiken dieser frommen Väter angeeignet hat" (S. 1176f.) 
Damit nicht genug, führt der Novizenmeister weiter aus, "[d]erselbe Papst Pius IX., der ehedem ein Freimaurer war" (!), sei "jetzt ein geheimer Jesuit und nur insoferne Papst, als er lauter Jesuiten heilig zu sprechen hat": "Wer darum die Jesuiten angreift, greift die Kirche selbst an" (S. 1177). Als Woicech einwendet, die Jesuiten seien "doch Heuchler, Betrüger, Wucherer, Diebe, Erbschleicher, Mörder, Königsmörder, Revolutionäre" (ebd.), widerspricht der Novizenmeister dieser Einschätzung nicht, erklärt aber: "Um Gotteswillen, sprich diese Worte nicht mehr! Es könnte uns Jemand hören. [...] Man darf es nicht sagen!" (ebd.). Kurz darauf lässt der Erzähler allerdings durchblicken, dass der Novizenmeister mit diesem Gespräch lediglich den Zweck verfolgt, "dem angehenden Carmelitermönche den Haß gegen die Jesuiten einzuimpfen": 

"Alle Orden hassen ja vereint die Jesuiten, als ihre Unterdrücker, und einem Novizen muß dieser Geist bei Zeiten beigebracht werden . Dann wird ein Schritt weiter gegangen und der nächste Orden bezeichnet, dem man feind ist. Die Dominikaner sind die entschiedensten Feinde der Jesuiten und gleichzeitig der Benediktiner. Die Benediktiner können keine Carmeliter ausstehen. Die Carmeliter feinden die Franziskaner an. Die Franziskaner kennen keine ärgeren Todfeinde als die Capuziner. Die Capuziner scheuen die Augustiner wie eine Todsünde. Die Augustiner sind den barmherzigen Brüdern feind. Die barmherzigen Brüder sind gegen Jedermann, nur nicht gegen die Redemptoristen barmherzig. Und so geht diese Skala des Hasses fort ins Unendliche" (S. 1177f.). 

Wenig später erfährt Woicech, dass seine geliebte Jovita nun im Kloster der Karmeliterinnen in Krakau ist, und mit Hilfe einer Wäscherin, "welche die Wäsche gleichzeitig für das Frauenkloster und Mannskloster der Carmeliter besorgte" (S. 1179), gelingt es ihm, einen heimlichen Briefwechsel mit ihr anzuknüpfen. Dem Leser werden indes nur die Briefe Jovitas an Woicech mitgeteilt – was, wie wir noch sehen werden, offenbar dem Bemühen geschuldet ist, den Eindruck von Authentizität zu erwecken –, und diese Briefe enthalten vor allem Schilderungen davon, wie schlecht es Jovita im Kloster ergeht und wie sie auf bloßen Verdacht hin schwere Bestrafungen wegen Verletzungen ihrer Gelübde auferlegt bekommt. Schließlich wird ihre Lage so unerträglich, dass sie Selbstmordgedanken äußert. – Nebenbei erfährt man, dass Woicech seine Briefe als "Mann ohne Kopf" unterzeichnet (S. 1180); das ist eine etwas enttäuschende Erklärung für die Kapitelüberschrift, zumal nicht näher darauf eingegangen wird, warum er gerade dieses Pseudonym gewählt hat. Als Barbara einmal dabei ertappt wird, wie sie einen der so unterzeichneten Briefe liest, zieht dies ein strenges Verhör nach sich; zwar ist es Barbara inzwischen gelungen, die Beweisstücke durch ihre einzige Vertraute im Kloster, eine Schwester namens Agnes, vernichten zu lassen (was wohl auch den Umstand erklären soll, dass nur Barbaras, nicht aber Woicechs Briefe im Roman abgedruckt sind), und sie behauptet, was sie gelesen habe, seien von ihr selbst verfasste Verse gewesen und der "Mann ohne Kopf" sei "nur ein Fantasiegebilde" (S. 1192); die Priorin glaubt ihr jedoch nicht und lässt sie zur Strafe drei Tage lang knebeln und in einen Sack stecken. Nach der Aufhebung dieser Strafe wird Barbara im Kloster mehr denn je wie "eine Verdammte" (S. 1193) behandelt; sie erhält "keine reine Wäsche mehr" (ebd.), schließlich berichtet sie gar: "Man hat mir jetzt auch mein Gebetbuch weggenommen und verboten, zu Gott zu beten" (S. 1196). 

So ausführlich die Misshandlungen geschildert werden, denen Barbara alias Jovita im Kloster ausgesetzt ist, so knapp gerät dem Autor die Darstellung von Woicechs Versuch, die Geliebte aus dem Kloster zu befreien und mit ihr zu fliehen: Der Strick, den Woicech ihr über die Mauer wirft, reißt; mit einem zweiten Strick gelingt es ihr dann doch, über die Mauer zu klettern, aber schon folgt das nächste Missgeschick: "Die Kutsche, welche Woicech bestellt hatte, war nicht da" (S. 1197). Zudem hat "Barbara durch den Fall sich an den Beinen so verletzt [...], daß sie kaum stehen, noch weniger aber gehen" kann (ebd.); Woicech bringt sie daher "in das nahegelegene Gasthaus zum Schusterwirth, ließ sich dort sogleich ein Zimmer geben und von dem Wirthe Stillschweigen angeloben" (ebd.) . Dieser teilt jedoch "seiner Frau das Geheimniß mit" (ebd.), und damit nimmt das Unheil seinen Lauf: 

"Die Wirthin war ein sehr bigottes Weib, eilte in aller Frühe des andern Morgens hinüber zu den Klosterfrauen und verrieth ihnen den Aufenthalt der entflohenen Carmeliterin. Die Priorin ließ schleunigst den Beichtvater holen, der an der Mauer noch Stricke und Leiter fand, welche Woicech wegen des Zustandes seiner Barbara nicht mehr hatte wegbringen können. Mit einer Laienschwester begab sich der Beichtvater Pater Hyginus hinüber zu dem Schusterwirthe. Als er in das Zimmer eintrat , saß Woicech in tiefer Trauer am Bette Barbara's, sprang aber wie vom Donner gerührt beim Anblicke des Pfaffen in die Höhe" (ebd.). 

Es folgt eine dramatische Szene, in der Barbara "den Wirth und die Wirthin händeringend" anfleht, "sie nicht den Carmeliterinnen auszuliefern" – sie "wolle mit keinem Fuße mehr in das Kloster und lieber sterben"; "Woicech schlug zuletzt auf den Beichtvater los, um ihn zur Thüre hinauszuwerfen; allein Halman" – so heißt der Wirt –, "ein kräftiger Mann, packte ihn von rückwärts und drängte ihn mit vieler Mühe aus dem Zimmer hinaus, die Thüre absperrend" (S. 1198). Das alles wird jedoch in wenigen Zeilen abgehandelt und liest sich wie seine eigene Inhaltsangabe; abschließend heißt es: "Woicech sah sich und Barbara jetzt verloren. In voller Verzweiflung stürzte er fort. Er war rasend geworden" (ebd.). 

Alexander Zick, Buchillustration zu "Die zweite Frau" von E. Marlitt, ca. 1890

Alles Weitere, was der geneigte Leser noch über Woicech Zarski erfährt, ist in ähnlich kursorischem Stil auf einer knappen Seite zusammengedrängt: Zunächst wird die Information nachgereicht, wie "Woicech [...] seine Flucht aus dem Kloster bewerkstelligt" hatte, nämlich indem er "in seinem Bette einen Strohmann hinterlassen [hatte], der im Klostergarten aufgestellt gewesen war. Bei seinem Freunde Ograbiszerski, der von Allem wußte, vertauschte er die Kutte mit weltlichen Kleidern, ließ sich seine Papiere und etwas Geld geben und beabschiedete [sic!] sich. Den verhängnißvollen Ausgang des Fluchtversuches kennen wir" (ebd.). Anschließend verschwindet Woicech spurlos: "Die Polizei, welche nach ihm forschte, glaubte, er habe sich in die Weichsel gestürzt" (ebd.), aber "[e]in Jahr später" taucht er "nach mancherlei Schicksalen" wieder auf, und zwar in London. "In die äußerste Noth gerathen , verkaufte er an einen Büchertrödler Jedediah Pumpkins seine Manuscripte" (ebd.) – womit sich ein Bogen zum allerersten Kapitel dieses Riesenromans schließt: "Erinnere sich nun der geneigte Leser an die beiden Manuscripte" (ebd.) – nun ja, das tue ich in der Tat, und wie sich der geneigte Leser meines Blogs vielleicht erinnern wird, fand ich die Manuskriptfiktion, mit der der Autor seinem Roman den Anschein von Authentizität zu verleihen versucht, von Anfang an nicht sonderlich überzeugend. Bevor wir uns dies aber genauer anschauen, kommen wir erst mal zu Woicech Zarskis traurigem Ende: 

"Pater Alfons hatte seinen Herrn, den Lord Ainsworth, in London verlassen und unter seiner alten Firma Jedediah Pumpkins wieder sein früheres Trödlergeschäft etablirt. Woicech Zarski erzählte ihm sein und Barbara's ganzes Schicksal und blieb als Verkäufer bei ihm im Dienst. Allein nicht lange. Der Gram brachte ihn gänzlich um seine Vernunft, und die fixe Idee, daß er ein Mann ohne Kopf sei und Barbara ermordet habe, war ihm nicht mehr auszureden. Master Pumpkins, sein Chef, brachte ihn daher in die große Irrenanstalt bei London. Dort starb der Unglückliche im Jahre 1863" (ebd.). 

Ich bin geneigt zu sagen, auch hier drängt sich der Eindruck auf, aus diesen wenigen Zeilen hätten problemlos mehrere Kapitel werden können, wenn der Verfasser nicht so viel Platz für antiklerikale Exkurse und redundante Episoden verbraucht hätte – und ein bisschen mehr Erzähltalent besäße. Aber wie dem auch sei: Entscheidend ist, dass Woicech Zarski bereits tot ist, ehe die echte Barbara Ubryk aus ihrer Kerkerzelle im Krakauer Karmel befreit wird. – Zur Manuskriptfiktion heißt es weiter: 

"Pumpkins ergänzte die von ihm hinterlassenen Manuscripte, einen Theil verkaufte er, einen Theil behielt er. Diese beiden Manuscripte kauften wir in Paris und London auf, übersetzten und verarbeiteten sie in einem Roman: 'Der Mann ohne Kopf.'" (ebd.) 

Was sollen wir nun hierzu sagen (Röm 6,1)? – Sicherlich wäre "Der Mann ohne Kopf" ein durchaus erfolgversprechender und keineswegs untypischer Titel für einen Kolportageroman gewesen, aber es erscheint nicht recht einsichtig, inwieweit dies ein passender Gesamttitel für den bis hierher vorliegenden Handlungsverlauf des Romans sein sollte. Einmal ganz abgesehen davon, dass, wie bereits angemerkt, schon die Begründung für die Kapitelüberschrift "Die Geschichte des Mannes ohne Kopf" dürftig und wenig überzeugend wirkt, müsste man, wenn eine frühere Fassung des Romans den Titel "Der Mann ohne Kopf" getragen hätte, ja eigentlich annehmen, dass Woicech Zarski darin die eigentliche Hauptfigur gewesen wäre; und so richtig ergäbe dieser Titel auch nur dann Sinn, wenn Woicechs nur beiläufig angesprochene "fixe Idee, daß er ein Mann ohne Kopf sei und Barbara ermordet habe", der Dreh- und Angelpunkt der ganzen Handlung wäre. Tatsächlich wirkt aber die ganze Liebesgeschichte zwischen Woicech und Jovita alias Barbara so knapp, fragmentarisch und offen gestanden schlampig erzählt, dass man weit eher geneigt ist, sie für eine nachträgliche Zutat zu halten als für den Nukleus der ganzen Romanhandlung. – Aber schauen wir mal weiter: 

"Wir dachten damals nicht, daß er in so enger Beziehung zu der Nonne Barbara Ubryk stehe und wurden von der plötzlichen Kunde der Ausfindung derselben auf das Höchste überrascht" (S. 1198f.). 

Das ist nun mindestens irreführend formuliert, denn "damals", also zu der Zeit, als der Autor an seinem Roman "Der Mann ohne Kopf" gearbeitet haben will, wusste die Weltöffentlichkeit schließlich noch gar nichts über den Fall Barbara Ubryk. Umgekehrt hat der Verfasser aber angegeben, dass zu den Quellen, auf denen der Roman angeblich basiert, Papiere gehören, die teils "von einem gewissen Jaromir von Ubryk" und teils "von einem Kasimir von Ubryk herrühren" (S. 1050) und die Woicech im Besitz des Grafen Satorin vorgefunden und kopiert hat. Dieser Quellenfiktion zufolge hätte der Autor also wissen müssen, dass die unglückliche Nonne "Jovita von den Engeln", um die es in seinem Roman geht, mit bürgerlichem Namen Barbara Ubryk hieß. Was er hier also offenbar eigentlich sagen will, ist, dass die Auffindung Barbara Ubryks im Krakauer Karmel und der dadurch ausgelöste öffentliche Skandal seinem Romanmanuskript unerwartete Aktualität und Brisanz verschaffte; was er hier hingegen unfreiwillig ausplaudert, ist, dass sein Roman ursprünglich überhaupt nichts mit dem realen Fall der Barbara Ubryk zu tun hatte und erst nachträglich "entsprechend umgearbeitet" wurde, "zumal sein Erscheinen bisher unterblieben war" (S. 1199). 

Wir müssen an dieser Stelle noch einmal auf die von vornherein unglaubwürdige Behauptung des Verlags zurückkommen, der Roman habe schon zum Zeitpunkt des Erscheinens der ersten Lieferung – nur zwei Wochen, nachdem "die Nachricht von dem schauerlichen Schicksale der Nonne Barbara Ubryk, welche einundzwanzig Jahre in furchtbarem, einsamen Kerker geschmachtet hatte, an die Oeffentlichkeit gelangte und die Runde durch alle Blätter machte" (S. 3) – vollständig vorgelegen. Dass ein mit den gängigen Erfolgsrezepten des Kolportageromans vertrauter Autor einen bereits fertigen, aber noch unveröffentlichten Roman aus dem Genre "Klostergräuel" auf die Schnelle so umarbeitete, dass er sich als Enthüllungsroman zu einem aktuell Schlagzeilen machenden realen Fall verkaufen ließ, erscheint zwar durchaus denkbar, aber dieser Roman sieht offen gestanden nicht danach aus – dafür ist er zu verworren, zu sprunghaft erzählt und enthält zu viele Handlungselemente, die nicht recht zusammenpassen wollen. – Schon in den ersten Folgen meiner Artikelserie zum seltsamen Fall der eingekerkerten Nonne habe ich mich bemüht, unterschiedliche "Schichten" des Romans auseinanderzupräparieren; darauf wird noch detaillierter zurückzukommen sein, aber für unstrittig halte ich es, dass der anfangs dominierende Handlungsstrang um die Machenschaften des Jesuiten Rebinsky, der seinem Orden das reiche Erbe des Grafen Zolkiewicz sichern soll, sich nebenbei aber in Liebesaffären mit der Frau und der Tochter dieses Grafen verstrickt, weder mit dem realen Fall der Barbara Ubryk noch mit dem späteren Handlungsstrang um deren fiktionalisiertes alter ego "Jovita von den Engeln" in irgendeinem Zusammenhang steht. Auch der im IX. Kapitel eingeführte Kindsvertauschungs-Handlungsstrang scheint ursprünglich vollkommen unabhängig von der sonstigen Romanhandlung gewesen zu sein; dagegen spricht auch nicht, dass hier erstmals der Name Ubryk vorkommt, denn dieser Name kann unschwer nachträglich eingefügt worden sein. Komplizierter wird das Auseinandersortieren der Handlungsstränge erst ab dem Zeitpunkt, als Rebinsky die junge Comtesse Elka in ein Kloster sperren lässt und diese daraus entführt wird; das werden wir uns noch einmal genauer ansehen müssen, hier und jetzt würde es indes den Rahmen sprengen. Festhalten möchte ich indes die These, dass auch der Handlungsstrang um "Jovita von den Engeln", der das letzte Drittel des Romans dominiert, in seinen Grundzügen ebenfalls unabhängig vom realen Fall der Barbara Ubryk und von den anderen Handlungssträngen des Romans entstanden ist. 

Interessant ist in diesem Zusammenhang übrigens auch die Behauptung des Verfassers, zu den dem Romanmanuskript zuletzt hinzugefügten Passagen gehöre auch "die Correspondenz zwischen Woicech und Barbara, welche wir eben gebracht haben" (S. 1199); diese habe sich nämlich erst angefunden, nachdem der Romanautor sich "nochmals schriftlich an den ehemaligen Carmelitermönch und nunmehrigen Büchertrödler Pumpkins nach London" gewandt habe (ebd.). Nur am Rande sei bemerkt, dass dieses Detail die Behauptung, der ganze Roman habe ursprünglich "Der Mann ohne Kopf" heißen sollen, noch unglaubwürdiger erscheinen lässt. – Schließlich hebt der Verfasser noch den "ganz wahrheitsgetreuen" und "das Klosterwesen erschöpfenden" Charakter seines Werkes sowie "das ungeheure Aufsehen" hervor, "welches sein Erscheinen in der alten und neuen Welt hervorgerufen hat" (ebd.). Letzteres, also die Behauptung, der Roman habe auch in Amerika Aufsehen erregt, mag wie eine reine Werbebehauptung aussehen, aber es ist durchaus nicht auszuschließen, dass darin ein Körnchen Wahrheit steckt: Es gab damals in den USA eine Reihe von Verlagen, die deutsche Kolportageromane nachdruckten, teils in Übersetzungen, teils aber auch in Originalsprache für ein deutschsprachiges Immigrantenpublikum. – 

"Die beiden Manuscripte sind nun abgeschlossen", heißt es am Ende des Kapitels. "Die weitere Geschichte der unglücklichen Nonne entnehmen wir den Untersuchungs-Acten" (ebd.) – na, da darf man ja gespannt sein. Zwar hat der Autor sich auch früher schon gelegentlich auf diese Untersuchungsakten berufen, aber nehmen wir die Zäsur, die der Autor an dieser Stelle setzt, getrost zum Anlass, erst mal einen Punkt zu machen und uns in der nächsten Folge dieser Artikelserie wieder Retcliffes "Biarritz" zuzuwenden. 




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