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Samstag, 4. Mai 2019

Macht euch also keine Sorgen und fragt: Was wird 2060 sein?

Kirchliche, kirchennahe und/oder an kirchlichen Themen interessierte Medien sind mit einem Paukenschlag ins Wochenende gegangen: Eine vom Verband der Diözesen Deutschlands (VDD) und der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) in Auftrag gegebene Studie des "Forschungszentrums Generationenverträge" (FZG) an der Universität Freiburg zur "langfristigen Projektion der Kirchenmitglieder und des Kirchensteueraufkommens" prognostiziert, dass die beiden Großkirchen in Deutschland im Jahr 2060 nur noch rund halb so viele Mitglieder haben werden wie heute. Mir drängten sich angesichts dieser Meldung einige zum Teil durchaus konträre Gedanken auf, die ich hier in loser Folge und ohne Anspruch auf Vollständigkeit, Systematik und innere Stimmigkeit skizzieren möchte. 

Symbolbild, Quelle: Pixabay 
  • Was heißt hier "Christen"? 
Gelesen habe ich die Meldung zuerst auf der deutschsprachigen Website der Catholic News Agency (CNA), und da lautet die Überschrift: "Neue Prognose: Bis 2060 halbiert sich die Zahl der Christen in Deutschland". Ich gestehe, mein spontaner Gedanke war: Das ist doch Quatsch, um Christen geht's in dieser Studie doch gar nicht. Im Text des Artikels selbst ist die Formulierung aus der Überschrift dann schon insoweit relativiert, dass da von "Kirchensteuer zahlenden Christen" die Rede ist, aber auch so scheint mir die Formulierung den Kern der Sache noch nicht ganz zu treffen: Ob die Leute, die Kirchensteuer zahlen, tatsächlich Christen sind, wird von der Studie doch gar nicht erfasst.

Mir ist klar, dass es höchst problematisch ist, so etwas zu sagen. Im Geiste höre ich schon von der einen Seite die Beschwerden, man könne bzw. dürfe doch nicht Anderen das Christsein absprechen, das sei doch anmaßend, fundamentalistisch und sowieso und überhaupt unchristlich; während mir von der anderen Seite mit strengem Stirnrunzeln der character indelebilis der Taufe in Erinnerung gerufen wird. Trotzdem würde ich prinzipiell darauf beharren, dass das entscheidende Kriterium des Christseins der christliche Glaube ist, und insofern würde es mir widersinnig erscheinen, Menschen als Christen zu bezeichnen, die zentrale Glaubensinhalte des Christentums - etwa: den Glauben an Gott, an die Göttlichkeit Jesu Christi, an Seine Auferstehung - dezidiert ablehnen und/oder sich aus allerlei Versatzstücken einen individuellen "Glauben" zusammenbasteln, der mit den Lehren des Christentums allenfalls entfernte Ähnlichkeit hat. Natürlich gibt es Leute, auf die diese Beschreibung zutrifft und die dennoch darauf bestehen, sich selbst als Christen zu betrachten und zu bezeichnen. Ich habe solche Leute durchaus schon im echten Leben getroffen. Aber da kann ich dann nur sagen, sorry, deine privaten Begriffsdefinitionen interessieren mich nicht besonders. Du kannst deine Katze auch als Huhn bezeichnen, Eier legen wird sie trotzdem nicht.

Was ich mit alledem sagen will: Ich würde mal davon ausgehen, dass man hierzulande schon jetzt maximal die Hälfte der Kirchenmitglieder in einem irgendwie aussagekräftigen Sinne als Christen bezeichnen kann. Wäre dem nicht so, würde es mich wundern, dass es nur so wenige von ihnen - knapp 10% der Katholiken und rund 3% der landeskirchlichen Protestanten - einigermaßen regelmäßig in den Gottesdienst schaffen. 

  • Glaubt ihr echt, ihr überlebt noch 40 Jahre? 
Bezogen auf die rein formale Kirchenmitgliedschaft halte ich die Prognose jedenfalls für viel zu optimistisch. Halb so viele Kirchenmitglieder wie jetzt? Wo sollen die denn bitte herkommen, wenn man voraussetzt (wie es die Studie ja ausdrücklich tut), dass die gegenwärtigen Trends sich fortsetzen? Bis 2060 sind es noch über 40 Jahre; die heutigen aktiven Kirchenmitglieder werden dann größtenteils tot sein. Bei den nicht aktiven Kirchenmitgliedern kann man davon ausgehen, dass sie an ihre Kinder eine noch schwächer ausgeprägte Bindung an die Kirche weitergeben, als sie selbst sie haben. Schauen wir uns mal einen Jahrgang von Firmlingen an, denken daran, dass diese jungen Leute 2060 kurz vor der Rente stehen werden (falls es dann noch Rente gibt), und fragen uns, wie viele von ihnen wohl eine ausreichend starke Bindung an die Kirche haben, um bereitwillig ihr ganzes Berufsleben lang Kirchensteuer zu zahlen. Gar nicht erst zu reden von den Kindern, die heute getauft werden und 2060 mitten im Berufsleben stehen werden. Eine Kalkulation der Mitgliederentwicklung, die darauf baut, dass ausreichend viele Getaufte zu faul oder zu vergesslich sein werden, ihren Austritt zu erklären, ist für die Tonne. 

Und nicht nur das. Auch heute schon, trotz Kirchensteuereinnahmen in Rekordhöhe, hängt die - wenn man das so ausdrücken kann - Funktionstüchtigkeit der Kirchengemeinden vor Ort wesentlich von dem Einsatz unbezahlter Freiwilliger (sog. "Ehrenamtlicher") ab. Wenn die wegbrechen - und dieses Wegbrechen ist vielerorts schon jetzt zu beobachten -, wird die Kirche auch nicht mehr in der Lage sein, die Anspruchshaltung derjenigen (nicht gerade wenigen) Mitglieder zu befriedigen, die die Sakramente der Kirche lediglich als Dienstleistungen in Anspruch nehmen; und in dem Maße, in dem diese "Dienstleistungsempfänger" von der Kirche nicht mehr das bekommen, was sie von ihr erwarten, wird ihre Austrittsbereitschaft steigen. 

Kurz gesagt, ich bin überzeugt, dass es erheblich weniger als 40 Jahre dauern wird, bis die kirchensteuerfinanzierten Strukturen der Großkirchen krachend zusammenbrechen. Die Kirche, die sich aus den Trümmern dieses Zusammenbruchs aufrappeln und, wie W.H. Auden es formulierte, "voll Freude vorwärts stolpern" wird, wird in puncto Sozialgestalt und Organisationsform erheblich anders aussehen als die, die wir heute (noch) kennen. 

  • Was ist mit dem Klimawandel? 
Zugegeben, diese Zwischenüberschrift ist ein bisschen frech. Klar, wenn - wie man mancherorts hört - die Welt in spätestens zwölf Jahren im flammenden Klimakatastrophen-Inferno zugrunde geht, dann muss man sich über den Zustand der Kirche im Jahr 2060 keine Gedanken mehr machen. Aber auch wenn man nicht von einem sofortigen Weltuntergang ausgeht, bleibt der Einwand prinzipiell valide: Es kursieren allerlei Szenarien darüber, wie Klimaveränderungen in den kommenden Jahrzehnten massive Naturkatastrophen, Hungersnöte etc. verursachen und, mit oder ohne die Zwischenstufe der politisch-militärischen Destabilisierung ganzer Weltregionen, Flüchtlingswellen auslösen werden, gegen die die Migrationsbewegungen, die wir bisher erlebt haben, sich wie ein laues Lüftchen ausnehmen dürften. Es muss aber auch gar nicht unbedingt und ausgerechnet das Klima sein, das die Welt, wie wir sie kannten, radikal über den Haufen wirft. Der Punkt ist, wir wissen schlichtweg nicht, was in den nächsten 41 Jahren so alles passieren wird. Man stelle sich mal vor, 1978 wäre eine "langfristige Projektion" der Kirchenmitgliedschaftsentwicklung bis zum Jahr 2019 erstellt worden. Die schlauen Wissenschaftler hätten weder den Mauerfall noch die Erfindung des Internets vorausgesehen, vermutlich - ein Jahr vor der Islamischen Revolution im Iran - nicht einmal den globalen Aufstieg eines militanten Islamismus mit all seinen politischen und gesellschaftlichen Folgen. Es ist wohl kaum anzunehmen, dass die kommenden 41 Jahre weniger unvorhersehbare Ereignisse globaler Tragweite mit sich bringen werden als die zurückliegenden. Die Vorstellung, im Jahr 2060 wäre im Großen und Ganzen alles so ähnlich wie jetzt, bloß noch mehr so wie jetzt, erscheint mir jedenfalls extrem naiv. 

  • Wenn nun aber der Herr wiederkommt...? 
Zu den Dingen, die ich persönlich für wahrscheinlicher halte, als dass bis zum Jahr 2060 alles ungefähr so weiter läuft, wie es derzeit läuft, gehört die Möglichkeit, dass bis dahin die Parusie eintritt. Das heißt nicht, dass ich fest damit rechne. Das Problem ist aber, ich habe das Gefühl, dass die Kirchenverantwortlichen überhaupt nicht damit rechnen. Oder mit irgendeinem Eingreifen Gottes in ihre Geschäfte. Schon allein, dass diese Studie überhaupt in Auftrag gegeben wurde, erweckt den Eindruck, dass die Bürokraten in den Ordinariaten die Kirche betrachten und behandeln wie irgendein x-beliebiges Unternehmen und daher nicht auf Gott vertrauen, sondern auf weltliche Management-Instrumente. Noch schärfer ausgedrückt, in der kirchlichen Bürokratie hat sich ein struktureller Atheismus ausgebreitet: Man handelt, als ob es Gott nicht gäbe -- wie jener böse Knecht in Matthäus 24,48ff., der in seinem Herzen sagt "Mein Herr kommt noch lange nicht". 

Einige meiner Leser werden sich sicher noch erinnern, dass ich hier unlängst eine Kinderbuchversion des Gleichnisses vom reichen Bauern (Lukas 12,16-21) thematisiert habe. Und was sagt Gott bei Lukas zu diesem reichen Bauern? "Du Narr! Noch in dieser Nacht wird man dein Leben von dir zurückfordern." -- Ich habe das Gefühl, unsere Bischöfe - zumindest einige von ihnen - werden ganz schön doof gucken, wenn der Herr Seine Kirche von ihnen zurückfordert.

  • Das Netz auf der anderen Seite auswerfen 
Noch bevor ich die Meldungen über die 2060-Prognose gelesen hatte, stieß ich auf Twitter auf eine engagierte Stellungnahme von Sabrina Hoppe, Vikarin in der Evangelischen Landeskirche Bayerns

"Und ich bleibe dabei: Wir sollten investieren. Geld, Menschen, Hoffnung, Geist, Inspiration, Liebe, Sorgfalt. Nicht zurückschrauben, kürzen, knapsen. Und die Netze waren leer. Und sie fuhren hinaus. Und die Netze wurden so voll, dass sie zu reißen drohten." 
Wenn ich mir anschaue, wer diesen Tweet so alles mit "gefällt mir" markiert hat - nämlich so ziemlich die halbe linksintellektuell-postchristliche Theologenblase auf Twitter, einschließlich solcher Leute wie Hannes Leitlein und Philipp Greifenstein - wird mir zwar ganz anders, aber das ändert nichts daran, dass ich die Aussage selbst, so Unterschiedliches man darunter in der konkreten Praxis offenbar verstehen kann, erst einmal richtig und wichtig finde. Es besteht tatsächlich die Gefahr, dass der institutionelle Apparat der großen Kirchen die FZG-Prognose zum Anlass bzw. Vorwand nehmen wird, flächendeckende Sparmaßnahmen, ja ein allgemeines Zurückschrauben des kirchlichen "Angebots" zu begründen bzw. zu rechtfertigen; man kann nicht einmal ausschließen, dass die Studie eigens zu diesem Zweck in Auftrag gegeben wurde. Mit einer solchen Strategie gerät man aber, wie ich schon an anderer Stelle ausgeführt habe, leicht in eine Abwärtsspirale, an deren Ende man nur noch jemanden braucht, der das Kirchengebäude endgültig zusperrt

Natürlich muss man sich in Zeiten knapper werdender Mittel fragen, was von all den Strukturen, die in Zeiten des Überflusses geschaffen wurden, man sich in Zukunft noch leisten kann, leisten will und leisten muss. Entscheidend ist dabei aber natürlich die Frage, nach welchen Kriterien Kosten und Nutzen verschiedener kirchlicher "Angebote" gegeneinander abgewogen werden. Und da ist ein gewisses Misstrauen gegenüber dem institutionellen Apparat der Kirchen wohl durchaus am Platz. Kein Geringerer als Papst Franziskus warnte anlässlich des ad-limina-Besuchs der deutschen Bischöfe vor "einer Tendenz zu fortschreitender Institutionalisierung der Kirche. Es werden immer neue Strukturen geschaffen, für die eigentlich die Gläubigen fehlen." In seiner Apostolischen Exhortation Evangelii Gaudium schreibt Franziskus, eine "Reform der Strukturen" der Kirche im Sinne einer "pastorale[n] Neuausrichtung" müsse darauf ausgerichtet sein, dass diese Strukturen "alle missionarischer werden" (EG 27) -- eine Forderung, die das "Mission Manifest" in seiner Präambel aufgreift. Dafür, wie das auch ohne viel Geld - und sogar gerade dann - funktionieren kann, wenn man das Verhältnis von Mitgliedschaft und Mitarbeit in der Kirche radikal anders auffasst, als es in der kirchensteuerfinanzierten Volkskirche zur Normalität geworden ist, bietet das "Mission Manifest" allerlei wertvolle Impulse, ebenso natürlich auch die "Benedikt-Option", Father James Mallons "Divine Renovation"-Konzept oder auch das "Pfarrzellen"-Modell. Und, na ja, was ich selbst so mittels trial and error zu einer solchen missionarischen Erneuerung der Kirche beizutragen versuche, davon ist in diesem Blog ja fortlaufend zu lesen. Vielfach drängt sich indes der Eindruck auf, dass solche Ansätze sich eher gegen den Widerstand der institutionellen Strukturen der Kirche behaupten müssen, als dass sie etwa von diesen unterstützt würden. Dennoch bin ich überzeugt, dass wir in solchen Initiativen die Keimzellen dessen sehen, was nach der Volkskirche kommt

Und damit mache ich jetzt erst mal einen Punkt. 



3 Kommentare:

  1. Und noch etwas haben die Bischöfe, und wer sonst alles an dieser Studie gearbeitet hat, übersehen: Die gläubigen Christen, die deshalb keine Steuern zahlen, weil sie zu wenig Geld verdienen, steuerpflichtig zu sein. So wie ich.
    Die werden auch mehr.
    Die werden auch künftig zwar immer mal etwas in den Klingelbeutel werfen, aber keine großen Spenden geben und gar keine (oder kaum) Steuern einbringen.
    Daran hängt aber ihr Glaube nicht. Die kommen auch in die Kirche, wenn alle Kirchenbänke knarzen und wackeln und die Heizung nicht mehr funktioniert. Die bringen dann einen Schraubendreher mit, um die Kniebänke halbwegs festzuschrauben (kein Witz, hab ich neulich gemacht), und Decken, damit die alten Leute bei der Messe nicht frieren. Aber halt kein Geld.

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  2. Auch unter extremsten Bedingungen gibt es bereits heutzutage kirchliches Leben - z.B. in Südrussland mit einem einzigen Bistum "St. Clemens" von der Fläche der Bundesrepublik Deutschland aber nur 21500 Katholiken:

    http://kath-ru.blogspot.com/?m=1

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  3. Nun, was mich viel mehr schockiert hat als die Zahlen (die kann man sich ja aus der demographischen Situation selbst herleiten) ist die Reaktion der Kommentatoren in der ZEIT online. Da hat man dann am Schluß um die 700 Kommentare beisammen, und die Lesen sich zu 80% so: Super Nachricht! Klasse! Religionsfreie Welt = Frieden! Was hat das Christentum je für uns getan?" Hexenverbrennung, Inquisition und Kindesmißbrauch! Aufklärung hipp hipp hurraaaaah!

    Ich halte ja Rod Drehers Warnungen vor der Zukunft staatlichen Umgangs mit Christen gerne für überzogen, aber bei der Feindseligkeit, die aus so vielen Kommentaren spricht, frage ich mich, ob er nicht doch wesentlich realistischer ist, als ich bisher angenommen habe.

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