Servus, Leser! Nachdem wir in der vorigen Episode dieser Artikelserie miterlebt haben, wie Barbara Ubryk alias "Jovita von den Engeln" von ihrem Geliebten Woicech Zarski aus dem Krakauer Karmeliterinnenkloster entführt bzw. befreit, aber schon am nächsten Morgen wieder eingefangen wurde, ist jetzt erst einmal wieder Sir John Retcliffes "Biarritz" an der Reihe. Wir erinnern uns: Im Kapitel "Santa Agatha" hatte der Leser fünf der sechs aus dem Kloster der Verdammten entlassenen exemplarischen Todsünderinnen wiedergetroffen und einen Eindruck davon gewonnen, wie der Autor diese Figuren im weiteren Verlauf des Romanzyklus erzählerisch einzusetzen gedenkt, aber dann war das Kapitel mit einem dramatischen Cliffhanger abgebrochen worden. Das folgende Kapitel, das fast die Hälfte des V. Bandes einnimmt und bis in den VI. hinein reicht, weist zwar keine inhaltlichen Bezüge zur Handlung um die Sieben Todsünden auf, ist aber so bezeichnend für die Arbeitsweise des Autors, dass es mir sinnvoll erscheint, ihm hier ein paar Zeilen zu widmen.
Der äußere Anlass dafür, dass Retcliffe aus dem italienischen Handlungsstrang seines Romanzyklus unvermittelt an einen ganz anderen Ort und in einen neuen, dem ersten Eindruck nach rein episodischen Handlungsstrang springt, lässt sich schon anhand der Kapitelüberschrift "Der Graf von Palikao" erahnen: Der V. Band von "Biarritz" erschien in Fortsetzungen in der zweiten Jahreshälfte 1870, und im August dieses Jahres, nach den ersten französischen Niederlagen im Deutsch-Französischen Krieg, war Charles Cousin-Montauban, Graf von Palikao, zum Kriegsminister und Ministerpräsidenten des Französischen Kaiserreichs ernannt worden. Der Titel "Graf von Palikao" war ihm für seine Verdienste als Oberkommandierender der französischen Expeditionsarmee im 2. Opiumkrieg gegen China verliehen worden; nun nimmt Retcliffe den Umstand, dass der Name des Grafen von Palikao im Spätsommer 1870 zweifellos häufiger in der Zeitung zu lesen war, zum Anlass, in seinen Roman – chronologisch einigermaßen passend – eine eher unrühmliche Episode aus dem Vorleben des französischen Generals einzubauen, nämlich die Plünderung des Sommerpalasts des chinesischen Kaisers, bei der Cousin-Montauban sich schamlos bereicherte.
Nun wäre Retcliffe aber wohl nicht Retcliffe, wenn er für den Gesamtaufbau seines Romans nicht noch mehr aus dieser Episode herauszuholen wüsste. Nach einem quasi "dokumentarischen" Einstieg, in dem er den Leser über die Vorgeschichte der Opiumkriege, über den britischen Opiumhandel und die gesundheitlichen Folgeschäden des Opiumkonsums informiert, lässt er in den Reihen der französischen Truppen erst einmal zwei Charaktere auftreten, die der Leser aus seinem früheren Roman "Puebla" kennt – und kündigt in einer Fußnote an, dass dieser Roman "hier zugleich seine Fortsetzung erhält" (Bd. V, S. 277). Etwas später erscheint eine Gruppe von Personen auf dem Schauplatz, die der Leser zuerst in zwei in Sibirien spielenden Kapiteln der ersten beiden "Biarritz"-Bände kennengelernt hat: den britischen Weltreisenden Sir Frederick Walpole, den versponnenen deutschen Naturforscher Professor Peterlein und die sibirische Prinzessin Wéra Tungilbi – und begleitet werden sie von einer weiteren Figur aus dem "Puebla"-Roman, dem Trapper Eisenarm. Damit nicht genug, tritt auch Nena Sahib, die Titelfigur von Retcliffes wohl bekanntestem und erfolgreichsten Roman über den Indischen Aufstand von 1857-59, in der Maske eines verkrüppelten Bettlers in diesem Kapitel auf. Somit verdichtet sich der Eindruck, dass Retcliffe beabsichtigt, die losen Handlungsfäden aus allen seinen früheren Romanen wieder aufzunehmen und zusammenzuführen. Obendrein baut er auch noch einen Bericht über den Untergang des preußischen Schoners "Frauenlob" in einem "Teufun" (Bd. V, S. 475) in der Bucht von Tokio am 2. September 1860, rund eineinhalb Monate vor der Plünderung des Sommerpalasts, in das Kapitel ein – den ersten Totalverlust der preußischen Marine.
Auf das umfangreiche Kapitel "Der Graf von Palikao" folgt ein mit nur 59 Seiten vergleichsweise kurzes Kapitel mit dem Titel "In Berlin" – das auch wieder sehr bezeichnend für die Erzähltechnik des Autors ist, insofern, als die zentrale Figur dieses Kapitels ein Journalist ist, der anhand zahlreicher autobiographischer Details als alter ego des Verfassers zu erkennen ist; und wer nicht in der Lage ist, diese Andeutungen zu entschlüsseln, dem dürfte spätestens ein Licht aufgehen, wenn dieser Journalist auf seinen Roman "Sebastopol" angesprochen wird. Dieser Journalist also macht zunächst einen Krankenbesuch beim Prinzen Friedrich von Preußen und kehrt dann in einem vornehmen Lokal (Weinstuben Ewest in der Behrenstraße) ein, und die Gespräche, die er führt, geben Anlass zu allerlei Erinnerungen an die Revolutionsjahre 1848/49. Zwischendurch belauscht der Journalist noch ein Gespräch zwischen einem polnischen Aristokraten und einem italienischen Agitator über die Aussichten für einen neuen Aufstand in Russisch-Polen, und an eine Nebenhandlung der Kapitel "Der Hofbanquier" und "Das Testament" aus Bd. III wird en passant angeknüpft.
Als das Berlin-Kapitel – mitten im Gespräch in der Weinstube und mit dem Satz "Die Unterredung wurde durch den Eintritt eines Fremden unterbrochen" (Bd. VI, S. 79) – abbricht, kehrt der Roman endlich wieder an den italienischen Schauplatz zurück, allerdings vorerst nur für 29 Seiten und nicht etwa zu dem Gelage im ehemaligen Kloster Santa Agatha, sondern vielmehr in die Villa Albano, wo dem geheimnisvollen Kapuzinermönch Fra Alberto eine Taube mit einer geheimen Botschaft zugeflogen ist. Schon in einem früheren Unterkapitel des Gaëta-Handlungsstrangs war recht unmissverständlich angedeutet worden, dass es in der belagerten Festung einen Verräter gibt, der die Tauben der Königin dazu benutzt, dem Feind geheime Informationen zukommen zu lassen; dass eine solche Taube nun gerade dem geheimnisvollen Mönch in die Hände fällt, stürzt diesen augenscheinlich in einen schweren Gewissenskonflikt: Die hastig hingekritzelte Bleistiftnotiz, die diese Taube transportiert hat, warnt vor einem Angriff auf die Vorstadt Borgo di Gaëta, bei dem es auf "eine hohe Person" abgesehen sein soll (Bd. VI, S. 93). Nun ist Fra Alberto ja einerseits im Auftrag des Heiligen Stuhls unterwegs, in dessen politischem Interesse es läge, wenn den "Gotteslästerern und Kirchenschändern" (Bd. VI, S. 87) eine möglicherweise kriegsentscheidende Niederlage zugefügt würde; schließlich ist König Viktor Emanuel II. "ein Feind der Kirche, er hat den Stuhl Petri beraubt um sein Eigentum – er lebt im Bann des Papstes!" (Bd. VI, S. 88). Andererseits hat es aber bereits recht deutliche Hinweise darauf gegeben, dass der Mönch in Wirklichkeit der leibliche Vater Viktor Emanuels, der abgedankte König Karl Albert von Sardinien-Piemont, ist – und so sieht er sich nun in einem Zwiespalt zwischen den "Pflichten gegen [die] heilige Kirche" und den "Bande[n] des Blutes" (Bd. VI, S. 83):
"O Absalon, Absalon mein Sohn! Soll ich selbst Dein Joab sein, der Dich den Feinden überantwortet und tötet – oder ist es ein Gnadenzeichen der Heiligen, Dich zu warnen, damit Du Zeit gewinnst, in Dich zu gehen, Deine Sünden zu büßen und freiwillig Vergebung zu suchen zu den Füßen dessen, den Gott zu seinem Stellvertreter gesetzt hat auf Erden!" (Bd. VI, S. 82f.).
Schließlich ringt er sich dazu durch, den Kammerdiener des Königs vor dem drohenden Angriff zu warnen und zu verlangen, dass das Tor der Villa geschlossen wird; als der Kammerdiener ihm zunächst keinen Glauben schenkt, verlangt der Mönch "Feder und Papier" (Bd. VI, S. 94):
"Der alte Mönch war wie verwandelt – sein Ton nicht mehr der des demütigen Barfüssers [sic] oder des exaltierten Schwärmers, sondern der des Befehls" (ebd.).
In aller Eile verfasst Fra Alberto zwei Depeschen an "den kommandierenden Offizier in Castellone" sowie "an General Cialdini", den Oberbefehlshaber der piemontesischen Armee (Bd. VI, S. 95) und siegelt diese Briefe mit einem "Petschaft oder [...] Siegelring", "der an einer härenen Schnur auf der bloßen Brust hing" (Bd. VI, S. 94).
Im Folgenden wird geschildert, wie sich "das Schicksal des Ausfalles, wahrscheinlich des ganzen Krieges" (Bd. VI, S. 101) durch eine Verkettung unglücklicher (oder, je nach Standpunkt, glücklicher) Umstände entscheidet: Zunächst sind die Angreifer sich nicht darüber im Klaren, "welches von diesen verfluchten Häusern [...] eigentlich das rechte" ist (ebd.); dann wird der Versuch, das inzwischen geschlossene Tor der Villa aufzusprengen, durch ein vorgebliches Missgeschick des Kanoniers Hradek – desselben, der die verräterische Taube abgeschickt hat – sabotiert. Als die Angreifer schließlich doch in die Villa eindringen, finden sie dort neben dem Kammerdiener des Königs nur noch "zwei Damen" (Bd. VI, S. 108) und den französischen Abgesandten Conti vor. – Dass es ausdrücklich nur zwei Damen sind und nicht drei, lässt den Verdacht aufkommen, dass zusammen mit dem König und Fra Alberto auch die vermeintliche Lady Howard – Elena, die Repräsentantin der Wollust – aus der Villa verschwunden ist; aber ehe man Genaueres darüber erfährt, braucht man erneut einen langen Atem, denn obwohl der VI. Biarritz-Band den Titel "Gaëta" trägt, dauert es nach der Erstürmung der Villa Albano erneut mehr als 250 Seiten, bis die Handlung an den italienischen Schauplatz zurückkehrt.
Zunächst, im Kapitel "Zu den Quellen des Nil" – das im Inhaltsverzeichnis des Bandes auffälligerweise nicht aufgeführt ist –, trifft der Leser einige Personen, die zuletzt im Kapitel "Der Graf von Palikao" aufgetreten waren, auf einem französischen Schiff im Golf von Aden wieder; darunter sind Lord Walpole und sein unfreiwillig komischer Begleiter Professor Peterlein, aber auch Nena Sahib, der sich als französischer Kaufmann namens Labrosse ausgibt. Die Entwicklung, die dieser Handlungsstrang nimmt, ist an und für sich ausgesprochen interessant, aber da sie in keinem erkennbaren Zusammenhang mit der "Sieben Todsünden"-Handlung steht, will ich hier und jetzt nicht näher darauf eingehen. Anders verhält es sich mit dem Kapitel "Aber in Spanien...!", in dem der vielleicht schillerndste Charakter des ganzen Romanzyklus, Don Juan de Lerida, den der Leser zuletzt bei der Bärenjagd in den Pyrenäen erlebt hat, in Madrid auftaucht.
In einer offenen Kutsche den Salon del Prado entlang fahrend, begegnet der Graf von Lerida zunächst General Prim, der sich für den folgenden Tag mit ihm in der Oper verabredet; erinnern wir uns in diesem Zusammenhang daran, dass die aus dem Kloster der Verdammten entlassene Vertreterin der Hoffart, Giuliana, erklärt hat, ihre Mutter – die rechtmäßige Erbin des spanischen Throns! – sei eine Verwandte des Generals. Anschließend hat Don Juan eine Unterredung mit einem jüdischen Journalisten, den er (gewissermaßen stellvertretend für den Leser) über die verschiedenen Fraktionen in der spanischen Politik und die jeweils mit ihnen verbündeten Geheimgesellschaften befragt. Bald darauf ergeben sich zur Frage der spanischen Thronfolge – man beachte: eine Frage, die zum Anlass für den Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 wurde! – neue Komplikationen: Don Juan erfährt von einem geheimen Testament König Ferdinands VII., das in zwei Exemplaren vorliegen soll, von denen eines im Vatikan und das andere "in dem Königlichen Archiv zu Madrid" aufbewahrt wird (Bd. VI, S. 212). Laut Aussage einer alten Dienerin, die "den König in seiner letzten Krankheit" gepflegt hat (Bd. VI, S. 205), sollen in der Nacht vor dem Tod des Königs drei Abgesandte des Heiligen Stuhls, darunter der damalige Kardinalstaatssekretär Bernetti persönlich, an seinem Sterbebett aufgetaucht sein, um ihn dazu zu bewegen, ein Testament zu unterschreiben, in dem er die Pragmatische Sanktion von 1830, die die weibliche Erbfolge in Spanien einführte, widerrufen und damit seiner Tochter Isabella die Thronfolge entziehen sollte. Der König habe diese Unterschrift jedoch nur unter der Bedingung geleistet, dass der Heilige Stuhl nur dann von diesem Dokument Gebrauch machen dürfe, wenn die Herrschaft Isabellas die vitalen Interessen der Kirche bedrohen sollte. Seither hat der Vatikan die Existenz dieses Testaments geheim gehalten, um es – ähnlich wie das Wissen um die Existenz einer Tochter König Ferdinands VII. aus einer früheren Ehe – als Druckmittel gegen Isabella und gegen die carlistischen Thronprätendenten zugleich einsetzen zu können. – Don Juan gibt zwar vor, dieser Erzählung keinen Glauben zu schenken – er bezeichnet sie als "Mährchen" (Bd. VI, S. 205), als "alberne Geschichte" und "die abgeschmackten und boshaften Phantasien einer schwatzhaften alten Närrin" (Bd. VI, S. 216) –, trifft aber dennoch sogleich Vorkehrungen, das im Hofarchiv aufbewahrte Exemplar dieses Testaments in seinen Besitz zu bringen. Seinen Vertrauten gegenüber erklärt er:
"Die Drohung mit diesem Dokument erklärt das bisher für uns undurchdringliche Geheimniß, warum die liberale Regierung der Königin Isabella Seine Heiligkeit den Papst und Gaëta unter ihren Schutz genommen, Italien und der ganzen andern Welt entgegen, und warum die klugen Kardinäle in Rom, die lieber mit einer fertigen Macht rechnen, als mit einer unfertigen, erst künftigen, nichts mehr von einer carlistischen Erhebung wissen wollen, die jetzt bei König Victor Emanuel und Herrn Cavour ihre Unterstützung, suchen muß!" (Bd. VI, S. 229f.).
"Der Volksmund behauptete, daß man die jungen Geschöpfe gegen den Willen der Eltern zum Klosterleben verlockt und in entfernte Klöster gesteckt habe. Trotz der Aufhebung der Jesuiten und der Einziehung vieler Klöster unter der Regentschaft Espartero's hatte die römische Propaganda doch den größten Einfluß bewahrt, viele der ausgewiesenen Jesuiten waren unter dem Schutz des Hofes und des berüchtigten Beichtvaters der Königin, des Jesuiten Claret, nach Spanien zurückgekehrt und bekleideten selbst ganz offen ansehnliche Stellen. Die geistliche Gerichtsbarkeit war unter anderem Namen wieder eingeführt und der Klosterunfug [!] nahm wieder überhand unter Firma geistlicher und wohlthätiger Gesellschaften" (ebd.).
Abschließend folgt noch der Hinweis: "Seltsamer Weise hatten all die verschwundenen jungen Mädchen in der Kirche Santa Maria ihre Meß- und Beichtgänge gehalten" (ebd.). Man ahnt, dass sich hier eine Skandalgeschichte ankündigt, bei der Dr. A. Rode, der Verfasser des "Barbara Ubryk"-Romans, sich in den Hintern beißen dürfte, dass sie ihm nicht eingefallen ist.
Das mit 124 Seiten längste und zudem auch spannendste Kapitel des VI. Biarritz-Bandes, "Auf der Wolfsjagd", spielt in Polen und enthält zumindest eine kleine, in ihrer potentiellen Tragweite aber allemal beachtenswerte Querverbindung zum Hsndlungsstrang um die "Sieben Todsünden": Zu Beginn des Kapitels findet in einer Waldhütte ein konspiratives Treffen zwischen drei Vertretern unterschiedlicher Fraktionen der polnischen Nationalbewegung statt, von denen es sich bei mindestens zweien um historische Persönlichkeiten handelt: Wladimir (bzw. Włodzimierz) Lempke (1838-1864) als Vertreter der "Roten" sowie der schon früher erwähnte Marian Langiewicz als Abgesandter des Pariser "Central-Comité's der Emigration" (Bd. VI, S. 250). Die Differenzen zwischen diesen beiden Männern sind mit Händen zu greifen – und äußern sich auch darin, dass Lempke erst einmal Langiewicz' Identität anzweifelt: "[N]ach dem Bericht einer unserer Anhängerinnen aus dem Lager General Cialdini's befand sich zu Anfang dieses Monats Kapitain Langiewicz vor Gaëta", stellt er fest (Bd. VI, S. 257) – bei dieser Anhängerin dürfte es sich demnach um die Sünderin Matilda aus dem Kloster der Verdammten, die Verkörperung des Neides, handeln. "[J]ener Bericht datirt vom 2. Januar, läßt Sie in einem Ueberfall der Bourbonisten schwer verwundet sein, und heute – am 12. Januar – sehen wir Sie frisch und munter hier in den polnischen Wäldern?", wundert sich Lempke (ebd.), und ich hatte ja schon angemerkt, dass sich der aufmerksame Leser des Romans ebenfalls über diese scheinbare Bilokation wundern dürfte. Langiewicz vermag die Sache jedoch aufzuklären:
"[W]enn Sie nach Paris zurückkehren, werden Sie dort hören, daß auf den Wunsch des Central-Comités mein Vetter Michael Langiewicz einstweilen meinen Platz in Italien eingenommen hat, damit den russischen Spionen, welche überall die polnische Emigration überwachen, meine Reise desto leichter verborgen bleibe. Ihnen mein Herr danke ich die traurige Nachricht, daß mein Vetter verwundet ist" (Bd. VI, S. 257f.) –
– was ja zugleich eine Vorausdeutung darauf darstellt, was sich in der Fortsetzung des Kapitels "Santa Agatha" ereignet, die auf S. 363 im selben Band beginnt.
Nachdem die Schilderung des Gelages im ehemaligen Refektorium des Klosters Santa Agatha im V. Band auf einem Spannungshöhepunkt abgebrochen war, lässt der Autor sich nicht lumpen, die Fortsetzung mit einem Knalleffekt zu eröffnen: Mit den Worten "Pardon Monsieur le comte, aber meinen besten Anbeter dürfen Sie mir nicht erschießen!" schlägt Theresa ihrem alten Bekannten Saint-Bris das auf den Oberstleutnant Sismondi angelegte Gewehr zur Seite, wodurch der Schuss den kurz zuvor des Falschspiels beschuldigten ungarischen Freischärler trifft (Bd. VI, S. 363). Im darauf folgenden Handgemenge überschlagen sich die Ereignisse derart, dass, wie es scheint, sogar der Autor kurzzeitig die Übersicht über seine Figuren verliert: Nachdem Michael Langiewicz, von dessen Verwundung der Leser ja bereits im "Wolfsjagd"-Kapitel erfahren hat, von Tonelletto einen Bajonettstich in die Brust erhalten hat (was er mit dem Ausruf "Przeklecie! nicht einmal für das Vaterland zu sterben!" quittiert), liest man:
"Unter der Tafel hervor huschte die kleine zierliche Gestalt seiner Landsmännin. Hände und Gesicht waren mit Blut beschmutzt - die Rechte warf eben eine kleine bluttriefende Scheere von sich, während die Linke festgeschlossen einen kleinen Gegenstand krampfhaft verbarg, den sie jetzt hastig und ohne auf die Blutbefleckung zu achten, in den Busen schob. Dann kniete sie neben dem Schwerverwundeten und suchte ihm Beistand zu leisten. 'Kann ich Ihnen dienen, Pan Langiewicz? Haben Sie Nichts zu bestellen? Geben Sie mir Ihre Börse und Ihr Taschenbuch - bei einer Frau sind sie besser verwahrt!'" (Bd. VI, S. 369).
"Die Polin ließ den Verwundeten fallen und sprang hastig auf. 'Man muß alle Taschen visitiren – ich glaube, ich kenne die Hand, die das gethan!'
Die Schwester Martina that, als hörte sie nicht –" (Bd. VI, S. 377).
"'Gauthier! Emile Gauthier! Kennen Sie mich nicht? Ich gehe mit Ihnen!'
Die Pariserin stürzte mit geöffneten Armen auf ihn zu. –
Der Offizier wandte sich zu ihr – einen Augenblick nur des Anstarrens – dann stieg das dunkle Blut über das Gesicht des Tapfern und färbte es bis in die Haarwurzeln.
'Metze! – fort von mir! – Wo Du bist, ist das Unheil!'
Er stieß sie mit Gewalt von sich, daß sie taumelte.
'Gauthier! – Himmel und Erde – Sie thun mir Unrecht! ich liebte nur Sie –'
'Fort – sei verflucht! zehn Mal verflucht, Elende, Mörderin! die Du mich zum Mörder gemacht! Werft die Kaiserhure hinaus in die Nacht, daß ihr Athem nicht ehrliche Männer vergifte!'" (Bd. VI, S. 378)
Daraufhin zieht Theresa einen zuvor im allgemeinen Durcheinander vom Boden aufgehobenen Revolver und schießt Gauthier in die Brust. – In dem Glauben, tödlich verwundet zu sein, gesteht Gauthier dem Grafen Saint-Bris, wie ihr gemeinsamer Bekannter Castellane am Vorabend der Schlacht von Magenta zu Tode gekommen ist: "Ich forderte ihn und tödtete ihn - auf Befehl des Kaisers – weil er in Eifersucht sich an ihm – vergriffen, als er ihn – bei jener Metze fand - - jetzt – von ihrer Hand - Gott ist gerecht" (Bd. VI, S. 379).
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Die Illustration gehört zu einem anderen Retcliffe-Roman – "Nena Sahib", Bd. I –, aber sie passt wohl so einigermaßen hierher. |
An dieser Stelle wechselt der Schauplatz Handlung zurück zur Villa Albano – allerdings zu einer Szene, die chronologisch vor der im Kapitel "Der Ueberfall" geschilderten liegt: König Viktor Emanuel speist mit dem französischen Gesandten Conti und den Damen, wobei die angebliche Lady Howard – Elena, die Verkörperung der Wollust – recht ungeniert mit dem König flirtet, was seine Wirkung auf ihn auch offenbar nicht verfehlt. Mitten im Tischgespräch bemerkt der König den Klang von "Gewehrfeuer" (Bd. VI, S. 392), und gleich darauf erscheint, "schmutz- und schweißbedeckt, die Uniform blutig, den Säbel noch in der Hand, der Oberstlieutenant Graf Sismondi" in der Villa Albano, nachdem er "in der ersten Ueberraschung" aus Santa Agatha entkommen ist, "um Meldung zu machen" (Bd. VI, S. 393). Eilig wird das Tor der Villa geschlossen, und während der König noch unschlüssig ist, was er weiter tun soll, ertönt "plötzlich eine tiefe, majestätische Stimme, wie ein Ruf aus einer andern Welt" (Bd. VI, S. 393) – die Stimme des Bettelmönchs Fra Alberto – und fordert ihn auf, den einzigen noch offenen Fluchtweg zu nutzen, nämlich die Flucht übers Meer mittels einer bereitstehenden Barke. Als der König sich sträubt, wendet der Mönch sich an Elena: "Führe ihn hinweg, Tochter der Sünde, [...] über seinen starren Sinn hat nur seine Schwäche Gewalt" (Bd. VI, S. 397). Tatsächlich lässt er sich von ihr wegführen, unmittelbar bevor die Angreifer das Tor der Villa aufsprengen. Wenig später, während die Angreifer die Villa durchsuchen, versucht Fra Alberto durch ein Fenster zu flüchten und wird dabei erschossen. Rückblickend wird berichtet:
"Obschon nur wenige Personen in der That wußten, in welcher Gefahr der König gewesen war, hatten sich doch allerlei Gerüchte darüber durch die Dienerschaft verbreitet, und namentlich erzählte man sich, daß der König in der Kutte eines Kapuziners entwischt und dieser [...] gezwungen worden sei, die Uniform des Königs anzuziehen, worauf die Neapolitaner ihn für diesen gehalten und erschossen hätten" (Bd. VI, S. 443).
König Viktor Emanuel kehrt am nächsten Morgen zur Villa Albano zurück, wo der französische Gesandte Conti ihm vom Tod des Mönchs berichtet und ihm den Siegelring übergibt, den dieser "auf seiner Brust an einer Schnur" getragen hat: "Plötzlich – wie von einem elektrischen Schlage getroffen – erbleichte der König und die Hand, in welcher er den Ring hielt, zitterte" (Bd. VI, S. 440). Im selben Augenblick schlägt ganz in der Nähe ein feindliches Artilleriegeschoss ein.
Später am selben Tag besucht König Viktor Emanuel das "Zimmer, wo der Todte liegt", schlägt "die verhüllende Kapuze über den Kopf des Todten zurück" (Bd. VI, S. 446) und betrachtet "lange in tiefer Bewegung den Todten" (Bd. VI, S. 447). Dann befiehlt er, "zwei Posten vor die Thür dieses Zimmers und das Fenster zu stellen", und schärft seinem Kammerdiener ein:
"Niemand soll es betreten. – Noch diesen Abend wird mit dem Dampfer ein Sarg von Neapel eintreffen, ich werde die nöthigen Befehle geben. Der Sarg wird in dieses Zimmer gebracht und Du und der Offizier, der ihn begleitet, legt diese Leiche mit aller Ehrfurcht, die man den Todten schuldig ist, in den Sarg, der in Deiner Gegenwart verlöthet wird. Niemand betrachtet den Todten, hörst Du – Niemand! – Du wirst noch diese Nacht mit dem Sarg nach Genua auf dem Dampfer abgehen und denselben mit der Bahn, ohne Turin zu berühren, nach La Superga bringen und ihn dem Prior überliefern. Der Offizier, der den Sarg von Neapel bringt, wird Dir ein Schreiben aushändigen, den Inhalt desselben übergiebst Du dem Prior" (Bd. VI, S. 448).
Gegen Ende des Kapitels erlebt der Leser noch mit, wie der Geistliche, der die Sünderinnen aus dem Kloster der Verdammten beaufsichtigt und ihnen Anweisungen gibt – und der in diesem Kapitel erstmals mit Namen genannt wird: Abbé Calvati (Bd. VI, S. 375 u. 442) –, sich von seinen Schützlingen berichten lässt, welche für die politischen Interessen des Heiligen Stuhls relevanten Informationen sie ihren Verehrern haben entlocken können. Bei dieser Gelegenheit verrät Elena alias Lady Howard dem Abbé trotzig, dass sie König Viktor Emanuel dazu verholfen hat, der Gefangennahme durch die Truppen des Königs von Neapel zu entgehen:
"Sie mögen zwar eine große Macht über uns arme Sünderinnen besitzen, aber es scheint, daß es noch mächtigere Personen als Sie giebt. Man hat der Lady Howard befohlen, den König Victor Emanuel durch ihre Reize zu fesseln und sich zur Spionin und Herrin seines Geheimnisses zu machen, aber nicht ihn in die Fesseln der Neapolitaner zu locken oder gar erschießen zu lassen. Ueberdies ist ein todter Mann, selbst ein König, ein schlechter Liebhaber. Es ist deshalb besser, Seine Majestät der König Victor Emanuel, obschon er mich etwas barsch behandelt hat, ist lebendig und ich gehe nach Turin, um ihn dort zu erwarten!" (Bd. VI, S. 457).
Im Übrigen teilt sie mit, sie habe den Gesprächen in der Villa Albano entnehmen können, "[d]aß Seine Heiligkeit der Papst Pius der Neunte, wenn ihm Gott so lange das Leben erhält, in den nächsten fünf Jahren die Freude haben wird, den Carneval unbehindert in Rom zu feiern. Später möchte ich nicht ganz mehr dafür stehen!" (Bd. VI, S. 458).
Erwähnen wir nebenbei noch, dass Abbé Calvati der Schwester Martina zusagt "Du magst den blutigen Ring behalten" (Bd. VI, S. 455); aber hat sie ihn wirklich oder war es doch die Polin Matilda, die ihn sich eingesteckt hat? Wird das im weiteren Verlauf der Romanhandlung noch eine Rolle spielen? – Wie dem auch sei: In der nächsten Folge werden wir erst einmal sehen, wie es mit Barbara Ubryk weitergeht. Romanautor Dr. A. Rode hat ja in Aussicht gestellt, dass die letzten Kapitel seines Wälzers sich auf offizielle Untersuchungsakten stützen; diese Behauptung gilt es zu überprüfen...
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