Ab und zu ist es ja doch ganz gut, dass ich im Presseverteiler des Erzbistums Berlin bin. Zwar erhalte ich dadurch häufig Nachrichten, die mich nicht interessieren, und nicht selten auch solche, bei denen ich es vorgezogen hätte, sie nicht zu erfahren; aber zuweilen ist es doch praktisch für einen Nachrichtenmuffel wie mich. Manche Nachrichten, besonders aus der Berliner Landespolitik, bekomme ich erst dadurch mit, dass irgendeine kirchliche Einrichtung eine Stellungnahme dazu abgibt, die dann über den Presseverteiler des Erzbistums geht.
So zum Beispiel neulich: "Hedi Kitas positioniert sich zur Debatte um Vorschulpflicht ab drei Jahren". Vorweg: "Hedi Kitas" heißt der noch vergleichsweise neue, nämlich Anfang 2024 gegründete Zweckverband der katholischen Kindertagesstätten im Erzbistum Berlin; davon hatte ich schon gehört. Aber was für eine "Debatte um Vorschulpflicht ab drei Jahren"? Tja: Diese Debatte hat die Berliner Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch angestoßen. Genauer gesagt hat sie bei einer Veranstaltung der Industrie- und Handelskammer Berlin erklärt, sie würde am liebsten "sofort" eine dreijährige Vorschule einführen: "Ich unterstütze das komplett." – Man beachte übrigens, dass die Senatorin, obwohl hier von Kindern ab drei Jahren die Rede ist, explizit nicht von einer Kindergarten- oder KiTa-Pflicht, sondern von einer Vorschulpflicht spricht – weil es ihr bei diesem Vorstoß, wie sie betont, schwerpunktmäßig nicht um Betreuung, sondern um frühkindliche Bildung geht. Bei mir als Schulpflicht-Skeptiker und entschiedenem Anhänger der #kindergartenfrei-Bewegung gehen da jedenfalls gleich doppelt die Alarmlichter an.
Angemerkt sei in diesem Zusammenhang übrigens, dass ich schon recht häufig – auf Spielplätzen, in Krabbelgruppen oder bei ähnlichen Gelegenheiten – mit Eltern ins Gespräch gekommen bin, die glaubten, in Berlin gäbe es bereits eine KiTa-Pflicht. Die einen meinten, ab drei Jahren, andere ab vier, wieder andere, mindestens ein Jahr vor der Einschulung. Nichts davon stimmt. Noch nicht.
Zur politischen Einordnung der Vorschulpflicht-Forderung sei außerdem angemerkt, dass Berlin von einer Großen Koalition aus CDU und SPD regiert wird – nominell unter Führung der CDU, aber das heißt ja nichts: In der Geschichte der Bundesrepublik war es eigentlich immer so, dass Koalitionen aus CDU und SPD, auch wenn die SPD der "kleinere" Koalitionspartner war, SPD-Politik gemacht haben. Und dass die SPD eine staatliche "Lufthoheit über den Kinderbetten" anstrebt, ist ja nichts Neues; das hat der heutige Noch-Bundeskanzler Olaf Scholz schon 2002, damals noch als SPD-Generalsekretär, in bemerkenswerter Offenheit verkündet. Bildungssenatorin Günther-Wünsch ist allerdings tatsächlich bei der CDU (und außerdem die Lebensabschnittsgefährtin des Regierenden Bürgermeisters Kai Wegner, ebenfalls CDU; das Bekanntwerden dieser Liaison hatte Anfang 2024 einen kleinen Skandal ausgelöst, der aber praktisch folgenlos geblieben ist – Landespolitik als Soap Opera, aber das gehört hier eigentlich nicht zum Thema, oder allenfalls am Rande). – Wer mich kennt, der weiß, dass ich der CDU ausgesprochen kritisch gegenüberstehe, seit ich vor über 30 Jahren aus der Jungen Union ausgetreten bin; wie ich schon anlässlich der vorigen Bundestagswahl schrieb: "Wertkonservativ und wirtschaftsliberal", das heißt doch im Prinzip nichts anderes als "Du sollst die Witwen und die Waisen / nur dann, wenn es sich lohnt, bescheißen". Der vorliegende Fall demonstriert wohl recht deutlich, welche Hälfte dieses Begriffspaars die höhere Priorität hat: Als wertkonservativ kann man es wohl beim besten Willen nicht verkaufen, die Kindererziehung noch mehr als sowieso schon aus dem Elternhaus auszulagern und staatlichen Einrichtungen zu übertragen. Eher schon steht zu vermuten, dass die Förderung der frühkindlichen Bildung gut für die Wirtschaft sein soll – in dem Sinne, dass sie dazu verhelfen soll, dass aus den Kindern, wie es im Politikerjargon so unschön heißt, eher Leistungsträger als Leistungsempfänger werden.
Dies dürfte, neben wahlkampftaktischen Erwägungen (wie sähe das denn aus, mitten im Wahlkampf einer CDU-Forderung zuzustimmen?), ein wesentlicher Grund dafür sein, dass gerade die Parteien, die sich sonst am stärksten für den Ausbau der KiTa-Betreuung, Ganztagsschulen usw. einsetzen, dem Vorschulpflicht-Vorstoß eher kritisch gegenüberstehen. Während mehrere CDU-Bildungspolitiker Unterstützung für den Vorstoß aus Berlin signalisierten, bezeichnete die noch amtierende Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) die "Forderung [...] nach einer dreijährigen Pflicht-Vorschulzeit" als einen "Griff in die Mottenkiste pädagogischer Ideen aus dem letzten Jahrhundert"; ablehnend äußerten sich auch die Bildungsministerinnen von Rheinland-Pfalz, Stefanie Hubig (SPD), und von Mecklenburg-Vorpommern, Simone Oldenburg (Die Linke).
In den ablehnenden bzw. kritischen Stellungnahmen zum Vorstoß von Senatorin Günther-Wünsch – auch in derjenigen der "Hedi Kitas", auf die noch zurückzukommen sein wird – wird gern darauf hingewiesen, dass die allermeisten Kinder im Alter zwischen drei und sechs Jahren ohnehin schon eine KiTa gehen; in Berlin sind es ganze 92,3%. Bei dieser Zahl musste ich erst mal schlucken: Gerade mal eins von 13 Kindern der genannten Altersgruppe wächst in Berlin #kindergartenfrei auf, das finde ich ganz schön krass. Aber immerhin, mein Sohn ist einer davon, und das erfüllt mich dann ja doch mit einer Art von Stolz.
Symbolbild, Quelle: Pixabay |
Und – wo ich gerade beim Angeben bin – mal kurz aus dem Nähkästchen geplaudert: Neulich war meine Liebste mit unserem Jüngsten in der S-Bahn unterwegs und wurde dort von einer Grundschullehrerin angesprochen, der das sehr gute sprachliche Ausdrucksvermögen des Knaben aufgefallen war; sie meinte, mit seinen noch nicht ganz vier Jahren spreche er besser als viele ihre Erstklässler. Meine Liebste erklärte, er gehe nicht in die KiTa und habe daher im Alltag mehr Kontakt zu Erwachsenen als zu Gleichaltrigen; wozu die Lehrerin anmerkte, würde der Knabe jetzt in die KiTa kommen, wäre das für seine Sprachentwicklung – im Sinne einer "Angleichung nach unten", sofern es legitim ist, das so zu nennen – wohl eher hinderlich als förderlich. Was diese Anekdote zeigt, ist, dass eine allgemeine Vorschulpflicht für alle Kinder ab drei Jahren womöglich selbst für die Ziele, die ihre Befürworter damit zu erreichen hoffen, der falsche Weg wäre: Wenn schon jetzt zwölf von dreizehn Kindern ab drei Jahren eine KiTa besuchen und trotzdem viele von ihnen in der ersten Klasse noch nicht richtig sprechen können, sollte man, statt auch noch das dreizehnte Kind zum Besuch einer Bildungseinrichtung zu verpflichten, vielleicht lieber die Qualität der Bildungsarbeit in den KiTas in den Blick nehmen.
Und da kommt nun die Stellungnahme der "Hedi Kitas" ins Spiel. Die Pressemitteilung des katholischen KiTa-Verbands lobt die Berliner Bildungssenatorin erst einmal dafür, dass sie "wichtige Themen der frühkindlichen Bildung" aufgreife: "Hedi Kitas begrüßt die Aufmerksamkeit für die Bedeutung früher Bildungsphasen." Die Distanzierung folgt indes sogleich: Es wird kritisiert, die "Fokussierung auf eine Vorschulpflicht" stelle "eine Verkürzung der Debatte dar, die der tatsächlichen Vielschichtigkeit der Herausforderungen in der frühkindlichen Bildung nicht gerecht wird." Unter Berufung auf die "wissenschaftlichen Empfehlungen etwa [...] der Bertelsmann Stiftung" wird betont, "dass Kitas dann die besten Bildungschancen eröffnen, wenn sie über angemessene Rahmenbedingungen verfügen" – was ja erst mal nach einer Binsenweisheit klingt, für die es wohl kaum wissenschaftlicher Expertise bedurft hätte. Was aber sind denn nun "angemessene Rahmenbedingungen"? Die Antwort auf diese Frage muss man wohl in der Forderung nach "strukturelle[n] Verbesserungen" suchen: Gefordert werden "[k]leine Gruppen, differenzierte Teamprofile und ausreichend Zeit für mittelbare pädagogische Arbeit", was auch immer das nun wieder sein soll, "[v]erpflichtende Fachberatung und Fortbildungsangebote für Mitarbeitende[!]" sowie "[m]odernisierte Einrichtungen, digitale Infrastruktur und KI-gestützte Tools", auweia, auch das noch. "Kitas", so heißt es weiter, "müssen Orte sein, [...] die Demokratie, Nachhaltigkeit und Inklusion in den Mittelpunkt stellen und damit auch in die Gesellschaft wirken." Alles in allem wird "der Politik" also signalisiert, man habe im Prinzip dieselben Ziele wie sie und sei lediglich über die Wahl der Mittel anderer Ansicht. "Kitas müssen nicht nur Inseln der Bildung, sondern auch Orte des demokratischen Miteinanders sein", wird die "Hedi Kitas"-Geschäftsführerin Mirja Wolfs zitiert. "Mit bedarfsgerechten Strukturen und einer konsequenten Ausrichtung auf Qualität können wir allen Kindern die besten Startchancen ermöglichen – ganz ohne Zwang."
Soweit, so schwach. Im Prinzip würde ich mir von einer katholischen Einrichtung ja wünschen, dass sie das verfassungsmäßig garantierte Erziehungsprivileg der Eltern verteidigt und aus dieser Perspektive das Streben nach einer staatlichen Lufthoheit über den Kinderbetten kritisiert; aber das hat wohl seit Bischof Mixa keiner mehr gewagt, und es würde wohl auch nicht recht glaubwürdig wirken, wenn es von einem Verband käme, der "[i]n 72 Einrichtungen [...] mehr als 4.500 Plätze für Kinder im Alter von vier Monaten [!] bis zum Schuleintritt" anbietet, wie in der Pressemitteilung betont wird. Da biedert man sich lieber bei "der Politik" an, hebt hervor, wieviel man für die Erreichung staatlich vorgegebener Bildungsziele tue, und präsentiert Papa Staat dabei ganz nonchalant noch seinen Weihnachtswunschzettel – nach dem Motto "Wir könnten noch mehr für dich tun, aber dafür brauchen wir noch dies und das und jenes". Dass man im Hause "Hedi Kitas" auf das Stichwort "Vorschulpflicht" eher mit Abwehrreflexen reagiert, hat möglicherweise auch damit zu tun, dass man um die Zukunft der eigenen Einrichtungen fürchtet, falls diese keine Zulassung als "Vorschulen" erhalten sollten.
Alles in allem scheint die Stellungnahme der "Hedi Kitas" somit wesentlich von dem Interesse der katholischen KiTas geprägt, ihre eigene Lufthoheit über den Kinderbetten zu verteidigen. Man könnte aus christlicher Sicht geneigt sein, das positiv zu bewerten – wenn man davon ausgehen könnte, dass KiTas in kirchlicher Trägerschaft eine genuin christlich orientierte Erziehung der Kinder gewährleisten. Daran ist aber nicht nur wegen der bekannten Tendenz großkirchlicher Institutionen zur Selbstsäkularisierung zu zweifeln, sondern auch und vor allem, weil staatliche Vorgaben sicherstellen, dass die Erziehungsstandards an KiTas in freier Trägerschaft sich nicht allzu deutlich von denen an KiTas in staatlicher Trägerschaft unterscheiden. Sehr deutlich war das unlängst in Köln zu beobachten: Dort warb eine katholische KiTa für eine Abendveranstaltung zum Thema "Kindliche Sexualität und Doktorspiele", und auf kritische Anfragen reagierte das Erzbistum Köln mit dem Hinweis auf "staatliche Vorschriften":
"Zur Erlangung einer Betriebserlaubnis für Kindertageseinrichtungen in NRW ist u.a. ein inklusionspädagogisches Konzept Voraussetzung. Teil dieses Konzeptes ist u.a. die Auseinandersetzung bzw. die Verankerung sexualpädagogischer Bausteine im Rahmen sexueller Bildung als pädagogischer Auftrag einer Kindertagesstätte."
Und das, wohlgemerkt, im CDU-regierten Nordrhein-Westfalen. In Berlin sieht es in dieser Hinsicht übrigens nicht anders aus.
Um aber noch einmal auf das Thema Vorschulpflicht zurückzukommen: Dass eine solche tatsächlich eingeführt wird, darf man wohl als unwahrscheinlich betrachten, denn dafür müsste das Grundgesetz geändert werden, und eine Mehrheit dafür ist offenkundig weit und breit nicht in Sicht. Derweil steht es kaum zu bezweifeln, dass "die Politik" andere Mittel und Wege suchen und finden wird, die staatliche Lufthoheit über den Kinderbetten auszubauen: Wenn ein verpflichtendes Vorschuljahr nicht verfassungskonform ist, dann nennt man es eben "KiTa-Chancenjahr". – Es ist traurig, dass die Kirche in einer solchen Situation mehr daran interessiert ist, ihren Status als einer der größten freien Träger von Kindertageseinrichtungen in Deutschland zu behaupten, als auf Ermutigung und praktische Unterstützung für Eltern zu setzen, die ihre Kinder #kindergartenfrei erziehen möchten. – An dieser Stelle habe ich anschließend noch eine Botschaft an diejenigen, die meinen, die ganze #kindergartenfrei-Bewegung sei elitär und nur etwas für eine privilegierte Minderheit, die es sich leisten kann, dass mindestens ein Elternteil nicht voll berufstätig ist: Selbst wenn das so wäre – was übrigens nicht so sein müsste, wenn "die Politik" sich dazu durchringen könnte, als Alternative zur Inanspruchnahme eines staatlich finanzierten KiTa-Platzes ein Erziehungsgehalt einzuführen –, wäre es trotzdem sinnvoll, diejenigen Eltern, die sich das leisten können, zu dieser Entscheidung zu ermutigen bzw. darin zu unterstützen. Dann blieben nämlich mehr – und besser ausgestattete! – KiTa-Plätze für die Kinder derjenigen Eltern, die wirklich darauf angewiesen sind.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen