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Mittwoch, 4. Juni 2025

Der seltsame Fall der eingekerkerten Nonne, Teil 22

Die Saga der unglücklichen Nonne von Krakau, Barbara Ubryk, erfreut sich weiterhin einer recht erfreulichen Resonanz bei meinen Lesern, die ich daher nicht unnötig lange auf die Fortsetzung warten lassen will. – Nachdem wir in der vorigen Episode dieser Artikelserie miterlebt haben, wie Jovita alias Barbara, die ihren Peinigern entflohen war, überraschend wieder mit ihrem Geliebten Woicech zusammentrifft, dann aber – ohne dass man zunächst Genaueres über den Hergang erführe – erneut verschwindet, und außerdem erfahren haben, dass Pater Alfons aus seiner Arrestzelle im Kloster befreit wurde und unter seinem bürgerlichen Namen Jedediah Pumpkins in die Dienste eines englischen Lords getreten ist, lässt das LXX. Kapitel des Fortsetzungsromans – dessen Überschrift im Inhaltsverzeichnis als "Die Generalbeichte im Straßengraben" angegeben wird, wohingegen man auf S. 1121 die Kapitelüberschrift "Das Bekenntniß im Straßengraben" liest – begründete Hoffnung aufkommen, dass die Romanhandlung auf die Zielgerade einbiegt; das wird auch Zeit, denn wenn man voraussetzt, dass eine Lieferung des Romans drei Druckbogen (d.h. 48 Seiten) umfasste, befinden wir uns bereits in der 24. Lieferung, und zwanzig waren ursprünglich nur angekündigt worden

Das Kapitel beginnt jedenfalls durchaus vielversprechend: 

"Es war fünf Uhr Morgens . 

Ein Carmelitermönch schritt auf einer Strecke der Hochstraße, welche von Wieliczka nach Krakau führt, dahin. Er versah das Amt des Pfarrers in dem Dorfe, das er vor einer Viertelstunde verlassen hatte [...]; er begab sich jetzt auf ein mehr zerstreutes Dörfchen, eine Tochter seiner Pfarrei, um in der dortigen Filialkirche das Meßopfer darzubringen. Aus der Tasche seiner Kutte schaute, fast neugierig, der Kopf einer Flasche; es war der Wein, den er mit sich zur Messe trug, und der sich auf sein Wort in das wahrhaftige Blut Jesu Christi, wie es vom Kreuzesbalken floß, umwandeln sollte" (S. 1121). 

Gleich darauf folgt erst einmal wieder ein Exkurs, der darauf abzielt, die katholische Geistlichkeit in ein unvorteilhaftes Licht zu rücken: 

"Die katholischen Geistlichen sind sehr mit der täglichen Ableierung des römischen Brevieres geplagt; sie nimmt mindestens zwei volle Stunden hinweg, und dann darf der Betende Routine haben. Man sieht daher diese Männer überall die freie Zeit zur Lösung jener beschwerlichen Aufgabe benützen; im Postomnibus, im Eisenbahnwaggon, in der Kajüte beten sie ihr Brevier" (S. 1122). 

Dazu fällt mit übrigens ein Witz ein: Ein Dominikaner und ein Jesuit sitzen am Bahnsteig und beten, während sie auf den Zug warten, ihr Brevier. Der Jesuit raucht dabei. Erstaunt fragt ihn der Dominikaner: "Sag mal, darfst du das? Ich hab meinen Oberen gefragt, ob ich beim Beten rauchen darf, und er hat gesagt: Auf keinen Fall." Antwortet der Jesuit: "Das hättest du schlauer anstellen sollen. Ich habe meinen Oberen gefragt, ob ich beim Rauchen beten darf, und er hat gesagt: Selbstverständlich!" 

Aber mal zurück zum "Barbara Ubryk"-Roman: Auch der zu Beginn des LXX. Kapitels vorgestellte "Carmelitermönch" ist gerade dabei, im Gehen sein Brevier zu beten, d.h. er "hielt mit beiden Händen das Diurnale vor sich und murmelte, wie es die Vorschrift der Kirche gebietet, halblaut die Psalmen und Episteln herab", als er plötzlich eine im Straßengraben liegende und offenbar schlafende Person bemerkt: 

"Es war eine Frau, deren Kopf fest mit einem Shawl umwickelt und also nicht sichtbar war. Der Mönch stieg hinab in den Graben und rüttelte lebhaft die Person. Es kam Bewegung in die Arme und den Shawl, kurz darauf enthüllte sich ein bleiches Gesicht, das in diesem Augenblicke etwas schläfrig aussah, trokdem aber die unverkennbaren Züge des Elendes, der Schwermuth, vielleicht einer Krankheit trug" (S. 1122). 

Tatsächlich handelt es sich bei dieser Frau um die unglückliche Protagonistin des Romans, die, wie der Leser auf S. 1123 erfährt, "ihrem Woicech in einem Anfalle entwichen war". – "Wie war sie hieher gekommen? [...] Man weiß es nicht, man hat es auch niemals von ihr erfahren können. Weder Woicech noch sonst Jemand konnte darüber Aufschluß geben. Wo sie während dieser Zeit gewesen, was sie gethan, das blieb ein Geheimniß, und sie selbst hat es nie enthüllt. Ihre Geschichte beginnt daher wieder in dem Augenblicke, wo sie der Carmeliter P. Urban Wergifoße auf der Wieliczkaer Straße fand" (S. 1123) – wie praktisch für den Autor, könnte man sagen. Vor dem Karmeliterpater, der Sie im Straßengraben findet, erschrickt sie, da sie annimmt, er sei ihr "nachgeschickt" worden, um sie zu "verfolgen": "Sie wollen mich wieder in das Kloster zurückbringen. Ach, ich bitte Sie, tödten Sie mich, überliefern Sie mich aber nicht dem Kloster!" (S. 1122). Ironischerweise wird der bisher ganz arglose Pater erst dadurch darauf aufmerksam gemacht, dass er "ein verirrtes Schaf" vor sich hat, und drängt Barbara dazu, ihm "eine Generalbeichte ab[zu]legen, jetzt, hier auf dieser Stelle": "Nur dann kann ich Sie beschützen und weiteres Unglück verhindern" (S. 1123). Der Verfasser kommentiert: 

"Die Generalbeichte ist das Bekenntniß aller Sünden, die man von der Erbsünde angefangen in Gedanken, Worten und Werken begangen hat. Man legt in ihr das ganze Leben bis in die unbedeutendsten Einzelnheiten dar, so daß der Priester den Menschen, seine Neigungen und Anlagen auf das Genaueste kennen lernt. In den Klöstern dauert eine solche Generalbeichte drei und mehr Tage; sie hat schon viele Nonnen zur Verzweiflung, viele zum Wahnsinn getrieben. Sie ist eine moralische Folter des stärksten Grades. Hier wollte sich der Mönch ihrer nur zu dem Zwecke bedienen, die räthselhafte Frauensperson auszuforschen" (ebd). 

In diesem Zusammenhang wird ausdrücklich hervorgehoben, dass Barbara sich "damals in einem geistigen Zustande" befand, "der keineswegs auf Irrsinn schließen ließ. Außer der Furcht, von Mönchen verfolgt und wieder in das Kloster zurückgeschafft zu werden, wollte Pater Wergifoße, wie er selbst ausdrücklich angab, – nichts von Geisteszerrüttungen an ihr wahrgenommen haben" (S. 1124). Man beachte, dass der Autor hier gezielt den Eindruck zu erwecken sucht, seine Schilderung stütze sich auf eine amtlich dokumentierte Aussage des Paters; noch deutlicher wird dieser Anspruch auf Authentizität einige Zeilen weiter unten, wo es heißt, die "Beichte im Straßengraben" werde "in den über diese unglückliche Nonne aufgenommenen Akten ausdrücklich als des Zeitpunktes erwähnt, wo man ihrer wieder habhaft wurde" (ebd.). Von derartigen Berufungen auf amtliche Dokumente zum Fall Barbara Ubryk werden wir auf den verbleibenden Seiten des Romans noch mehr zu sehen bekommen. 

Jedenfalls nutzt der Autor die "Generalbeichte im Straßengraben" dazu, Barbara ausführlich über darüber zu sprechen, was sie einst veranlasst hat, ins Kloster zu gehen, und wie es ihr im Kloster ergangen ist. Da könnte man nun natürlich denken, das habe man im Wesentlichen alles schon in früheren Kapiteln gelesen; tatsächlich hat man allerdings über weite Strecken den Eindruck, hier werde eine völlig andere Geschichte erzählt – was einmal mehr den Verdacht erhärtet, der Autor habe, um in möglichst kurzer Zeit einen umfangreichen Roman vorlegen zu können, mehrere ursprünglich voneinander unabhängige Erzählungen notdürftig zusammengekittet. Schauen wir uns das mal anhand einiger Einzelheiten an. 

Zunächst: In ihrer Generalbeichte gibt Barbara an, dass sie "strenge erzogen und zu täglichem Kirchenbesuche angehalten wurde" (S. 1125); das las sich aber in Kapitel LI, "Zwei Orden im Kampf um ein Erbe", ganz anders: Da hieß es, Barbara habe "in Dresden gelernt, die Kirche lieb zu gewinnen" (S. 707); ihre Mutter steht – nicht zuletzt infolge eigener Erfahrungen – den religiösen Neigungen ihrer Tochter sogar ausgesprochen skeptisch gegenüber. – Weiter berichtet Barbara, ihr Beichtvater Pater Gratian habe ihr, um sie zum Eintritt ins Kloster zu bewegen, detaillierte Einblicke in die schwierige wirtschaftliche Lage des betreffenden Klosters gewährt und angemerkt, dem Kloster "wäre geholfen" (S. 1125), wenn "mehrere Damen in das Kloster eintreten" würden, "manche mit Mitgift (er stockte hier), einige vielleicht mit ansehnlicher Mitgift" (ebd.); auch davon ist in dem früheren Kapitel keine Rede, ebensowenig davon, dass Gratian ihr "das Priorat" in Aussicht gestellt hätte (S. 1127). Es folgen allerlei Klagen über den Alltag im Kloster, über den "üblen Geruch" (ebd.), den Hang der Nonnen zu "Heucheleien" und "Schmeichelei" (S. 1128), die "Tyrannei" der Priorin (ebd.); von den Nachstellungen ihres Beichtvaters, den Intrigen ihrer Mitschwestern gegen sie, kurz von so ziemlich allem, was den Inhalt der Kapitel LIV bis LX ausgemacht hat, ist hier dagegen keine Rede. Als einen dicken Anschlussfehler darf man es wohl bezeichnen, dass Barbara dem Pater erzählt "Meine Mutter und eine meiner Schwestern starben schnell hintereinander einen plötzlichen Tod" (S. 1134); von einem Tod ihrer Schwester Therese ist nämlich zuvor keine Rede gesehen. Im Kontext – da Barbara nämlich hinzufügt "meine andere Schwester entfloh mit ihrem Manne von Krakau nach Brüssel" (ebd.) – entsteht der Eindruck, der Autor habe die Notwendigkeit gesehen, sämtliche Familienangehörigen Barbaras sozusagen "aus dem Weg zu räumen", da sie andernfalls in weiteren Verlauf der Handlung noch eine Rolle hätten spielen müssen. Auch was Barbara darüber berichtet, wie es dazu kam, dass sie vom Warschauer ins Krakauer Kloster verlegt werden sollte, lässt sich nur mit Mühe damit in Einklang bringen, was man zuvor über diesen Vorgang erfahren hat. 

Insgesamt kann man sagen, dass Barbaras Klagen über das Leben im Kloster weniger ihr persönliches Schicksal betreffen als vielmehr allgemeine Zustände. Ausführlich kritisiert sie die Auswüchse der Marienverehrung im Kloster; in diesem Zusammenhang wird in zwei Fußnoten auf ein Traktat namens "Annales de la Saint-Enfance" (Paris 1849) verwiesen, in dem behauptet werde, Maria habe "in aller Ewigkeit in Gott" existiert und sei schon von Adam und Eva verehrt worden (S. 1130f.). Auch dass der Karmeliterorden seine Gründung auf den Propheten Elija zurückführe, wird erneut thematisiert; in diesem Zusammenhang heißt es, die Jungfrau Maria sei "selbst Ordensschwester", ja Subperiorin [sic] der Karmeliterinnen" gewesen (S. 1132). Damit nicht genug: Auch "Jesus war selbst Karmeliter, denn der Erlöser erschien der heiligen Karmeliterin Katharina von Cardonem im Karmelitergewand" (ebd.); wozu der Verfasser in einer Fußnote anmerkt: 

"Es versteht sich von selbst, daß Jesus ein Kapuziner, Franziskaner, Dominikaner u.s.w. gewesen ist. Alle Orden haben schlagende Beweise dafür aufgebracht, daß Jesus ihr Pater war. Heilige Mönche haben das Alles durch Offenbarungen erfahren, was alle Einwürfe zurückschlägt; denn wer nicht an übernatürliche Offenbarungen glaubt, der ist verflucht, laut Can. 6, Schema de fide, des gegenwärtig zu Rom tagenden Konzils" (S. 1133). 

Der letzte Satz stellt natürlich ein selbst für diesen Autor arg plumpes Strohmannargument dar, denn an die Existenz übernatürlicher Offenbarungen zu glauben, ist offenkundig nicht dasselbe, wie jede angebliche übernatürliche Offenbarung für wahr zu halten; aber die Erwähnung des "gegenwärtig zu Rom tagenden" I. Vatikanischen Konzils (das am 8. Dezember 1869 eröffnet worden war und im Juli 1870 zunächst unterbrochen, am 20. Oktober dann auf unbestimmte Zeit vertagt wurde) ist für die zeitliche Einordnung dennoch interessant. 

Auf die Aussage des Paters Urban, "[d]as Christenthum" sei "der Baum jenes Gleichnisses, der wuchs und seine Aeste ausbreitete, und in dessen Schatten die Vögel kamen und nisteten", erwidert Barbara: "An den Stamm dieses Baumes haben sich aber ungeheure Auswüchse angesetzt, welche den ganzen Baum schädigen"; dazu zählt sie "vor Allem das Kloster, das cönobitische Leben, das unermeßliche Heer der Mönche in jeder Form und Farbe der Kleidung" (S. 1133). Insbesondere die "beschaulichen Orden" beurteilt sie als "im höchsten Grade egoistisch und daher unmoralisch" (S. 1134); günstiger urteilt sie über die tätigen Orden, denn: "Nach dem Berufe des Mutterwerdens entspricht nichts so sehr unsern Neigungen als der Beruf einer barmherzigen Schwester; er liegt in unserer Natur, in unsern Fähigkeiten" (ebd.). 

Auch zur Beichtpraxis in den Klöstern hat Barbara allerlei anzumerken; dies gipfelt in der Aussage, das "Beichtgeheimniß" werde zwar "in den unbedeutendsten Dingen nicht verletzt. Aber es gibt ein Verfahren in den Klöstern, welches das ganze Beichtgeheimniß illusorisch macht.... Der Beichtvater ersucht die Nonnen um die Erlaubniß, das was ihm geeignet schiene, aus der Beichte der Priorin mitzutheilen.... Die Nonne darf diese Erlaubniß nicht versagen.... es ist ein moralischer Druck, dem arme schwache Mädchen nicht zu widerstehen vermögen, ein Mißbrauch ihrer Schwäche, und folglich ein Verbrechen vor Gott... bei diesem nichtswürdigen Verfahren gibt es keine Sicherheit mehr für die Gewissen...." (S. 1136). Pater Urban erwidert darauf trocken "Sie sagen mir da auch nichts Neues" (ebd.) – was dem Leser gegenüber offenbar die Wahrheit dieser Behauptung beglaubigen soll. 

Als Barbara bekennt, sie habe "im St. Theresienkloster den äußersten und unüberwindlichsten Abscheu und Widerwillen gegen alle Klöster und gegen die Religion selbst bekommen" (S. 1139), wird Pater Urban hellhörig: "Sie sagten vorhin, auch gegen die Religion hätten Sie einen Widerwillen. Ist es wirklich so?" Barbara bekräftigt: "Ich finde auch da Vieles erkünstelt und falsch; ich kann darum Vieles nicht mehr glauben"; worauf der Pater nachhakt: "Was glauben Sie nicht mehr? Nennen Sie nur einen Punkt" (S. 1141). Der eine Punkt, den Barbara daraufhin nennt, lautet: "Ich glaube, daß es keine Hölle und keine ewigen Strafen gibt" (ebd.). Es folgt eine rund fünf Seiten einnehmende Diskussion über diesen Punkt, in deren Verlauf der Verfasser Barbara eine Reihe von Argumenten in den Mund legt, von denen man wohl annehmen muss, dass er selbst sie für überzeugend gehalten hat, die aber tatsächlich ausgesprochen läppisch sind – man kennt das bereits aus der Disputation über Besessenheit zwischen Pater Gratian und Pater Alfons. In diesem Zusammenhang fehlt auch die Behauptung nicht, die Kirche verbiete "das Lesen des Evangeliums, damit die Menschen nie in den wahren Geist Christi und des Evangeliums eindringen, damit sie nicht den Widerspruch zwischen der Kirche Cristi [sic] und der Kirche der Päpste finden, damit sie in religiösen Dingen ewig dumm bleiben und um so leichter die Mährchen glauben, die man am Nil [?] und Tiber ausgeheckt hat" (S. 1133); und schließlich attestiert Barbara der Kirche, dass sie "jede und alle Vernunft haßt und nur blinden Glauben verlangt" (S. 1146). Sie prognostiziert jedoch: 

"Flüche und Concilien halten aber den Verstand nicht mehr auf, die Menschheit verlangt ein vernünftiges Christenthum, das den geistigen Fortschritten entspricht. Die intelligente Welt wie die Mittelklassen, deren Bildung zunimmt, werden sich langsam, in der Stille, im Schooße der Kirche von jener finstern Sekte der Ultramontanen absetzen, und die Kirche wird gezwungen werden, ihr Werk nach einem neuen Plane, den neuen Bedürfnissen der Menschen entsprechend, zu beginnen...." (ebd.) 

Das ist, wohlgemerkt, 1870 geschrieben, aber die Forderung nach einem "vernünftige[n] Christenthum, das den geistigen Fortschritten entspricht" und sich an den "neuen Bedürfnissen der Menschen" orientiert, wirkt bemerkenswert "heutig" – ich sag nur "Synodaler Weg"... Daran kann man übrigens auch sehen, dass die Ideen der vermeintlichen Progressiven in der Kirche tatsächlich schon einen ziemlich langen Bart haben, aber mir ist bewusst, dass die Anhänger dieser Ideen darauf erwidern dürften, eben daran, dass diese Forderungen seit eineinhalb Jahrhunderten aufgestellt werden und immer noch kein Gehör gefunden haben, sehe man, wie rückständig die Kirche sei. 

Pater Urban wird's jedenfalls schließlich zu bunt, und er erinnert Barbara daran, dass es der Zweck dieses Gespräches sei, ihre Sünden zu bekennen. Besonders eifrig befragt er sie "zum sechsten Gebote", also "über alle möglichen Sünden, die er Fleischessünden nannte" (S. 1147); und da wird es nun richtig verwirrend: Auf die Frage des Paters "Und Sie lieben ihn noch, nicht wahr?" antwortet Barbara: "Ja, Hochwürden, mehr wie mich selbst. Ich bete gerne für ihn, und wenn ich an den Tisch des Herrn trete, thut es mir wohl, sein Herz zugleich mit dem meinigen auf den Altar zu legen" (ebd.). Von wem ist hier die Rede? Von Woicech? Wann hätte Barbara mit dem denn fleischlich gesündigt? Gäbe es in dieser Hinsicht nicht weit mehr über ihr Verhältnis mit Pater Gratian zu beichten? Dass Pater Urban ausruft "Ich kenne solche Liebschaften ), solche Liebschaften mit Geistlichen. Diese Liebe ist unverlöschlich, sie dringt in das Blut ein, wissen Sie, in das Blut, in das Blut! [...] Und gar diese Ehe im Kloster!" (S. 1148), scheint sich denn auch eher auf Gratian zu beziehen; aber würde Barbara über den sagen, dass sie ihn immer noch liebt? – Damit nicht genug, argwöhnt Pater Urban, dass Barbaras "Liebe [...] nicht ohne Frucht" geblieben sei (ebd.): "Gestehen Sie, Sie wurden Mutter.... was geschah mit dem Kinde ...." (S. 1149). Barbara reagiert zwar empört auf diese Suggestivfragen, streitet jedoch nicht ausdrücklich ab, ein Kind geboren zu haben; es scheint, als wolle der Autor diese Frage absichtsvoll offen lassen. 

Alexander Zick, Buchillustration zu "Die zweite Frau" von E. Marlitt, ca. 1890

Am Ende des Kapitels übergibt Pater Urban Barbara einem zufällig des Weges kommenden ungarischen Panduren, den er beauftragt, sie "nach Krakau in das Carmeliterinnenkloster zur Heimsuchung Mariä" zu bringen (S. 1150). 

Im LXXI. Kapitel, "Der Traum einer Nonne", gibt es für den Leser ein Wiedersehen mit Woicech Zarski, aber auch hier hat es zunächst den Anschein dass das geschilderte Geschehen überhaupt nicht zu demjenigen der vorangegangenen Kapitel passt – und auch hier zeigt sich, dass dieser Eindruck teilweise, aber eben nur teilweise durch eine verwirrende Erzählreihenfolge bedingt ist. Zu Beginn des Kapitels erfährt man nämlich, in ein "Beschuhtenkloster" in Krakau – d.h. ein Kloster des weniger strengen, weniger asketischen Zweiges des Karmeliterordens ("Barfüßer-Carmeliter kommen überhaupt seltener vor als Barfüßerinnen, weil die Männer nicht so sehr zum Außerordentlichen, Excentrischen hinneigen wie die Frauen", S. 1151) sei "vor einigen Wochen ein Novize eingetreten", und zwar "[n]iemand anderer als Woicech Zarski" (ebd.). Bitte was? Nach allem Schlimmen, das seiner Geliebten im Kloster widerfahren ist, sollte er nun ernsthaft nichts Besseres zu tun haben, als selbst in ein Kloster einzutreten? – Allerdings: "Den jungen Mann hatte die Verzweiflung in das Kloster getrieben" (ebd.). Was man über die Vorgeschichte dieser verzweifelten Entscheidung erfährt, wirkt zunächst noch verwirrender: 

"Die zahllosen Anfeindungen, welche ihm in Warschau durch den mächtigen, eifersüchtigen Pater Gratian wegen der Liebe zu Jovita widerfuhren, hatten ihm endlich jene Stadt verleidet. Als Kandidat der römischen Theologie konnte er außerdem gegenüber den verfolgungssüchtigen und fanatischen Poppen [sic!] der russischen Landeskirche nicht wohl auf eine gesicherte Zukunft in russisch Polen hoffen. [...] Endlich erleichterte ihm der vernünftige Gedanke, daß seine Liebe zu Jovita unter den gegebenen Verhältnissen immer eine platonische bleiben müsse, den Abschied von Warschau. Bei Nacht und Nebel war er von seiner Vaterstadt fortgereist, ohne eine andere bestimmte Absicht, als daß er österreichisch Polen aursuchen müsse. In der Ueberzeugung, daß Jovita und ihm eine plötzliche Trennung am wenigsten schwer fiele, hatte er seiner Geliebten kein Abschiedswort zugerufen, noch auch derselben seine nächste Zukunft bekannt gemacht . Er kannte sie ja selbst nicht" (S. 1151f.). 

Äh. Wie passt das damit zusammen, was wir über das Zusammentreffen Woicechs und Jovitas auf dem Gut des Grafen Satorin, ihre gemeinsame Reise nach Krakau und Jovitas alias Barbaras Verschwinden infolge eines erneuten Wahnsinnsanfalls gelesen haben? – Offenkundig gar nicht, aber das liegt vorrangig daran, dass diese Schilderung chronologisch an Kapitel LIX, "Von Kreuzerhöhung bis Ostern", anknüpft. Da war Woicech gerade aus seiner Stellung als Kirchendiener entlassen worden und Jovita war noch nicht geisteskrank. Aber da muss man erst mal drauf kommen! So richtig ersichtlich wird dies erst, als man liest, wie Woicech nach der Überquerung der russisch-österreichischen Grenze auf dem "Edelgut des Grafen Satorin [...] um Obdach" bittet (S. 1152): 

"Der Graf benützte seine Anwesenheit, über die näheren Verhältnisse Warschaus unter dem gegenwärtigen Regime Erkundigungen einzuziehen. Hiebei lernte er die Persönlichkeit Woicechs, seine Ansichten und Kenntnisse kennen und bot ihm eine Stelle als Sekretär an, womit die Oberaufsicht über seine gesammten liegenden Güter verbunden war. Woicech, ohne bestimmte Pläne für die nächste Zukunft, nahm die Stellung dankbar an" (ebd.). 

Damit wissen wir nun also, wie Woicech die Stellung als Sekretär des Grafen bekommen hat; weiter heißt es, durch das unverhoffte Wiedersehen mit Jovita, das wir in Kapitel LXV miterlebt haben, sei "die halb entschlummerte Liebe stärker denn je in seinem Herzen" aufgelodert (ebd.): "Da er Jovita wieder sah, liebte er sie bis zum Wahnsinne" (ebd.). Auch darüber, wie es den Liebenden erging, nachdem sie zusammen vom Gut des Grafen Satorin aufgebrochen waren, erfährt man nun Genaueres: 

"Er begleitete sie nach Krakau, um hier einen passenden Platz für sie zu suchen [...]. Schon trug er sich mit dem Plane, ebenfalls nach Krakau überzusiedeln und seine Stellung aufzugeben; die Zukunft erschien ihm an der Seite seiner Geliebten lieblich, wenn auch durch ihren geistigen Zustand etwas mit Bitterkeit vermischt.

Allein seine plötzlich erwachten Hoffnungen sollten sich eben so plöslich als Täuschungen erweisen. Woicech hielt auf dem Dorfe Cudova an, zu übernachten; dieser Aufenthalt war nicht nöthig, da er Krakau recht gut an demselben Tage noch erreichen konnte. Vielleicht wollte er nach so langer Trennung das Alleinsein mit der Geliebten genießen. Jovita verschwand aber während der Nacht. Sie mußte sich eingebildet haben, sie sei wieder auf dem Samborgehöfte. Bei Irren kommen derartige lapsus memoriae, Verwechslungen der Erinnerung, beständig vor. Woicech vermißte sie bereits während der Nacht. Sie blieb verschwunden, er sah sie nicht wieder" (S. 1152f.).

Okay. Und dann? Vor lauter Kummer um Jovita – der noch dadurch verstärkt wird, dass er "sich die Schuld an ihrem Unglücke" gibt (S. 1153) –, bittet er den Grafen Satorin um seine Entlassung, um sich ganz der Suche nach Jovita zu widmen; als diese jedoch erfolglos bleibt, gibt er schließlich auf. "Sein Herz war gebrochen. Das Leben war ihm jetzt eine Qual. Er trat also in das Carmeliterkloster ein" (S. 1154) – logisch, oder? Man erfährt noch, dass Woicech vor seinem Eintritt ins Kloster "jene Papiere [...], welche er aus den Schriften des Grafen Alexander Satorin copirt hatte", "bei einem Studienfreunde, [...] dem Herrn von Ograbiszerski, [...] hinterlegt" hat (ebd.); merken wir uns das mal, es könnte noch wichtig werden. 

Der größte Teil des Kapitels ist indes einer rein episodischen Binnenhandlung gewidmet, die mit der Geschichte der Barbara Ubryk im Grunde nichts zu tun hat: Woicech erhält von seinem Novizenmeister, der ihn auf seine Aufgabe "als künftiger Beichtvater in Nonnenklöstern" vorbereiten will, "einige Papiere", die ihm "die richtigen Anschauungen von dem Geiste dieser Ordensfrauen" vermitteln sollen (S. 1155). Es handelt sich dabei um Briefe, die eine "zur Armen- und Krankenpflege" abgeordnete Nonne "an eine, wie sie glaubte ihr befreundete Schwester nach Krakau" geschrieben hat, "welche aber die Papiere sogleich der Priorin auslieferte" (ebd.). In den Briefen wird geschildert, wie die Verfasserin zunächst aufrichtig hofft, mit ihrer Tätigkeit in der Armen- und Krankenpflege Gutes tun zu können, aber bald feststellen muss, dass die Regeln ihres Ordens, die "Launen der Oberen" (S. 1162) sowie vor allem die Intrigen ihrer Mitschwestern ihr dabei permanent Steine in den Weg legen, bis sie schließlich ins Kloster zurückberufen wird. Eine interessante Nebenfigur in dieser Binnenhandlung ist ein liberaler Pfarrer, über den die Briefschreiberin urteilt "Er scheint den wirklichen christlichen Geist obenan zu stellen und die Frömmelei und die Mystik zu verschmähen" (S. 1157) und der seinerseits äußert: "Alle Pfarrer sind im 19. Jahrhundert geboren, die Superioren der Schwesterhäuser aber wollen aus ihren geistlichen Töchtern Ebenbilder der Nonnen des 13. Jahrhunderts machen. Sie, liebe Schwestern, sind hoffentlich vom 19. Jahrhundert" (S. 1157f.). Ich muss gestehen, ich fand es spontan irgendwie witzig, hier jemanden über das 19. Jahrhundert so sprechen zu sehen, wie heutzutage manche Leute über das 21. reden; auch wenn es aus Sicht der Zeitgenossen sicherlich plausibel war, das 19. Jahrhundert als den Inbegriff des menschlichen Fortschritts zu betrachten, zeigt es eben auch – siehe oben –, dass das "progressive Mindset" von heute sich im Prinzip nicht von dem von vor 150 Jahren unterscheidet, und da denke ich mir dann doch: Isn't it ironic

Im LXXII. Kapitel, "Auch eine christliche Liebe", wird die Protagonistin – nun wieder unter ihrem Ordensnamen "Jovita von den Engeln" – schließlich, wie es ja eigentlich schon länger geplant gewesen war, in das "Carmeliterinnenkloster" in Krakau "eingeliefert" (S. 1165). Dass somit endlich der Punkt der Handlung erreicht ist, an dem Barbara in jenem Kloster ankommt, aus dem sie gut zwei Jahrzehnte später befreit wurd, lädt zu einem erneuten Abgleich mit einem anderen zeitgenössischen, sich als authentisch ausgebenden Bericht über den Fall Ubryk ein; es könnte allerdings sein, dass wir dazu erst in der übernächsten Folge kommen, denn in der nächsten möchte ich mich erst einmal wieder Sir John Retcliffes "Biarritz" zuwenden und der Frage nachgehen, wie es mit den aus dem Kloster der Verdammten entlassenen exemplarischen Todsünderinnen weitergeht. 


1 Kommentar:

  1. Das mit dem "modernen 19. Jahrhundert" ist ja wirklich witzig.

    Gibt es eigentlich zeitgenössische Zeugnisse zu dem Roman, sowas wie Rezensionen? Den Lesern müssen doch damals auch schon diese ganzen Logikfehler in der Geschichte aufgefallen sein, hat das mal einer irgendwo bemängelt?

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