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Mittwoch, 25. September 2024

Die Selbsternannten und die Selbstbestimmten – Notizen zum Marsch für das Leben 2024

Wer meinen Blog schon länger verfolgt, der wird wissen, dass mir der "Marsch für das Leben", der in Berlin alljährlich in der zweiten Septemberhälfte stattfindet, ein wichtiges Anliegen ist – auch wenn ich seit meiner ersten Teilnahme im Jahr 2012 nicht jedes Jahr dabei war. Wer das noch nicht wusste, dem empfehle ich zur Orientierung die einleitenden Absätze meines Artikels zum letztjährigen Marsch. – 

Die Gedanken, die meine Liebste und ich uns letztes Jahr über die Frage gemacht haben, ob es ratsam wäre, unsere Kinder zum Marsch mitzunehmen – sprich: ihnen zuzumuten, mit der zu erwartenden Aggressivität der Gegenproteste konfrontiert zu werden –, und die letztlich dazu geführt hatten, dass ich allein hingegangen war, waren natürlich auch dieses Jahr noch und wieder aktuell. Ich hatte im Vorfeld überlegt, ob unsere Große vielleicht "so weit wäre", zum Marsch mitzukommen: In dem Buch, das wir im Urlaub gelesen hatten ("Mein Pampaleben – Ohne dich ist alles Dorf" von Silke Antelmann; dazu will ich auch noch eine Rezension schreiben) ist es das Lieblingshobby der besten Freundin, auf Demos zu gehen (z.B. gegen den Klimawandel); wir haben im Zuge des Vorlesens also darüber geredet, was Demonstrationen sind und wieso man bei sowas mitmacht, das Thema ist also sozusagen gut eingeführt, und irgendwie fände ich es cooler, wenn die erste Demonstration meiner Tochter der "Marsch für das Leben" wäre und nicht irgendwas, wo sie von der Schule aus mitgeschleppt wird. Meine Liebste wandte ein, man müsse auch bedenken, dass unsere Tochter, wenn sie in der Schule von "Marsch für das Leben" erzählt, möglicherweise in Diskussionen verstrickt würde, denen sie argumentativ noch nicht gewachsen ist. Und da musste ich ihr Recht geben: Das ist ein Punkt, den man in Betracht ziehen muss. Vielleicht ist es also doch besser, noch ein paar Jahre damit zu warten. Zudem erreichte uns dann noch der Vorschlag meiner Schwiegermütter, zu einem Drachenfest auf dem Tempelhofer Feld zu gehen, und damit war der Fall dann ziemlich klar: Ich würde meine Familie auf dem Marsch für das Leben vertreten, während Frau und Kinder sich beim Drachenfest mit den Omas trafen. 

Immerhin, zum Engelamt – einem Requiem für die Ungeborenen, das schon seit einigen Jahren immer am Tag des Marschs in der Kirche St. Marien am Behnitz in der Spandauer Altstadt gefeiert wird – gingen wir diesmal alle zusammen. Die Messe wurde von den Pfarrern der beiden Spandauer Pfarreien zelebriert, "mein" Pfarrer – also derjenige der Pfarrei Heilige Familie – hielt die Predigt. Darin beklagte er, dass das himmelschreiende Unrecht hunderttausender Abtreibungen in der Öffentlichkeit vielfach gar nicht mehr wahrgenommen und diskutiert werde, weil die Öffentlichkeit mit ganz anderen Problemen beschäftigt sei: "Junge Menschen gegen mit einer solchen Empathie und einer solchen Überzeugung auf die Straße, um diese Welt zu retten und das Klima; nur fragt man sich: für wen denn, wenn die gar keine Kinder mehr haben?" Insbesondere tadelte er, dass selbst die Haltung der katholischen Kirche – in der es "eigentlich bis vor einigen Jahren noch selbstverständlich" gewesen sei, "ohne Wenn und Aber" gegen die Abtreibung einzutreten, "ohne Diskussion, und wenn wir auch die einzigen sind, die noch für dieses Thema stehen" – an einigen Stellen "bröckelt": "Manche Bistümer, wie Trier", rieten von der Teilnahme am Marsch für das Leben ab, berichtete er – und merkte etwas sarkastisch an, manche Katholiken hätten offenbar verlernt, "tatsächlich mal an einer Stelle gegen etwas" zu sein, "wo wir doch sonst eigentlich so offen sind für alles und jeden". 

Meine Tochter teilte mir unaufgefordert mit, sie finde die Innenraumgestaltung der Kirche St. Marien am Behnitz sehr schön, und ich kann ihr da nur zustimmen. 

Nach dem Gottesdienst genehmigte ich mir mit meiner Familie noch ein zweites Frühstück in einer Bäckerei in der Spandauer Altstadt, und dann hatten wir noch ein Stück gemeinsamen Weges mit der U-Bahn, ehe ich in die S-Bahn umstieg und zum Brandenburger Tor fuhr. Dort landete ich erst einmal auf der falschen Seite, d.h. bei der Gegenkundgebung des "Bündnisses für sexuelle Selbstbestimmung". Wobei "Gegenkundgebung" natürlich relativ ist: Einer Bekannten, die ich beim Engelamt in Spandau getroffen hatte, verdanke ich die Information, dass laut der Vorberichterstattung des rbb (alias "Stimme der DDR") wir die Gegendemo waren. Will sagen: Dort wurde berichtet, das Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung demonstriere für die Abschaffung des § 218, und christliche Fundamentalisten planten eine Gegendemonstration. Wozu mir wieder einmal nur einfällt: Leute, Orwell hat "1984" als Warnung geschrieben, nicht als Gebrauchsanweisung

Jedenfalls hatte ich den Eindruck, dass bei der Kundgebung des Bündnisses für sexuelle Selbstbestimmung nicht viel los war: 

Im Vorbeigehen hörte ich von der Bühne die Aussage, das "Zeitfenster für eine Neuregelung" der Gesetzgebung in Sachen Abtreibung schließe sich "mit Ablauf dieser Legislaturperiode". Ach guck, dachte ich, die rechnen also schon gar nicht mehr damit, dass ihre ideologischen Verbündeten die nächste Wahl (oder überhaupt in absehbarer Zukunft irgendeine Wahl) gewinnen könnten. Interessant. 

Leider konnte ich nun nicht einfach durch das Brandenburger Tor hindurchspazieren, um zur Auftaktkundgebung des Marschs für das Leben zu gelangen, sondern musste auf Anweisung der Polizei einen längeren Umweg durch die Luisen- und Dorotheenstraße nehmen. Als ich dort ankam, gab's von der Bühne entspannte Live-Musik, die Kundgebung hatte noch nicht begonnen. Kurz darauf hatte ich dann auch schon die erste erfreuliche Begegnung – mit einem Facebook-Freund, den ich, wenn mich meine Erinnerung nicht trügt, zuvor noch nie "offline" getroffen hatte. Überhaupt ist der Aspekt "Leute treffen", wie ich schon voriges Jahr ausgeführt habe, beim Marsch für das Leben stets ein nicht unwichtiger Bestandteil des Gesamterlebnisses; und auch wenn die Parallelveranstaltung in Köln es in diesem wie schon im letzten Jahr bedingte, dass längst nicht so viele Freunde und Gleichgesinnte aus dem Westen Deutschlands zum Berliner Marsch anreisten wie "früher mal", war ich mit den Ergebnissen in diesem Punkt doch alles andere als unzufrieden. Nachdem ich bereits beim Engelamt in Spandau Bloggerkollegin Claudia getroffen hatte, traf ich beim Marsch u.a. P. Engelbert Recktenwald FSSP (den ich anno 2015 beim Bloggertreffen in Essen kennengelernt habe und der jetzt ebenso wie ich eine monatliche Kolumne für die Tagespost schreibt), mehrere Mönche aus dem Kloster Neuzelle, einige Bekannte aus der Gemeinde St. Joseph Siemensstadt und sogar ein paar Leute, die ich bei der Eltern-Kind-Gruppe in der Gemeinde auf dem Weg bzw. beim Väterwochenende in Zinnowitz kennengelernt hatte; zudem wurde ich von ein paar Lesern meines Blogs angesprochen, die ich zum Teil gar nicht persönlich kannte. Einer meiner Bekannten stellte mir einen jungen Geistlichen vor, der dem Neokatechumenalen Weg angehört und bis vor kurzem Kaplan in der Großpfarrei St. Franziskus Reinickendorf-Nord gewesen war; auf die aktuellen Probleme in dieser Pfarrei angesprochen, erwiderte er, Probleme habe es dort "schon immer" gegeben, ging aber nicht weiter ins Detail – es war ja auch kaum die geeignete Gelegenheit dazu. 

Aus der Gemeinde von Herz Jesu Tegel und aus der EFG The Rock Christuskirche in Haselhorst sah ich diesmal niemanden, das muss aber nicht bedeuten, dass von dort niemand da war: Auch wenn die Angaben der Veranstalter und der Polizei zur Teilnehmerzahl wie üblich weit auseinanderklaffen, werden es wohl allemal ein paar Tausend Leute gewesen sein, und da können auch bekannte Gesichter in der Masse untergehen. 


Bei dieser Gelegenheit möchte ich zu Protokoll geben, dass ich, wie schon im letzten Jahr, nicht ganz glücklich mit der Entscheidung der Veranstalter war, den Marsch zeitgleich in Berlin und Köln abzuhalten, denn dadurch bekommt man naturgemäß weniger Leute an einem Ort zusammen. Allerdings würde ich wahrscheinlich anders darüber urteilen, wenn ich aus Köln käme – oder umgekehrt, wenn der Marsch für das Leben ab nächstem Jahr komplett nach Köln verlegt würde. 

Ein weiterer Aspekt der Veranstaltung, der im vorigen Jahr eine Neuerung war und den ich seinerzeit ausgesprochen kritisch beurteilt hatte, bestand darin, dass der Demonstrationszug von zwei Lautsprecherwagen begleitet wurde, die Popmusik spielten. "War das nötig?", schrieb ich in meinem Artikel vom letzten Mal, und: "Gehörte es nicht ursprünglich mal wesentlich zum Erscheinungsbild des Marschs für das Leben, ein Schweigemarsch zu sein?" Tatsächlich habe ich, sowohl letztes als auch dieses Jahr, von einigen Bekannten gehört, dass sie das ähnlich empfanden. Allerdings muss ich sagen, mich persönlich störte die Musik diesmal weniger als letztes Jahr. Vielleicht war das ein gewisser Gewöhnungseffekt, vielleicht lag es auch daran, dass die Musik – zumindest teilweise – stimmiger ausgewählt war. Den Marsch mit "Sing Hallelujah" von Dr. Alban zu beginnen, fand ich zum Beispiel ziemlich witzig. 

Und auch "Shake It Off" von Taylor Swift – mit der markanten Textstelle "Haters gonna hate" – ergab als Statement an die Adresse der Gegendemonstranten durchaus Sinn. 

Übrigens ist dies das zweite Mal, dass ich auf meinem Blog Taylor Swift erwähne; die erste Erwähnung findet sich hier. Gerngescheh'n. – Weniger plausibel fand ich es, dass auch einige kölsche Karnevalsschlager auf der Playlist vertreten waren. Wurden im Gegenzug beim Kölner Marsch auch Frank Zander oder Knorkator gespielt? Ich frag ja nur. 

Jenseits von Geschmacksfragen scheint es mir indes einigermaßen offensichtlich, dass die Popmusik-Beschallung beim Marsch für das Leben eine programmatische Grundsatzentscheidung war – nämlich als Bestandteil einer Selbstdarstellungs-Strategie, zu der es beispielsweise auch gehörte, dass die weißen Holzkreuze, die einst das Erscheinungsbild des Marsches geprägt haben, nicht mehr mitgeführt wurden. Was dahintersteckt, ist offenbar der Wunsch, nicht als eine Veranstaltung durchgeknallter religiöser Fanatiker wahrgenommen zu werden, sondern als eine Versammlung ganz normaler Leute, und damit die Anschlussfähigkeit der auf dem Marsch vertretenen Positionen zu Themen wie Abtreibung, Pränataldiagnostik, Leihmutterschaft und assistiertem Suizid an die sogenannte "Mitte der Gesellschaft" herauszustellen. Ich würde sagen, das Anliegen ist nachvollziehbar, aber wer mich ein bisschen kennt, den wird es wohl nicht besonders wundern, dass ich dennoch nicht so recht einverstanden mit dieser Strategie bin. Sicherlich, der Marsch für das Leben ist etwas anderes als eine Fronleichnamsprozession, und es ist auch nicht verkehrt zu betonen, dass das Eintreten für das Lebensrecht der Ungeborenen nicht zwingend einer religiösen Begründung bedarf. Gleichzeitig ist es aber nun mal so, dass die Teilnahme an dieser Veranstaltung für einen großen Teil der Beteiligten mindestens unter anderem auch religiös motiviert ist; und wo kämen wir denn da hin, wenn wir meinten, diesen Umstand aus Rücksicht auf die öffentliche Wahrnehmung verstecken zu müssen? "Wer sich vor den Menschen zu mir bekennt, zu dem werde auch ich mich vor meinem Vater im Himmel bekennen. Wer mich aber vor den Menschen verleugnet, den werde auch ich vor meinem Vater im Himmel verleugnen", spricht der Herr (Mt 10,32f.); und überhaupt bin ich – als #BenOpper sowie als jemand, an dem schon gelegentlich mal ein Charismatiker vorbeigelaufen ist – der Meinung: Wenn die Pro-Life-Bewegung mehr auf politische Lobbyarbeit und die Beeinflussung der öffentlichen Meinung setzt als auf den Beistand Gottes und die Kraft des Gebets, kann sie gleich einpacken. 

Indes ließen sich einige Teilnehmer durch das insgesamt eher säkulare Erscheinungsbild des Marsches nicht davon abhalten, den Rosenkranz zu beten oder Plakate mit religiösen Motiven hochzuhalten; der Tagesspiegel registrierte "einige offenbar tiefgläubige junge Männer", die "Symbole im Stil orthodoxer Ikonen-Darstellungen" trugen und Gebete "mumelten". Gesehen habe ich diese jungen Männer auch, aber die Formulierung im Tagesspiegel macht auf mich schon sehr stark den Eindruck, "offenbar tiefgläubige junge Männer" sei da als Synonym für "Freaks" gemeint. (Über die Berichterstattung dieser ehemals seriösen Berliner Tageszeitung zum Marsch für das Leben wird weiter unten noch mehr zu sagen sein.) 

Die Versuche von Gegendemonstranten, den Marsch zu stören, waren übrigens wie schon im vorigen Jahr kaum der Rede wert, jedenfalls verglichen damit, was ich aus früheren Jahren gewohnt bin. Schon ziemlich zu Beginn des Marsches gab es den Versuch einer Sitzblockade, der aber eher kläglich ausfiel – man konnte ohne große Mühe seitlich daran vorbeigehen. Wie immer gab es kleine Grüppchen von Leuten, die dem Marsch ein Stück voranliefen, um sich an einer Straßenecke zu postieren und Parolen zu brüllen, dann wiedervein Stück vorausliefen und immer so weiter; einige von ihnen trugen aus der Corona-Zeit übrig gebliebene Atemschutzmasken, die, wie ich vermute, eher der Vermummung dienen sollten als dem Schutz vor Ansteckung, aber irgendwie passte das durchaus ins Bild. – Neu unter den vom Straßenrand skandierten Parolen schien mir der Satz "Ihr lauft mit Faschisten!" zu sein. Was ich daran so interessant finde, ist, dass es offenkundig nur dann Sinn ergibt, den Teilnehmern des Marsches diesen Vorwurf entgegenzuschleudern, wenn man davon ausgeht, dass die Adressaten des Spruches zumindest zum größeren Teil keine Faschisten sind und auch keine sein wollen. Dieses implizite Eingeständnis seitens der Gegendemonstranten fand ich dann doch recht bemerkenswert. 

Zum Abschluss des Marsches gab es, ebenso wie letztes Jahr, eine kurze ökumenische Andacht unter der Bezeichnung "Reisesegen" – gewissermaßen als Schwundstufe des ökumenischen Abschlussgottesdienstes, den es "früher mal" gab. Ich bin geneigt, diese Reduzierung des gottesdienstlichen Elements ebenfalls in die Bemühungen der Veranstalter einzuordnen, den Marsch nach außen hin nicht allzu explizit religiös aussehen zu lassen. Was sich jedoch nicht geändert hat, ist der bezeichnende Umstand, dass die Störversuche der Gegendemonstranten sich mit Vorliebe auf diesen gottesdienstlichen Abschluss konzentrieren. Ich hatte darüber vor Jahren mal eine bemerkenswerte Diskussion auf Twitter, als es bei einem Festakt zum Tag der Deutschen Einheit in Dresden zu Ausschreitungen gekommen war, die u.a. rassistische Beschimpfungen von Gottesdienstbesuchern beinhalteten, und jemand diese Vorfälle mit den Worten kommentierte: 

"Wann gab es das zuletzt, dass ein Gottesdienst mit Hass und Trillerpfeifen gestört wurde? Wann wurden zuletzt Gottesdienstbesucher beschimpft und angeschrien?" 

Wozu ich anmerkte: Wann gab es das zuletzt? Na, zum Beispiel ein paar Wochen zuvor beim Marsch für das Leben. Aber das ist offenbar nicht dasselbe. – Diesmal jedenfalls versuchten ziemlich zu Beginn der Andacht, die von einem mir nicht näher bekannten evangelischen Geistlichen und dem Berliner Weihbischof Matthias Heinrich geleitet wurde (letztes Jahr war Erzbischof Koch dabei gewesen, aber der hatte dieses Wochenende ja, wie wir wissen, Visitation in Reinickendorf-Süd), einige Aktivisten der Gegenseite die Bühne zu stürmen und ein Transparent zu entrollen, wurden aber recht umstandslos von der Polizei weggetragen. Eine Gruppe von Marschteilnehmern in meiner Nähe stimmte daraufhin spontan "Großer Gott, wir loben dich" an; das fand ich gut, da machte ich mit. (Dasselbe Lied wurde im Zuge der Andacht dann auch noch "offiziell" und mit Bandbegleitung gespielt.) – Im Tagesspiegel liest sich der Vorgang übrigens so: 

"Als jedoch um kurz nach 16 Uhr Matthias Heinrich, Weihbischof im Erzbistum Berlin und Bischofsvikar für außergerichtliche Ehesachen, bei der Abschlusskundgebung am Brandenburger Tor mit den christlichen Fundamentalisten [!] Kirchenlieder sang, stürmten rund 20 Personen die Bühne. Sie ergriffen das Mikrofon und störten das Programm mit dem Ausruf: 'My body, my choice, raise your voice!'"

Schwer zu übersehen, auf welcher Seite hier die Sympathien liegen. Für den Tagesspiegel-Artikel zeichnen drei verschiedene Verfasser verantwortlich, einer davon, Dominik Lenze, postete auf der App Formerly Known As Twitter ein Video der Störaktion und dazu den Text: "Aktivist:innen stören Abschlusskundgebung fundamentalistischer Christen in Berlin – das bringt die selbst ernannten 'Lebensschützer' in Rage". Dort kann man auch erfahren, dass Dominik Lenze freier Journalist mit den Themenschwerpunkten "Rechtsextremismus & Verschwörungsglaube" ist und u.a. auch für die "jungle world" schreibt. Da wundert man sich über gar nichts mehr. 

Variationen der Bezeichnung "selbsternannte Lebensschützer" finden sich auch im Tagesspiegel-Artikel mehrfach, was mir wieder einmal Anlass gibt, mich darüber zu wundern, dass "selbsternannt" so ein beliebtes Schimpfwort ist. Dass die Verfasser sich scheuen, die Bezeichnung "Lebensschützer" ohne irgendeine Form der Distanzierung zu verwenden, erklärt sich natürlich unschwer daraus, dass sie sich nicht dem Verdacht aussetzen wollen, sie fänden diese Bezeichnung legitim und zutreffend. Die mildeste Form einer solchen Distanzierung wäre die konsequente Verwendung von Gänsefüßchen ("scare quotes", wie sie der Angloamerikaner nennt). Alternativ könnte man auch von sogenannten Lebensschützern sprechen, was allerdings die Frage offen ließe, wer sie so nennt. So gesehen ist "selbsternannt" eine verschärfte Form von "sogenannt": Wenn man eine Gruppe von Leuten als "selbsternannte XY" bezeichnet, dann signalisiert man damit, diese Leute hätten sich die Bezeichnung XY gewissermaßen widerrechtlich angemaßt. Soweit, so schlüssig; was mich daran aber wundert, ist, wieso gerade Leute, die sich die Selbstbestimmung auf die Fahnen geschrieben haben – Selbstbestimmung über absolut alles, bis hin zum eigenen Geschlecht –, einen solchen Akt der Selbstermächtigung als etwas so Verächtliches betrachten. Wenn man selbst entscheiden kann, ob man Mann oder Frau, nonbinär oder genderfluid ist, wieso sollte man sich dann nicht selbst zum Lebensschützer ernennen dürfen? Aber lassen wir das. 

Einigermaßen peinlich wirkt an diesem Presseartikel auch sein geradezu verzweifeltes Bemühen, den Marsch für das Leben irgendwie in die "rechte Ecke" zu stellen – nachdem ja, wie oben festgestellt, selbst die Gegendemonstranten inzwischen eingesehen haben, dass es sich im Ganzen nicht um eine Veranstaltung von "Faschisten" handelt. Nur auf die Teilnahme von AfD-Politikern wie Beatrix von Storch hinzuweisen – was ja schon ein alter Hut istreicht da offenbar nicht mehr (was freilich nicht bedeutet, dass man auf diesen Hinweis verzichten könnte); der Pro-Life-Aktivist Pablo Munoz Iturrieta, der bei der Auftaktkundgebung sprach, wird als "Trump-Unterstützer" eingeordnet und – wohl für den Fall, dass das noch nicht genügt, um dem geneigten Leser klar zu machen, was er von diesem Redner zu halten hat – am "rechten Rand der USA" verortet; angesichts der Umfragewerte für Trump könnte man da freilich einwenden, das müsse aber ein ganz schön breiter Rand sein. Auf den von den Veranstaltern des Marsches bereitgestellten Demo-Schildern macht der Tagesspiegel "Anklänge an rechte Parolen aus anderen Themenfeldern" aus "wie etwa 'Willkommenskultur auch für Ungeborene'" – ? Was soll daran denn wohl "rechts" sein? "Auch eine Fahne der Gruppierung 'Christdemokraten für das Leben' war zu sehen – eine Gruppierung, die sich als unionsnah versteht". Aha. Ist das nun auch schon anrüchig, sich als "unionsnah" zu verstehen? Oder zielt der Artikel umgekehrt darauf ab, die CDU/CSU in ein schlechtes Licht zu rücken, indem er sie mit radikalen Abtreibungsgegnern in Verbindung bringt? Ich weiß gar nicht, was von beidem ich bizarrer fände. 

Am bezeichnendsten am Bericht des Tagesspiegels fand und finde ich es aber, dass durchweg so getan wird, als wäre die – hier aus dem Munde Beatrix von Storchs zitierte – Aussage, Abtreibung sei "die Tötung eines Menschenlebens", lediglich eine (obendrein ziemlich extreme und abwegige) Meinungsäußerung und nicht eine objektive Tatsache. Möglicherweise glauben die Verfasser das sogar wirklich. Es ist ja ohne Zweifel sehr viel einfacher, sich für ein "Recht auf Abtreibung" auszusprechen, wenn man dieses Thema ausschließlich unter dem Aspekt der körperlichen und sexuellen Selbstbestimmung, des Einsatzes für Frauenrechte oder meinetwegen auch des Kampfes "gegen Rechts" betrachtet, als wenn man sich bewusst macht, was bei einer Abtreibung tatsächlich geschieht. So heißt es in dem Artikel, bei der Auftaktkundgebung habe eine Frau davon gesprochen, dass "angeblich [!] Babys zerstückelt würden" – ja also sorry, was glaubt denn ihr, wie eine Spätabtreibung im dritten Trimester abläuft? Eins der Fotos zum Artikel zeigt Plastikmodelle menschlicher Embryonen in Originalgröße, die an einem Infostand ausgegeben wurden; in der Bildunterschrift heißt es, diese sollten "offenbar zur Abschreckung" dienen. Nun, ich würde ja sagen, zunächst einmal handelt es sich um Informationsmaterial: Dass ein menschlicher Embryo in einem Entwicklungsstadium, in dem er in Deutschland noch straffrei angetrieben werden kann, schon mit bloßem Auge als Mensch erkennbar ist, ist eine Information. Wenn die "Pro-Choice"-Fraktion das als abschreckend empfindet, würde ich sagen, das spricht für sich. 

Damit mein Bericht trotzdem mit einer positiven Note endet, gibt's zum Abschluss noch einmal "Großer Gott, wir loben dich" – hier in einer sehr schön arrangierten Version von meinem Freund Raphael Schadt: 

Ich möchte übrigens anmerken, dass ich finde, solche modernen Arrangements traditioneller Kirchenlieder wären sehr viel besser für die musikalische Gestaltung von (z.B.) Jugend- oder Familiengottesdiensten geeignet als die üblichen NGL-Gassenhauer; aber das ist ein Thema für sich... 


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