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Sonntag, 17. April 2016

Du willst es doch auch (nicht)!

Im 7. Kapitel der postsynodalen Exhortation Amoris Laetitia, betitelt "Die Erziehung der Kinder stärken", widmet Papst Franziskus ein ganzes Unterkapitel, bestehend aus den Abschnitten Nr. 280-286, dem Thema "Ja zur Sexualerziehung". Gleich einleitend heißt es da mit Bezug auf das Konzilsdokument Gravissimum educationis (über die christliche Erziehung):
"280. Das Zweite Vatikanische Konzil sprach von der Notwendigkeit, die Kinder und Jugendlichen »durch eine positive und kluge Geschlechtserziehung« zu unterweisen, die »den jeweiligen Altersstufen« angepasst ist und die »Fortschritte der psychologischen, der pädagogischen und der didaktischen Wissenschaft« verwertet. Wir müssten uns fragen, ob unsere Erziehungseinrichtungen diese Herausforderung angenommen haben."
Tja. 

Unlängst zeigte mir meine Liebste, die an einer Gesamtschule Biologie unterrichtet, ein schmales Taschenbuch, das sie aus der Schule mitgebracht hatte - es habe dort ausgelegen, vermutlich habe ein Kollege oder eine Kollegin es für den Unterricht verwendet bzw. an die Schüler verteilt. Das Heft trug den Titel First Love - Safety First, und sein Inhalt bestand größtenteils aus einem Comic im Manga-Stil. Allerdings war es nicht, wie ein richtiges Manga, von hinten nach vorn zu lesen, und die Hauptcharaktere hießen auch nicht Yuki oder Chihiro oder so, sondern Lena, Colin, Paula und Stefan. Immer wieder unterbrochen wurde die Handlung des Comics durch Infoseiten zu Themen wie Pubertät, Geschlechtskrankheiten, Schwangerschaft und Verhütungsmittel. Hinsichtlich der inhaltlichen Tendenz dieser Infoseiten (wie auch der Comic-Handlung selbst) brauchte man sich angesichts des Umstands, dass das Heft vom Präservativhersteller Condomi herausgegeben wurde, keine Illusionen zu machen. 


Aber werfen wir zuerst einmal einen Blick ins Vorwort:
"Hallo!
Vielleicht hast du ja schon deine ersten Erfahrungen in Sachen Liebe gemacht. Auch wenn das noch nicht der Fall war - irgendwann trifft's auch dich! In diesem Comic findest du eine Menge Infos über die erste Liebe, deinen Körper, Verhütung, Sexualität - und auch darüber, wie wichtig es ist, Verantwortung zu übernehmen." 
-- Verantwortung übernehmen? Das klingt ja gut! Seien wir also gespannt und steigen direkt ein in die Handlung des Comics: Lena ist heimlich verliebt in ihren besten Freund Colin - der sie zwar durchgängig mit "Süße" anredet, ansonsten aber wesentlich mehr an Paula interessiert scheint, die bereits recht ausgeprägte weibliche Rundungen aufweist, während Lenas Figur noch vergleichsweise kindlich ist. Als Colin Lena jedoch zu einem Campingausflug an den Baggersee einlädt, hofft sie auf eine Gelegenheit, ihm ihre Liebe zu gestehen. -- An dieser Stelle setzt der erste "Infoteil" des Hefts an, und zwar mit Anmerkungen dazu, wie sich der Körper während der Pubertät verändert. Nicht ungeschickt wird an Lenas Selbstzweifel wegen ihrer wenig entwickelten Körperformen angeknüpft: 
"So wie Lena geht's vielen Jugendlichen in der Pubertät: Man vergleicht sich und seine körperlichen Veränderungen mit denen der anderen. Da denkt man als Mädchen oft: 'Die hat schon mehr Busen als ich, obwohl sie viel jünger ist.' Und natürlich gibt's auch viele junge Mädchen, die für ihr Alter schon viel Busen haben und sich deswegen unsicher fühlen. Bei den Jungs dagegen kommen eher Fragen auf wie: 'Wieso hat der schon einen Bart - und ich hab immer noch ein Gesicht wie ein kleiner Junge?' [Moment mal: Und was ist mit Schwanzvergleich in der Hallenbaddusche? - Aber lassen wir das.] Nicht selten hat man bei solchen Vergleichen das Gefühl, dass andere schon weiter sind als man selbst. Darunter kann das Selbstbewusstsein leiden. Sollte es aber nicht!" 
Interessanterweise würde der Papst bis hierhin wohl sogar noch mitgehen. So schreibt er in Amoris Laetitia Nr. 285:
"Jenseits der verständlichen Schwierigkeiten, die jeder erleben mag, muss man helfen, den eigenen Körper so zu akzeptieren, wie er geschaffen wurde […]. Ebenso ist die Wertschätzung des eigenen Körpers in seiner Weiblichkeit oder Männlichkeit notwendig, um in der Begegnung mit dem anderen Geschlecht sich selbst zu erkennen." 
Der zuletzt zitierte Satz deutet allerdings schon an, dass es Papst Franziskus in diesem Abschnitt seines Schreibens weniger um Unterschiede im Tempo der körperlichen Entwicklung in der Pubertät geht als vielmehr um die Annahme der eigenen Geschlechtsidentität. Hier muss man bedenken, dass das Heftchen First Love - Safety First! bereits 2006 erschienen ist und somit volle zehn Jahre älter ist als Amoris Laetitia. Dass vor zehn Jahren das Gender Mainstreaming noch längst nicht so weit fortgeschritten war wie heute, merkt man dem Heft deutlich an: Die Texte darin gehen durchweg von zwei eindeutig unterscheidbaren und voneinander abgrenzbaren Geschlechtern aus; Transsexualität und sogar Homosexualität werden nirgends auch nur ansatzweise thematisiert. 

Bevor es mit Lenas und Colins Ausflug an den Baggersee weitergeht, folgen noch allerlei Informationen darüber, was in der Pubertät so alles mit dem weiblichen und dem männlichen Körper passiert (einschließlich Schemazeichnungen), sowie "Wichtige Facts rund um die Periode" - wozu die denkwürdigen Sätze gehören: "Während [des] Eisprungs kann die Eizelle durch einen männlichen Samen befruchtet werden. Sollte das passieren, ist man schwanger." Allerhand! Doch dazu später mehr - erst einmal zurück zum Comic.  

Beim Campen am Baggersee ist zu Lenas großer Enttäuschung auch Paula mit von der Partie. Gegen sie glaubt Lena bei Colin keine Chance zu haben und sondert sich von ihren Freunden ab, woraufhin ein fremder Junge - Stefan - sie anspricht. Er zeltet mit seinen Kumpels ebenfalls in der Nähe, und am Abend gesellt sich Lena zu dieser Gruppe, da sie es nicht erträgt, Colin und Paula zusammen zu sehen. Stefan gibt ihr Bier zu trinken - normalerweise, so wird der Leser informiert, trinkt Lena keinen Alkohol -; und als sie einigermaßen angetrunken ist, lässt sie sich von Stefan küssen (und denkt dabei "Hoffentlich sieht Colin das!"). Schließlich lässt sie sich sogar von Stefan in sein Zelt locken: "Weißt du, was wahnsinnig schön wäre? Wenn du heute bei mir bleibst und morgen in meinen Armen wach wirst..." 

Das ist Paula. Paula weiß total bescheid. Sei (nicht) wie Paula! 
Wem nicht von allein klar ist, worauf das hinausläuft, dem hilft der nächste Infoteil auf die Sprünge: Der beginnt nämlich mit einer Übersicht über verschiedene Verhütungsmethoden, jeweils mit Erläuterungen zur Anwendung, "Pearl-Index" und Nebenwirkungen. Aufgeführt werden Kondom, Pille, Depot-Spritze, Hormon-Implantat, Spirale, Vaginalring, Verhütungspflaster, Diaphragma und Sterilisation (!). "Kein Wort von Enthaltsamkeit oder NFP oder so etwas!", ereiferte sich meine Liebste. Ich zuckte mit den Achseln. "Natürlich nicht. Enthaltsamkeit, das gibt's doch gar nicht. Das ist doch nur so ein Aberglaube. - Und NFP, also ehrlich mal - glaubst du, irgendwo außerhalb der Katholischen Kirche erfährt man irgendwas über NFP?" 

(Ich gebe zu, ich habe da ein bisschen übertrieben. Informationen über NFP bekommt man sehr wohl auch aus nichtkatholischen Quellen. Allerdings wird diese Methode dort eher als Mittel zur gezielten Schwangerschaftsplanung angepriesen als zur Verhütung. Was natürlich zwei Seiten derselben Medaille sind, aber schon diese Feststellung ist heutzutage wohl Manchem ein Dorn im Auge.) 

"Aber Teenagern die Spirale empfehlen", grummelte meine Liebste weiter. Nun ja, streng genommen tut die Broschüre das nicht, sondern erwähnt lediglich, dass es sie gibt - und räumt dabei ein, dass sie "für junge Mädchen nicht besonders gut geeignet" sei. Zum Thema Sterilisation heißt es: "Weil man sie nicht mehr rückgängig machen kann, ist die Sterilisation nur für Frauen und Männer geeignet, die schon Kinder haben und/oder keine Kinder mehr möchten!" Muss einem ja mal gesagt werden. Also, im Grunde hat meine Liebste schon Recht: Wenn da schon im Interesse der Vollständigkeit auch solche Verhütungsmethoden aufgeführt werden, die nicht einmal die Macher der Broschüre guten Gewissens jungen Mädchen empfehlen wollen, dann wäre es nur recht und billig gewesen, auch ein paar Worte über NFP zu verlieren. Daneben fällt es auf, dass im Abschnitt über die Anti-Baby-Pille bis auf den vagen Hinweis, sie sei "für Raucherinnen eher nicht" geeignet (aber Rauchen gilt unter Teenagern ja neuerdings sowieso als uncool, hab ich mir sagen lassen), keinerlei Nebenwirkungen aufgeführt werden. Vermutlich wäre es allzu abtörnend gewesen, an dieser Stelle über Migräne, Depressionen, Gewichtszunahme, Thrombose, Herzinfarkt oder Brustkrebs zu sprechen. -- Vor allem aber ist der Sponsor der Publikation nun mal ein Kondomhersteller, und daher wird noch einmal eigens hervorgehoben: "Nur das Kondom schützt vor einer Schwangerschaft und vor gefährlichen Geschlechtskrankheiten!!!" Folgerichtig enthält der Infoteil auch eine ganzseitige Anleitung zum richtigen Überziehen eines Kondoms - einschließlich Hinweisen zur Entsorgung ("Benutzte Kondome gehören nicht in die Toilette, sondern - in Papier eingewickelt - in den Mülleimer"). 

Hören wir auch hierzu Papst Franziskus:
"Die Sexualerziehung bietet Information, jedoch ohne zu vergessen, dass die Kinder und die Jugendlichen nicht die volle Reife erlangt haben. Die Information muss im geeigneten Moment kommen und in einer Weise, die der Phase ihres Lebens angepasst ist. Es ist nicht dienlich, sie mit Daten zu übersättigen, ohne die Entwicklung eines kritischen Empfindens zu fördern gegenüber einem Überhandnehmen von Vorschlägen, gegenüber der außer Kontrolle geratenen Pornographie und der Überladung mit Stimulierungen, welche die Geschlechtlichkeit verkrüppeln lassen können. Die Jugendlichen müssen bemerken können, dass sie mit Botschaften bombardiert werden, die nicht ihr Wohl und ihre Reifung anstreben. Man muss ihnen helfen, die positiven Einflüsse zu erkennen und zu suchen, während sie sich zugleich von all dem distanzieren, was ihre Liebesfähigkeit entstellt." (AL 281) 
Was geht derweil in Stefans Zelt vor sich? Na was wohl! Der Knabe verliert keine Zeit, der durch ungewohnten Alkoholkonsum praktisch willenlosen Lena an die Wäsche zu gehen - und sie denkt: "Ist das schön... Selbst Colin ist mir grad total egal..." Als Stefan unverhohlen erklärt "Ich will mit dir schlafen", erschrickt sie aber doch: "Was sag ich denn jetzt?! Ich hab doch noch nie...!" Letztlich stellt dies aber ebensowenig ein Hindernis dar wie die Tatsache, dass Stefan keine "Gummis dabei" hat: "Ich versprech dir, ich pass auf, ok?" - Klar, denn: "Stefan ist so lieb und einfühlsam..." Ja, sicher

Am nächsten Morgen macht Lena sich Vorwürfe. Warum? Etwa, weil sie sich von einem wildfremden Typen hat abschleppen lassen, um den Jungen, in den sie eigentlich verliebt ist, eifersüchtig zu machen - und weil sie diesem Stinkstiefel dann auch gleich ihre Jungfräulichkeit geopfert hat? Nun, nicht direkt, denn: "Der Sex war ja ganz schön." Aber: "Ohne Gummi...! Oh Gott, jetzt bin ich bestimmt schwanger... und ich weiß nicht mal, ob Stefan 'ne ansteckende Krankheit hat!" Könnte ja sein, speziell wenn er derartige Aktionen öfter durchzieht. -- Aber will die Broschüre ihren pubertierenden Lesern ernsthaft beibringen, wenn Aufreißerkönig Stefan ein Kondom benutzt hätte, wäre alles in Butter? -- Ja, offensichtlich will sie genau das. Das war dann auch genau der Punkt, an dem meine Liebste ernsthaft erwog, ob sie einen Schreikrampf bekommen sollte. 

Nun ja, immerhin wird gezeigt, dass Stefan sich, nachdem er bei Lena sein Ziel erreicht hat, ihr gegenüber plötzlich gleichgültig bis abweisend verhält und dass sie darüber betrübt ist. Papst Franziskus zitiert in Amoris Laetitia Nr. 284 Erich Fromms Kunst des Liebens: "Die sexuelle Anziehung »schafft zwar im Augenblick die Illusion der Vereinigung, aber ohne Liebe bleiben nach dieser 'Vereinigung' Fremde zurück, die genauso weit voneinander entfernt sind wie vorher«." Insgesamt erscheint das im Rahmen der Comic-Handlung aber nebensächlich im Vergleich zu den sehr viel handfesteren Sorgen um die möglichen Folgen ungeschützten Geschlechtsverkehrs. -- Während Stefan sich nun offensichtlich Paula als nächstes Opfer erkoren hat, besinnt sich Lena, dass Colin ja nicht nur ihr heimlicher Schwarm, sondern auch ihr bester Freund ist, und erzählt ihm, was für Dummheiten sie gemacht hat. Er reagiert pragmatisch und schlägt ihr vor, sie am nächsten Tag nach der Schule zum Frauenarzt zu begleiten. 

-- Kaum sitzt Lena im Sprechzimmer der Frauenärztin gegenüber ("Die ist aber nett"), wird die Handlung erneut durch einen Infoteil unterbrochen. Diesmal geht es um Geschlechtskrankheiten - und wieder hagelt es Informationen über Informationen: Blasenentzündung, Chlamydien, Feigwarzen, Hepatitis B und C, Herpes genitalis, Mykoplasmen, Pilzinfektion der äußeren Geschlechtsorgane, Syphilis, Gonorrhö, Ulcus molle... Will man angesichts dieses Grauens wirklich noch Sex haben? - Na klar, wenn ein Kondom einen doch vor alledem bewahren kann. Dem Thema HIV/Aids ist eine Extraseite gewidmet, und auch diese gipfelt selbstverständlich in der fettgedruckten Ermahnung: "Immer Kondome beim Sex benutzen!" 

Hingegen ist das Thema "Ungewollt schwanger - was nun?" bereits im Infoteil vor der Sexszene abgehandelt worden:
"Wenn man sie richtig anwendet, sind viele Verhütungsmethoden ziemlich sicher [...]. Aber trotzdem kann es manchen [!] Mädchen und Frauen passieren, dass sie ungewollt schwanger werden. Ein positiver Schwangerschaftstest ist in diesem Fall natürlich immer ein großer Schock.Und viele der Betroffenen wissen nicht weiter, denn ein Kind bedeutet eine Riesenverantwortung und krempelt das eigene Leben ordentlich um. Letztendlich muss natürlich [!] jede Frau für sich selbst entscheiden, ob sie das Kind haben möchte oder nicht."
-- Das Bemerkenswerteste an dieser Aussage ist wohl, dass die Möglichkeit, dass eine ungewollt Schwangere sich für ihr Kind entscheiden könnte, ausdrücklich in Erwägung gezogen wird. Schön ist auch, dass das Heft einige Informationen zum "normalen Verlauf einer Schwangerschaft" bietet; darin erfährt man sogar, dass bereits in der 5. Schwangerschaftswoche "das Herz des Kindes [!] zu schlagen" beginnt und dass das Ungeborene schon ab der 7. Woche auf Reize von außen reagiert. Da erscheint es dann schon einigermaßen folgerichtig, dass Abtreibung explizit nur als "letzte[r] Ausweg" bezeichnet wird. Gleichzeitig fällt es auf, dass die Broschüre, verglichen mit ihrer sonstigen Informationsfülle, beim Thema Abtreibung ausgesprochen wortkarg ist. Hingewiesen wird auf die Beratungspflicht, die 12-Wochen-Frist sowie darauf, dass man die Kosten für eine Abtreibung in der Regel selbst tragen muss; aber darüber, was bei einer Abtreibung eigentlich passiert, schweigt das Heft sich aus. Wer die Angaben zum "Verlauf einer normalen Schwangerschaft" aufmerksam gelesen hat, könnte freilich von allein zu dem Schluss kommen, dass das ungeborene Kind, sobald es einmal zu leben begonnen hat, nicht einfach 'weggezaubert' werden kann und dass eine Schwangerschaft somit in jedem Fall damit endet, dass die Mutter ein Kind zur Welt bringt - wenn kein lebendes, dann ein totes. Aber diese gedankliche Verbindung herzustellen, wird durch die Knappheit des Infokastens zum Thema Abtreibung (und seine optische Trennung vom sonstigen Text) eher behindert als gefördert.

"Und die einzige Beratungsstelle, die da erwähnt wird, ist ausgerechnet pro familia", merkte meine Liebste indigniert an. - "Klar", erwiderte ich. "Gibt es etwa auch noch andere? Ich kenne keine - außer solche komischen, die einem einreden wollen, dass man keinen Sex haben soll, oder wenn doch, dass man dann auch Kinder bekommen soll."

Im Ernst gesprochen ist es natürlich sehr verständlich, dass eine Aufklärungsbroschüre für Teenager ihre Leser nicht dazu ermutigen will, Kinder zu bekommen. Dennoch gibt es zu denken, wenn Sexualerziehung den Eindruck vermittelt, der Umstand, dass Geschlechtsverkehr zu einer Schwangerschaft führen kann, sei ein zu vermeidendes Übel. Papst Franziskus schreibt:
"Häufig konzentriert sich die Sexualerziehung auf die Einladung, sich zu 'hüten', und für einen 'sicheren Sex' zu sorgen. Diese Ausdrücke vermitteln eine negative Haltung gegenüber dem natürlichen Zeugungszweck der Geschlechtlichkeit, als sei ein eventuelles Kind ein Feind, vor dem man sich schützen muss. So wird anstatt einer Annahme die narzisstische Aggressivität gefördert." (AL 283) 
-- Kehren wir zurück zur Comic-Handlung: Zwei Tage nach dem Besuch bei der Frauenärztin bekommt Lena ihre Periode und ist erleichtert, dass sie demnach nicht schwanger ist - "Die Pille danach hat also gewirkt". -- Über die "Pille danach" hat das Heft seine Leser bereits in der Info-Rubrik "Was kann man tun, wenn man glaubt, schwanger zu sein?" informiert - wenn auch nicht darüber, wie genau dieses Medikament eigentlich wirkt, so doch immerhin darüber, dass es innerhalb von 72 Stunden nach dem Geschlechtsverkehr eingenommen werden muss, dass die Wirkung umso sicherer ist, je weniger Zeit zwischen Geschlechtsverkehr und Einnahme verstreicht, und dass es "nur für Notfälle gedacht" ist und "niemals als regelmäßiges Verhütungsmittel benutzt werden" sollte. -- Lena jedenfalls ist happy, dass die Hormonkeule sie von ihrer größten Sorge befreit hat; von der Möglichkeit, dass sie sich mit einer Geschlechtskrankheit angesteckt haben könnte, ist keine Rede mehr. Sie ruft Colin an, um ihm die gute Nachricht mitzuteilen; am Nachmittag besucht er sie und bringt ihr "ein großes Sortiment an verschiedenen Kondomen" mit: "Damit du lange Zeit welche hast. Und nicht mehr so'n Mist wie letztes Wochenende baust!" Merke: Das nächste Date Rape kommt bestimmt. Und schließlich fand sie's "ja ganz schön". Und mit den tollen Kondomen von Colin wird's in Zukunft bestimmt noch schöner: "Puh, da hat mir Colin ja ein Riesensortiment an Gummis mitgebracht", teilt Lena dem Leser auf der letzten Infoseite des Hefts mit. "In den verschiedensten Farben, mit und ohne Geschmack, mit Noppen und Rillen, extra groß, extra feucht, extra dünn und gefühlsintensiv, extra reißfest und und und... Ist schon der Wahnsinn, wie viele Sorten es gibt. Da ist wirklich für jeden was dabei!" Schon frappierend, wie unverhohlen der Sponsor der Publikation hier seine Produktpalette anpreist. Dass Lena auf dem dazugehörigen Bild besonders kindlich aussieht, scheint den Herausgebern keine Kopfschmerzen zu bereiten.

Würden Sie diesem Mädchen bunte Kondome mit Geschmack, Noppen und Rillen schenken? 
Zitieren wir an dieser Stelle abermals Amoris Laetitia:
"Eine Sexualerziehung, die ein gewisses Schamgefühl hütet, ist ein unermesslicher Wert [...]. Es ist eine natürliche Verteidigung des Menschen, der seine Innerlichkeit schützt und vermeidet, zu einem bloßen Objekt zu werden. Ohne Schamhaftigkeit können wir die Zuneigung und die Sexualität zu Formen von Besessenheit herabwürdigen, die uns nur auf den Geschlechtsakt konzentrieren, auf Krankhaftigkeiten, die unsere Liebesfähigkeit entstellen, und auf verschiedene Formen sexueller Gewalt, die uns dazu führen, unmenschlich behandelt zu werden oder andere zu schädigen." (AL 282) 
Der Rest der Comic-Handlung ist schnell erzählt: Als Lena es endlich wagt, Colin ein Liebesgeständnis zu machen, reagiert dieser erst einmal verwirrt und ergreift die Flucht. "Hab ich jetzt meinen besten Freund verloren???", sorgt sich Lena, aber am nächsten Schultag gibt es dann doch ein Happy End für sie und Colin - das übrigens punktgenau mit Lenas Tagtraum vom Beginn des 1. Kapitels übereinstimmt, was Autorin Stefanie Wollgarten bestimmt für ein ganz raffiniertes kompositorisches Stilmittel hielt. 

-- Was sollen wir nun hierzu sagen? Erinnern wir uns noch einmal an das Vorwort, in dem es hieß: "In diesem Comic findest du eine Menge Infos über die erste Liebe [...] und auch darüber, wie wichtig es ist, Verantwortung zu übernehmen." 60 Seiten später lautet der Befund: Mit "Liebe" meinen die Macher des Hefts "Sex", und mit "Verantwortung" meinen sie "ein Kondom benutzen". That's all, folks. Da bietet ja jeder durchschnittliche BRAVO-Fotoroman mehr moralische Orientierung für die geplagte Teenagerseele! (Was mich übrigens daran erinnert, dass ich darüber - also über BRAVO-Foto-Love-Storys - auch mal etwas schreiben wollte. Na, kommt noch.) -- Wie schreibt Papst Franziskus so treffend: 
"Es ist schwierig, in einer Zeit, in der die Geschlechtlichkeit dazu neigt, banalisiert zu werden und zu verarmen, eine Sexualerziehung zu planen. Sie könnte nur im Rahmen einer Erziehung zur Liebe, zum gegenseitigen Sich-Schenken verstanden werden." (AL 280) 
Wenn man bedenkt, dass dieses Condomi-Comic offenkundig als Material im schulischen Sexualkundeunterricht eingesetzt wurde und wird; wenn man weiterhin bedenkt, dass es schon zehn Jahre alt ist und es inzwischen, auch dank einschlägiger "Bildungspläne", sicherlich noch ganz andere Materialien für den schulischen Sexualkundeunterricht gibt; dann kann man bei dem Gedanken, früher oder später selbst Kinder im schulpflichtigen Alter zu haben, einigermaßen ins Grübeln kommen. Wird es möglich sein, die eigene, außerschulische Sexualerziehung so einzurichten, dass man der Schule immer einen Schritt voraus ist? Oder wäre Auswanderung in ein Land, in dem Homeschooling legal ist, doch die bessere Lösung? -- Lassen wir diese Frage erst einmal im Raum stehen - und erteilen abschließend noch einmal Papst Franziskus das Wort: 
"Es ist unverantwortlich, die Jugendlichen einzuladen, mit ihrem Körper und ihren Begierden zu spielen, als hätten sie die Reife, die Werte, die gegenseitige Verpflichtung und die Ziele, die der Ehe eigen sind. Auf diese Weise ermutigt man sie leichtsinnig, den anderen Menschen als Objekt von Kompensationsversuchen eigener Mängel oder großer Beschränkungen zu gebrauchen. Es ist hingegen wichtig, ihnen einen Weg aufzuzeigen zu verschiedenen Ausdrucksformen der Liebe, zur gegenseitigen Fürsorge, zur respektvollen Zärtlichkeit, zu einer Kommunikation mit reichem Sinngehalt. Denn all das bereitet auf ein ganzheitliches und großherziges Sich-Schenken vor, das nach einer öffentlichen Verpflichtung seinen Ausdruck findet in der körperlichen Hingabe. So wird die geschlechtliche Vereinigung als Zeichen einer allumfassenden Verbindlichkeit erscheinen, die durch den ganzen vorangegangenen Weg bereichert ist." (AL 283) 


Samstag, 16. April 2016

Gluten und Kommunion

In einem Kommentar zu einem meiner neueren Blogartikel wurde mir unlängst der folgende Fall geschildert: 

"Meine Nichte war letzthin empört darüber, zu hören, dass ihre Tochter, die an einer schweren Zöliakie leidet, wohl nicht zur Kommunion gehen könne anlässlich der Erstkommunion des kleineren Bruders. Denn sie bekam etwa folgende Auskunft:
'In der römisch-katholischen Kirche muss die Hostie aus ungesäuertem Weizenbrot hergestellt werden. Abgeleitet wird dies aus dem biblischen Zeugnis, dass Jesus beim letzten Abendmahl wahrscheinlich Weizen- oder Gerstenbrot verwendet habe. Hostien, die demnach keinerlei Gluten enthalten (also kein Weizenmehl), gelten nach der römischen Glaubenskongregation als „ungültige Materie“ für die Eucharistie.'
Also unter 100ppm Gluten ist leider keine Transsubstantiation möglich. Was für ein Quatsch...
Auf Nachfrage wurde sie mit einem kaltschnäuzigen 'Dann hat sie halt ein bisschen Bauchweh' abgefertigt. Danach war sie mit der Kirche durch."  

Die Sache gab mir zu denken, nicht nur wegen des Ergebnisses, dass die betroffene Person infolge dieses Erlebnisses "mit der Kirche durch" war. Auch wenn es anscheinend recht verbreitet ist, über Lebensmittelunverträglichkeiten zu spotten, ist Zöliakie schließlich keine Lappalie, sondern kann zu schweren Darmschädigungen führen. Laut Schätzungen sind in Deutschland rund 0,2-0,4% der Bevölkerung von Zöliakie betroffen; geht man davon aus, dass hierzulande etwa 2,5 Millionen Katholiken regelmäßig die Heilige Messe besuchen, dann hieße das, dass allsonntäglich ca. 5.000 bis 10.000 Menschen aus gesundheitlichen Gründen nicht zur Kommunion gehen können. Ist das tatsächlich so? 

Kompetente und differenzierte Antworten auf diese Frage erhielt ich wenige Tage später im Zuge einer Diskussion auf Facebook. Richtig ist, dass Hostien, um nach katholischem Verständnis als gültige Materie für das Sakrament der Eucharistie zu gelten, immer aus Weizenmehl bestehen müssen (vgl. die Instruktion Redemptionis Sacramentum, Nr. 48) und somit nicht völlig glutenfrei sein können. Sehr wohl gibt es jedoch glutenreduzierte Hostien, die nach Einschätzung medizinischer Fachleute auch für die meisten Menschen mit Zöliakie verträglich sein sollten; und diese Hostien werden auch von der Kirche als zulässig anerkannt. Es gibt dazu ein Rundschreiben der Glaubenskongregation vom 24.07.2003, für das der damalige Präfekt Kardinal Ratzinger verantwortlich zeichnet. Für diejenigen, die überhaupt kein Gluten vertragen, sieht das Schreiben die Möglichkeit vor, nur die Kelchkommunion zu empfangen (dasselbe Schreiben behandelt auch die Frage der Zulässigkeit von Traubensaft für die Kelchkommunion).  

Nun kann man vermutlich davon ausgehen, dass Kirchengemeinden, in denen nicht regelmäßig Personen mit Zöliakie zur Kommunion gehen (wollen), solche glutenreduzierten Hostien nicht unbedingt vorrätig haben, sondern sie auf Anfrage erst besorgen müssen. Es mag sein, dass es im oben geschilderten Fall am Willen dazu gemangelt hat - oder vielleicht auch am Wissen. In jedem Fall ist die Aussage "Dann hat sie halt ein bisschen Bauchweh" schlicht unsensibel und blöde. Selbstverständlich ist so etwas ärgerlich, und wenn es dazu führt, dass Menschen sich deshalb von der Kirche abwenden, ist es mehr als ärgerlich. Nicht umsonst wird im Katechismus der Katholischen Kirche, Nr. 29, unter den Dingen, die viele Menschen von der Kirche, vom Glauben und somit letztlich von Gott fernhalten, auch "schlechtes Beispiel der Gläubigen" aufgeführt. 

Gleichzeitig kann man sich natürlich fragen, ob es verhältnismäßig ist, wegen eines solchen Vorfalls gleich ganz und gar mit der Kirche zu brechen und somit quasi die Kirche als Ganze für die "Kaltschnäuzigkeit" einer einzelnen Person verantwortlich zu machen. Letztlich hat man es in der Kirche eben auch immer mit Menschen zu tun, die ihre Fehler und Unzulänglichkeiten haben, und das ist ja in gewissem Sinne auch gut so - denn würde die Kirche nur aus perfekten Heiligen bestehen, wie fände man selber als kleiner Sünder dann seinen Platz in ihr? -- Aber der geschilderte Fall wirft noch weitere Fragen auf. Anlass für den Konflikt war offenbar die Erstkommunion des kleinen Bruders des unter Zöliakie leidenden Mädchens. Wie war es denn bei ihrer eigenen Erstkommunion? Wurde die Zöliakie erst später diagnostiziert? Kann ja sein. Wie viele Jahre sind seitdem vergangen? Ist sie in der Zwischenzeit nie zur Kommunion gegangen, bei der Erstkommunion des kleinen Bruders wollte sie aber unbedingt? Weil's dazugehört? - Ich kenne die betreffenden Personen nicht und kann daher nur spekulieren. Allgemein gesprochen jedenfalls ist die Erstkommunion auch in solchen katholischen Familien, die ansonsten eher wenig "mit der Kirche am Hut" haben, oft ein Anlass für ein großes Familienfest. Papst Franziskus nennt in seinem kürzlich erschienenen Schreiben Amoris Laetitia, Nr. 230,  die Erstkommunion eines Kindes als eine jener Gelegenheiten, bei denen Ehepaare, die "nach der Hochzeit aus der christlichen Gemeinde verschwinden", wieder 'aufzutauchen' pflegen, und mahnt, dass solche Gelegenheiten "besser genutzt werden könnten", um diesen Familien "das Ideal der christlichen Ehe auf anziehende Weise erneut nahe[zu]bringen und sie mit Formen der Begleitung in Kontakt [zu] bringen". Das ist im vorliegenden Fall natürlich gründlich in die Hose gegangen, aber darauf wollte ich jetzt gar nicht hinaus. Sondern vielmehr darauf, dass es bei Erstkommunionfeiern vermutlich weithin als normal gilt, dass die Familie des Erstkommunionkindes ebenfalls zur Kommunion geht. Wenn es sich dabei um Familien handelt, die außerhalb solcher besonderer Anlässe keine oder kaum eine lebendige Glaubenspraxis haben, ist das allerdings nicht unbedingt eine gute Idee, denn ein vertieftes Verständnis des Sakraments der Eucharistie kann in solchen Fällen wohl nicht vorausgesetzt werden. Da besteht dann die Gefahr, dass der Kommunionempfang als etwas wahrgenommen wird, das zum Gottesdienstbesuch einfach irgendwie dazugehört und darüber hinaus keine tiefere Bedeutung hat. Dafür wird man Kinder kaum verantwortlich machen können oder wollen; möglicherweise aber die Eltern - und die Katecheten, die mit der Erstkommunionvorbereitung betraut sind. Der Empfang der Kommunion ist schließlich nichts, worauf irgend jemand ein Recht hätte - das Bekenntnis, dass niemand von sich aus würdig dazu ist, ist nicht umsonst fester Bestandteil des Ritus der Kommunionspendung. Dafür, die Kommunion nicht empfangen zu können, gibt es ja noch ganz andere Gründe als Lebensmittelunverträglichkeit; das war schließlich ein heißes Thema der beiden Bischofssynoden von 2014 und 2015, bzw. vor allem der öffentlichen Debatten rund um den synodalen Prozess. 

Man hat manchmal den Eindruck - womit ich niemandem zu nahe treten will, auf den das nicht zutrifft -, dass Viele, die aus verschiedenen Gründen nicht zur Kommunion gehen können, das Hauptproblem dieser Situation darin sehen, dass sie sich zurückgesetzt, ja diskriminiert fühlen, wenn sie in der Bank sitzen bleiben müssen, während alle Anderen an den Altar treten. Darum geht es aber nicht, bzw. darum sollte es nicht gehen. Wohl wahr, communio heißt "Gemeinschaft"; gemeint ist damit aber nicht in erster Linie die Gemeinschaft der Gottesdienstbesucher untereinander, sondern die Gemeinschaft mit Christus, die dann natürlich wiederum auch die Glieder der Kirche zu einem Leib verbindet - Seinem Leib

Papst Franziskus betont gern, die Eucharistie sei "nicht eine Belohnung für die Vollkommenen, sondern ein großzügiges Heilmittel und eine Nahrung für die Schwachen" (Apostolisches Schreiben Evangelii Gaudium, Nr. 47; auch zitiert in Amoris Laetitia, Fußnote zu Nr. 305); und natürlich hat er da Recht. Was aber ist mit denen, die sich die Kommunion gewissermaßen "ertrotzen" wollen - die sich selbst nicht als schwach und die Eucharistie nicht als Heilmittel ansehen, sondern einfach als etwas, das ihnen zusteht? -- Hier gilt es natürlich gründlich zu unterscheiden. Wenn Menschen ein inniges Bedürfnis danach haben, den Leib Christi zu empfangen, jedoch aus inneren oder äußeren Gründen daran gehindert sind, dann ist es tatsächlich eine pastorale Aufgabe für die Kirche, dafür gemeinsam mit den Betroffenen eine Lösung zu finden. (Hier wäre zum Beispiel über die geistige Kommunion zu sprechen, von der viele Menschen wahrscheinlich noch nie etwas gehört haben.) Wenn es ihnen jedoch nur darum geht, zur Kommunion gehen zu dürfen, weil es die Anderen ja auch tun, dann ist es eine katechetische Aufgabe, ihnen zu vermitteln, worum es beim Kommunionempfang eigentlich geht - und worum nicht



Dienstag, 12. April 2016

Gilmoris Laetitia

Gut drei Wochen ist es her, dass ich die alte Braunsche Röhre in der Wohnung meiner Liebsten angeschlossen habe; und ich kann zu Protokoll geben: Fernsehsüchtig sind wir seither beide nicht geworden. Tatsächlich bleibt der Kasten oft tagelang kalt - denn oft dient die Programmzeitschrift in erster Linie dazu, uns vor Augen zu führen, was es so alles gibt, das wir ganz entschieden nicht sehen wollen. Und wenn tatsächlich mal etwas kommt, das anzuschauen vielleicht ganz nett und interessant wäre, man aber zu der Zeit doch irgendwie gerade was Anderes zu tun hat, ist das in der Regel auch nicht schlimm. 

Neulich allerdings lief im Disney Channel eine Doppelfolge der Serie Gilmore Girls, und die wollte meine Liebste gern sehen. Also schaute ich mit. -- Als diese Serie erstmals ins deutsche Fernsehen kam, war ich Ende Zwanzig und glaubte nicht zu ihrer Zielgruppe zu gehören. Alles, was ich über die Gilmore Girls wusste, war, dass es da um eine junge, etwas flippige alleinerziehende Mutter und ihre Teenager-Tochter geht, die gemeinsam die Herausforderungen des Lebens meistern und dabei sehr viel Kaffee trinken. Muss ich mir nicht ansehen, dachte ich. Ich erwartete eine oberflächlich glorifizierende Darstellung eines "freundschaftlichen" Mutter-Tochter-Verhältnisses "auf Augenhöhe", mit der Botschaft, das so etwas ja viel besser sei als "traditionelle" Familienkonzepte. 

Die Doppelfolge im Disney Channel gefiel mir dann aber überraschenderweise doch recht gut; meine Liebste jedoch, die die Serie schon von früher her kannte, war entzückt und beschloss kurzerhand, bei einer Online-Videothek gleich die ganze erste Staffel zu kaufen. Um die Serie noch einmal schön von Anfang an zu schauen. Mit mir. Inzwischen haben wir die Staffel fast durch - in Etappen von jeweils so ungefähr drei Episoden an einem Abend. Und siehe da, ich mag die Serie. Ich mag sie sehr

Ort des Geschehens ist eine gleichermaßen malerische wie skurrile Kleinstadt im US-Bundesstaat Connecticut - ein Dorf eigentlich, wo jeder jeden kennt - voller skurriler und eigentümlich sympathischer Charaktere; die Dialoge sind witzig und intelligent, und insgesamt zeichnen sich die Gilmore Girls durch so eine typisch amerikanische Mischung aus Humor und Warmherzigkeit aus, die deutsche TV-Produktionen so einfach nicht hinkriegen. Das Interessanteste an der Serie ist aber tatsächlich die Familiensituation der Gilmores. Zu Beginn der Handlung ist Mutter Lorelai Gilmore 32 und ihre Tochter Rory 16 - wer rechnen kann, ist klar im Vorteil. Lorelai hat ihre Tochter allein aufgezogen und hat sich gleichzeitig zur Geschäftsführerin eines Hotels hochgearbeitet; Rory ist ein ausnehmend kluges, vernünftiges und verantwortungsbewusstes Mädchen, und beide haben ein sehr herzliches Verhältnis zueinander. Die Handlung der Serie setzt damit ein, dass Rory zur Vorbereitung aufs College auf eine teure und exklusive Privatschule gehen will, Lorelai sich aber das Schulgeld nicht leisten kann. Und hier kommen nun die Großeltern ins Spiel - Lorelais wohlhabende und stockkonservative Eltern, mit denen sie sich einst wegen ihrer unzeitigen Schwangerschaft zerstritten hat. Lorelais Mutter Emily erklärt sich bereit, das Schulgeld für ihre Enkelin zu bezahlen - unter der Bedingung, dass Lorelai und Rory sie jeden Freitag zum Dinner besuchen. Da prallen zwei Welten aufeinander - wenngleich sich bald zeigt, dass Rory sich mit ihren Großeltern ziemlich gut versteht, was Lorelai zunächst erheblich irritiert. 

Zwischen Lorelai und ihren Eltern gibt es natürlich eine ganze Menge aufzuarbeiten - nachdem die Tochter damals, 16 Jahre alt und schwanger, mit ihrer Familie gebrochen und sich ein eigenes Leben aufgebaut hat. Die Art und Weise, wie die Serie diesen Konflikt und die daraus bei allen Beteiligten resultierenden Verletzungen thematisiert, ist wirklich bemerkenswert. Mehrfach im Verlauf der ersten Staffel wird explizit und ausführlich angesprochen, dass es einerseits niemand - nicht Lorelais Eltern, nicht der Kindsvater und dessen Eltern und auch nicht sie selbst - gut fand, dass sie so früh (und unehelich) schwanger wurde, daraufhin die Schule abbrechen musste etc.; das zeigt sich u.a. auch darin, dass Lorelai ihre Tochter nach Kräften davor bewahren will, dass es ihr ähnlich ergehen könnte. Gleichzeitig sind aber nun, 16 Jahre später, alle Beteiligten ausgesprochen glücklich und froh darüber, dass es Rory gibt. Rein logisch betrachtet ist das ein Paradox - das sich nur auflösen lässt durch Liebe. Daran musste ich denken, als ich gestern in meiner Lektüre des vieldiskutierten nachsynodalen Schreibens Amoris Laetitia von Papst Franziskus in Kapitel 5 - "Die Liebe, die fruchtbar wird" - ankam und die Zeilen las: 
"Die Familie ist nicht nur der Bereich der Zeugung, sondern auch der Annahme des Lebens, das ihr als Geschenk Gottes begegnet. Jedes neue Leben gestattet uns, »die unentgeltliche Dimension der Liebe zu entdecken, die nie aufhört, uns in Staunen zu versetzen. Es ist die Schönheit, zuerst geliebt zu sein: Die Kinder werden schon geliebt, bevor sie ankommen.« [...]
Wenn ein Kind unter nicht beabsichtigten Umständen zur Welt kommt, müssen die Eltern oder andere Familienmitglieder alles ihnen Mögliche tun, um es als Geschenk Gottes zu bejahen und um die Verantwortung zu übernehmen, es mit Offenheit und Wohlwollen anzunehmen." (AL 166)
Ein Kind, so erinnert uns Papst Franziskus hier, ist immer und unter allen Umständen ein Geschenk Gottes - von Anfang an geliebt von Dem, Der es "gewoben [hat] im Schoß [s]einer Mutter" (Psalm 139,13). "Jedes Kind liegt Gott von jeher am Herzen, und in dem Moment, in dem es empfangen wird, erfüllt sich der ewige Traum des Schöpfers" (AL 168). Und darum verdient es jedes Kind, auch von seiner irdischen Familie von Anfang an geliebt zu werden. Auch wenn es ungelegen kommt, wenn es Schwierigkeiten bereitet (im Ernst: Welches Kind täte das nicht, auf die eine oder andere Weise?) - "ob es deinen Plänen und Träumen entspricht oder nicht" (AL 170); auch dann, wenn es ganze Lebenspläne über den Haufen wirft -- und, wohlgemerkt, auch dann, wenn es in (im Sinne der katholischen Sittenlehre) irregulären Situationen gezeugt und geboren wird. Auch wenn wir Menschen in unserem Leben krumme Zeilen ziehen, kann Gott darauf gerade schreiben. Das zeigt die Serie Gilmore Girls - auch wenn darin selten explizit von Gott die Rede ist - sehr schön und eindringlich. 


Sonntag, 10. April 2016

Konversion? - Ja klar, was denn sonst!

Lieber Jochen,

Du schriebst mir neulich, mit Deinen kritischen Nachfragen und Anmerkungen zu einem meiner jüngsten Beiträge habest Du beabsichtigt, einen "Einblick in die dunkelkatholische Seele zu bekommen". Diesem Wunsch komme ich weiterhin gern entgegen; nachdem die Diskussion im Kommentarfeld aber einen Umfang und eine Komplexität erreicht hat, die sie etwas unübersichtlich machen, denke ich mir, ich widme dieser Auseinandersetzung lieber einen eigenen Artikel. Ich bin auch gerade in der perfekten Stimmung dazu, nachdem ich gestern Abend beim "Nightfever" war - Rosenkranzgebet, Vorabendmesse, Eucharistische Anbetung und Komplet, alles in allem rund fünf Stunden. Nun fühle ich mich seelisch so ausgeglichen wie selten, und ich glaube, das ist eine gute Voraussetzung, um dieses Thema anzugehen. 

Ich habe eine Weile überlegt, wie ich meine Antwort aufbauen soll - ob ich mit den Detailfragen anfange und mich von da aus zum Grundsätzlichen vorarbeite oder ob ich umgekehrt vorgehe. Schließlich habe ich mich für die letztere Methode entschieden. Der bisherige Verlauf der Diskussion mit Dir hat mir - und dafür bin ich Dir dankbar - ins Bewusstsein gerufen, was ich sonst allzu leicht zu vergessen oder zu ignorieren versucht bin: dass es letztlich unbefriedigend bleibt, über Glaubensfragen auf einer rein theoretischen, unpersönlichen Ebene zu sprechen. 

Werden wir also persönlich! (Du wirst bemerkt haben, dass sich das in meinen beiden letzten Antworten auf Deine Kommentare bereits abgezeichnet hat.) "Das Eigentliche des Glaubens ist der Akt der Entscheidung zum Glauben" - so fasst Du meine vorletzte Wortmeldung in unserer Diskussion zusammen, und Du hast Recht, ich habe das tatsächlich so gemeint, wie Du es verstanden hast - ungefähr so zumindest (denn möglich wird diese Entscheidung ja erst durch Gnade, aber an dem Punkt waren wir ja schon). Du sprichst in diesem Zusammenhang von "Lebensübergabe" und "Unterwerfung"; dass Du das "künstlich, gewollt, pathetisch" findest, nehme ich erst mal so hin - dazu vielleicht später mehr. "Es ist eine Konversion", stellst Du fest; "und Konvertiten sind bekanntlich besonders pingelig". 

Da berührst Du einen sehr interessanten Punkt. Unter den Menschen aus dem "dunkelkatholischen Echoraum", die ich persönlich näher kenne, sind tatsächlich auffallend viele Konvertiten in dem Sinne, dass sie früher einmal anderen Glaubensgemeinschaften angehört haben, oder auch solche, die in einem atheistischen oder agnostischen Umfeld aufgewachsen sind und bis ins Erwachsenenalter hinein konfessionslos waren. Es trifft sicher zu, dass solche Konvertiten oft (wenngleich nicht immer) einen besonderen Eifer für ihren neuen Glauben an den Tag legen, auch und gerade für solche Aspekte, die für ihre neue Konfession spezifisch sind und sie von anderen Glaubensrichtungen unterscheiden. Gleichzeitig bringen sie aber (natürlich!) auch die Erfahrungen aus ihrer anders- oder nichtgläubigen Vergangenheit in ihre neue Glaubensgemeinschaft mit. Dazu wird noch mehr zu sagen sein, aber ich will hier ja nicht in erster Linie über andere Menschen sprechen, sondern über mich. In meinem Fall ist die "Konversion" eher eine "Rückkehr" gewesen: Nachdem ich im Säuglingsalter katholisch getauft wurde und sehr "kirchennah" aufgewachsen bin, kam ich in meinen späten Teenagerjahren, wie so viele Menschen nicht nur meiner Generation, an den Punkt, dass ich von der Kirche, so wie ich sie wahrnahm, gründlich die Schnauze voll hatte und auch mit vielen ihrer Glaubenslehren wenig anfangen konnte. Diese Phase zog sich eine ganze Weile hin - mit einigen Auf-und-ab-Bewegungen, aber im Endergebnis kann man wohl sagen, dass ich, in den Bildern des bekannten Gleichnisses ausgedrückt, jahrelang mein Erbteil verprasst und Schweine gehütet habe. Im Tiefsten habe ich dabei aber immer gewusst oder geahnt, dass der Weg zurück zum Vaterhaus jederzeit offen steht, wenn ich nur bereit bin, ihn zu gehen - und dass ich, wenn ich heimkomme, in ein Festgewand gekleidet werde. 

Natürlich trage ich unter diesem Festgewand auch heute noch die Spuren aus der Zeit des Schweinehütens. Ebenso wie jeder Konvertit - ich sagte es bereits - die Erfahrungen aus der Zeit vor seiner Konversion unweigerlich in sein neues Glaubensleben mitbringt. Konversion ist eben, anders als Außenstehende zuweilen meinen und behaupten, keine Gehirnwäsche. -- Das bringt mich übrigens auf das, was Du als "sacrificium intellectus" bezeichnest. Der Begriff gefällt mir tatsächlich ganz gut, aber es kommt natürlich darauf an, wie man ihn versteht. Ich kann sagen, dass ich die Lehre der Katholischen Kirche auch und nicht zuletzt intellektuell weit anregender und befriedigender finde als jede andere Philosophie oder Weltanschauung, die mir bisher so begegnet ist (die Lektüre einiger Werke von Joseph Ratzinger - damals schon, aber gerade erst seit Kurzem, Papst Benedikt XVI. - hat sehr erheblich zu meiner "Konversion" beigetragen); gleichzeitig ist es aber auch wahr, dass der Intellekt ein Hindernis auf dem Weg zum Glauben sein kann - nämlich dann, wenn man sich allzu viel auf ihn einbildet. Ich denke, Du kennst mich gut genug, um zu verstehen, was ich meine, wenn ich sage, dass das eine Versuchung ist, die ich aus eigener Erfahrung sehr gut kenne. Der uns beiden bekannte Pfarrer Bögershausen hat mich nach meiner mündlichen Abiturprüfung vor dieser Versuchung gewarnt, und bei aller sonstigen Kritik: Da hatte er Recht. -- Ein sacrificium, ein Opfer, bedeutet aber nicht, etwas wegzuwerfen, sondern, es Gott darzubringen. Oder, etwas weniger hochtrabend ausgedrückt: es Ihm zur Verfügung zu stellen. Bildlich gesprochen bedeutet "sacrificium intellectus" also nicht, dass man seinen Verstand an der Kirchentür zurücklässt, sondern dass man ihn an die Stufen des Altars trägt und Gott zu Füßen legt. Auf dass Er daraus macht, was Ihm gefällt und was in Seinem Sinne ist. Ja, Du hast Recht: Das ist eine "Lebensübergabe". Das ist eine "Unterwerfung". Und das ist nicht einfach. Das ist auch nichts, was man ein für allemal tut und dann für den Rest seines Lebens damit fertig ist. Es ist ein Prozess, der immer neue Anläufe braucht. 

Du magst das gruselig finden; das kann ich Dir nicht verübeln. Aber anders ist kein Christsein möglich. Das sage nicht ich, das sagt Der, Der es am besten wissen muss: Jesus Christus. "Wenn ihr nicht umkehrt [...], könnt ihr nicht in das Himmelreich kommen" (Matthäus 18,3). Christsein setzt per definitionem "conversio", d.h. "Umkehr", "Be-kehrung", voraus. Deshalb muss ich Dir auch vehement widersprechen, wenn Du - wenn auch in einem etwas anderen Zusammenhang - sagst "Es gibt kein Zurück". Doch, das gibt es, und das muss es auch geben. Wenn man auf einem falschen Weg ist, muss man umkehren. Zu behaupten, das sei nicht möglich, würde darauf hinauslaufen, dass jemand, der auf einen Abgrund zugeht, gar keine andere Wahl hätte, als früher oder später hineinzustürzen. 

Nun habe ich bereits eingeräumt, dass Du das "Es gibt kein Zurück" vermutlich etwas anders gemeint hast. Die Zeit zurückdrehen, in dem Sinne, dass man versuchen wollte, einen früheren Zustand wiederherzustellen, das geht tatsächlich nicht. Das wäre auch gar nicht wünschenswert, denn so gut ist es früher auch nicht gewesen - auch nicht, wie Du richtig sagst, in "vorkonziliarer" Zeit. Ich will auch nicht vor das II. Vaticanum zurück, und ich kenne annähernd niemanden, der das ernsthaft will. Gleichwohl halte ich es für unbestreitbar, dass sich seit dem jüngsten Konzil - und zwar, meinem Verständnis nach, nicht infolge der Umsetzung, sondern vielmehr der mangelhaften Umsetzung seiner Beschlüsse - Fehlentwicklungen, Irrwege in der landläufigen Glaubensauffassung und -praxis etabliert haben, die eine Umkehr dringend erforderlich erscheinen lassen. Wie gesagt: nicht im Sinne des Versuchs einer Wiederherstellung früherer Zustände, aber im Sinne einer Rückbesinnung darauf, was das Konzil eigentlich gewollt hat. 

Du sagst ja selbst, auch Du seist "tief besorgt über den Verfall religiöser Substanz beim 'Volk Gottes'". Allerdings meinst Du: "Dagegen helfen allerdings weder Weihrauch, buchstabengetreue Messen etc.". Da frage ich mich erst einmal: Woher willst Du das wissen? Wie kann man das wissen, solange man es nicht einmal probiert? -- Im Ernst: Diese Dinge allein werden sicherlich nicht die Lösung aller Probleme sein. Aber wenn liturgische Vorschriften mit einer solchen Beliebigkeit und Nachlässigkeit behandelt werden, wie das landauf, landab vielerorts zu beobachten ist, dann ist das nicht zuletzt auch ein Symptom für ein weit tiefer liegendes Problem, oder sogar mehrere. Zum Teil scheint mir aus einer allzu freihändig gehandhabten Liturgie mangelnde Ehrfurcht vor den Sakramenten zu sprechen, die auf einen mangelnden Glauben an ihre Wirksamkeit schließen lässt. Selbst wenn der Zelebrant das gar nicht so meint, kann es doch die Gemeinde in diese Richtung beeinflussen. Darüber hinaus bin ich der Ansicht, wenn jemand meint, er könne die Liturgie nach eigenem Gusto gestalten und abwandeln, spricht daraus - selbst wenn es in bester Absicht geschieht, z.B. mit dem Ziel, den Gottesdienst für die Gemeinde "verständlicher" oder "interessanter" zu machen, kurz gesagt also, "die Leute da abzuholen, wo sie stehen" - ein eklatanter Mangel an Demut

Und das betrifft nicht allein die Liturgie der Heiligen Messe. Nehmen wir mal das von Dir angesprochene Thema "Priesterkragen". Ja, da bin ich "pingelig". Aber das ist nicht bloß eine ästhetische Geschmacksfrage. Zugegeben, ich finde Soutanen schick und finde es schade, dass man sie hierzulande so selten sieht. Aber so weit würde ich dann doch nicht gehen, anderen Leuten meinen Kleidungsgeschmack aufzuzwingen. -- Der Sinn der Vorschrift, dass Priester, wenn sie sich in der Öffentlichkeit bewegen, priesterliche Kleidung tragen sollen, besteht zunächst einmal darin, dass sie jederzeit als Priester erkennbar sein sollen; so wie Oberwachtmeister Dimpfelmoser im 2. Band des Räuber Hotzenplotz sagt (sinngemäß aus dem Gedächtnis zitiert): "Im Dienst trägt man Uniform, und ich bin, wie man weiß, immer im Dienst". Nun gäbe es natürlich theoretisch verschiedenste Möglichkeiten, dies sicherzustellen - meinetwegen z.B. Hemden oder Jacken mit dem Aufdruck "Priester" auf dem Rücken oder auf der Brusttasche (auch wenn ich das nicht schön fände). Aber es gibt nun einmal Vorschriften darüber, was priesterliche Kleidung ist und was nicht; und einem Priester, der willkürlich gegen diese Vorschriften verstößt, mangelt es offensichtlich an Gehorsam. -- Zugegeben, Gehorsam gilt heutzutage nicht mehr als besonders cool - gehört aber nun mal zu den Dingen, die ein Priester bei seiner Weihe verspricht. Und wenn ich einem Priester nicht einmal darin vertrauen kann, dass er sich nach bestem Vermögen an seine Weiheversprechen hält - wie soll ich ihm dann in irgend etwas Anderem vertrauen? 

Du siehst, auch die Detailfragen führen letztlich immer wieder zum Grundsätzlichen zurück. Und dieses Grundsätzliche ist eben, dass Glaube, wenn er nicht theoretisch und abstrakt bleiben soll, Hingabe bedeutet. Du meinst, das sei etwas, womit man "immer nur kleine Gruppen" erreichen könne. Ich weiß nicht, ob das stimmt. Aber wenn es stimmt, dann sind gerade diese kleinen Gruppen bitter nötig für die Kirche (und die Gesellschaft) als Ganze. Wir Christen sind schließlich dazu aufgerufen, der Sauerteig zu sein, der das Ganze durchsäuert (Matthäus 13,33). Das Salz der Erde (Matthäus 5,13). Im Zweifel ist eine kleine Handvoll Salz immer noch besser als ein großer Sack eines undefinierbaren Pulvers, wo "Salz" draufsteht, obwohl es nicht salzig ist. -- Bei der Gelegenheit ein Wort zu Deinem Vorwurf, wir Dunkelkatholen fänden es "super, im Besitz der 'Wahrheit' zu sein": Wahrheit ist nichts, das man besitzt. Es geht nicht darum, im Besitz der Wahrheit zu sein, sondern in der Wahrheit zu sein (vgl. Johannes 8,31f., 18,37 et al.). Und zu dieser Wahrheit gehört eben auch, dass wir Sünder sind und der Barmherzigkeit Gottes bedürfen. Wir Dunkelkatholen halten uns also nicht für besser als andere Menschen. Wir wissen, dass wir schwach sind, und genau deshalb erwarten und verlangen wir von unserer Kirche, dass sie uns im Glauben stärkt - denn das ist ihr Auftrag, und nicht, dass sie mit Kalenderblattpoesie und Blumenbildchen dafür sorgt, dass wir uns gut fühlen. 

Abschließend gefragt: Woran glaubst Du eigentlich? - Will ich das wirklich wissen? - Ich bin mir nicht sicher. Aber es scheint mir einfach ein Gebot der Fairness zu sein, das zu fragen.


Herzliche Grüße 
Tobias 


P.S.: Eigentlich wollte ich noch etwas zu der Sache mit der Gluten-Unverträglichkeit und der Kommunion sagen, aber das passte nun nicht recht in den  Duktus des Texts. Vielleicht komme ich ein Andermal darauf zurück. 


Freitag, 8. April 2016

Skandal in Mississippi

Ach, der SPIEGEL. Nachdem Deutschlands meistes Nachrichtenmagazin pünktlich zu Ostern mal wieder daran erinnert hat, wie gefährlich Religionen sind (und zwar, wenn man dem knalligen Titelbild glauben darf, ganz besonders die christliche Religion), wartete das Blatt jüngst mit einer Meldung auf, deren schockierende Überschrift lautete: 


Im Teaser-Absatz las man: "Der Gouverneur des US-Bundesstaates Mississippi hat ein Gesetz unterzeichnet, das die Rechte Homosexueller massiv einschränkt." -- Echt jetzt? Kann ich mir irgendwie gar nicht vorstellen. Nun habe ich es mir allerdings seit einiger Zeit zur Gewohnheit gemacht, deutschen Medienerzeugnissen, wenn es um Nachrichten aus dem USA geht, prinzipiell kein Wort zu glauben -- jedenfalls nicht, ehe ich die Angaben mit Quellen von jenseits des Atlantik abgeglichen habe. Fragen wir also Onkel Google: 
-- Ups. Dann also doch lieber zurück zum SPIEGEL. "Phil Bryant, republikanischer Gouverneur von Mississippi, hat seine Unterschrift unter ein Dokument gesetzt, dass von vielen als pure Diskriminierung angesehen wird", weiß das Nachrichtenmagazin. Es handelt sich um die House Bill 1523, ein von beiden Kammern des Kongresses von Mississippi verabschiedetes und nun eben vom Gouverneur unterzeichnetes Gesetz mit dem Titel "Religious Liberty Accommodations Act" (etwa: "Gesetz zum Schutz der Religionsfreiheit"). Der Titel wird im SPIEGEL-Artikel übrigens nicht genannt. Laut letzterem geht es in dem Gesetz nämlich nicht um Religionsfreiheit, sondern vielmehr um "weitreichende Einschränkungen für Homosexuelle im Süden der USA". 

-- "Süden der USA" - klingelt's? Rassentrennung und so? Gerade Mississippi galt ja lange Zeit als der rassistischste aller US-Bundesstaaten. Dürfen künftig Homosexuelle in Mississippi nicht mehr aus denselben Wasserhähnen trinken wie Heterosexuelle? Könnte man denken. Auch auf der US-amerikanischen (und für dortige Verhältnisse ausgesprochen "linken") Nachrichten-Website Slate zog der Journalist Mark Joseph Stern eine derartige Parallele und bezeichnete die House Bill 1523 als "LGBTQ segregation bill"; er äußerte, das Gesetz sei "essentially an attempt to legalize segregation between LGBTQ people and the rest of society" ("im Wesentlichen ein Versuch, eine Trennung zwischen LGBTQ-Personen und dem Rest der Gesellschaft zu legalisieren") - was David Harsanyi im Federalist als "gross overstatement" ("krasse Übertreibung") bezeichnete. Doch dazu später. Was sagt denn nun der SPIEGEL konkret zum Inhalt des Gesetzes?
"Künftig dürfen private Geschäftsleute, Staatsbedienstete, Kirchen oder Wohltätigkeitsorganisationen Menschen ihre Dienste verwehren - wenn sie aus religiösen Gründen Probleme mit deren Lebensstil haben. Das ist jetzt amtlich." 
Das klingt in der Tat dramatisch. Und es wirft Fragen auf. Private, staatliche und kirchliche Einrichtungen dürfen Menschen, mit deren "Lebensstil" sie nicht einverstanden sind, "Dienste verwehren"? Welche Dienste? Etwa alle? Muss man sich demnach darauf einstellen, dass sich diverse Dienstleister im Staate Mississippi Schilder ins Fenster hängen, auf denen steht "Schwule werden hier nicht bedient"? Dann wäre der Vergleich mit der "im Süden der USA" einstmals praktizierten Rassentrennung in der Tat nicht weit hergeholt. Und das sollte, dem vom SPIEGEL verschwiegenen Titel des Gesetzes zufolge, mit Religionsfreiheit gerechtfertigt werden?

Nun, zum Glück gibt es ja dieses tolle Ding namens Informationsfreiheit, und somit kann man mit minimalem Rechercheaufwand den genauen Wortlaut des umstrittenen Gesetzes online finden. Nämlich hier. Was also steht nun wirklich drin in der House Bill 1523?

Zunächst: Ziel und Zweck des Gesetzes werden in der nun von Gouverneur Phil Bryant unterzeichneten Urkunde dahingehend definiert, Einzelpersonen, religiöse Organisationen und private Vereinigungen davor zu schützen, seitens des Staates aufgrund ihrer religiösen oder moralischen Überzeugungen diskriminiert bzw. bestraft zu werden. Laut Section 2 des Gesetzestexts betrifft dies konkret die Überzeugungen, dass 
  • Ehe als Verbindung zwischen einem Mann und einer Frau definiert ist bzw. sein sollte,
  • sexuelle Beziehungen ihren legitimen Platz in einer so verstandenen Ehe haben und 
  • dass die Begriffe "männlich"/"Mann" und "weiblich"/"Frau" sich auf das unveränderliche biologische Geschlecht bezieht, wie es zum Zeitpunkt der Geburt anatomisch und genetisch objektiv festgelegt ist. 
Wohlgemerkt, und ehe hier ein Sturm der Entrüstung ausbricht: Das Gesetz behauptet nicht, dass diese Überzeugungen richtig wären. Es erkennt lediglich an, dass es Personen (und ganze Religionsgemeinschaften) gibt, die diese Überzeugungen haben, und gesteht diesen das Recht zu, gemäß dieser Überzeugungen zu handeln. Innerhalb gewisser Grenzen jedenfalls - und diese Grenzen definiert das Gesetz ziemlich gründlich. 

Ich denke, es ist nicht nötig, dass ich hier den gesamten Gesetzestext paraphrasiere - wer es ganz genau wissen will, kann den Originalwortlaut ja selbst nachlesen -, aber ein paar Beispiele mögen einen Eindruck davon vermitteln, in welche Richtung das Ganze geht. Subsection 3,1a des Gesetzes verbietet staatliche Sanktionen gegen religiöse Organisationen, die es aufgrund der oben genannten Überzeugungen ablehnen, bestimmte Paare zu trauen oder Dienstleistungen, Räumlichkeiten etc. für Hochzeitsfeiern zur Verfügung zu stellen. Nun weiß ich ja nicht, wie es den religiös Ungebundenen unter meinen Lesern damit geht, aber ich würde behaupten, das ist nicht mehr als recht und billig. Es wäre doch bizarr, wenn beispielsweise eine katholische, griechisch-orthodoxe oder altlutheranische Kirchengemeinde vom Staat dazu gezwungen werden könnte, eine Trauung zu vollziehen, die der in ihrer Glaubenslehre verankerten Auffassung von  Ehe diametral zuwiderläuft - oder auch nur, wenn sie gezwungen werden könnte, der Hochzeitsgesellschaft einen Saal zu vermieten. Subsection 3,1b und c sichern religiösen Organisationen das Recht zu, Entscheidungen z.B. über die Einstellung oder Entlassung von Mitarbeitern oder über Verkauf, Vermietung oder Verpachtung von ihnen gehörigen Immobilien bzw. Räumlichkeiten von der Übereinstimmung der Beschäftigten, Mieter etc. mit ihren religiösen und moralischen Überzeugungen abhängig machen. Nun, sagen wir mal so: Wer eine Polyamoristen-WG aufmachen will, sollte sich dazu vielleicht nicht unbedingt ausgerechnet die Kirche als Vermieter aussuchen. Was die Einstellung oder Entlassung von Mitarbeitern angeht, mag sich der aufmerksame Beobachter an Debatten über das kirchliche Arbeitsrecht in Deutschland erinnert fühlen - und wird feststellen können, dass Subsection 3,1b der mississippianischen House Bill 1523 nicht gar so weit entfernt ist von der diesbezüglichen Rechtsprechung des deutschen Bundesverfassungsgerichts. Skandalös? - Die Einen sagen so, die Anderen so

Ab Subsection 3,3 des umstrittenen Gesetzes geht es dann nicht mehr um religiöse Organisationen, sondern um Privatpersonen. Der besagte Abschnitt legt fest, dass Adoptiv- und Pflegeeltern die ihnen anvertrauten Kindern im Einklang mit ihren religiösen und moralischen Überzeugungen erziehen dürfen. Dass das manch Einem nicht passt, kann ich mir schon vorstellen. Es dürfte nicht mehr lange dauern, bis dies auch hierzulande zu einer strittigen und umkämpften Frage wird. -- Subsection 3,4 verbietet Zwangsmaßnahmen gegen Personen, die sich aufgrund der oben genannten Überzeugungen weigern, an medizinischen Maßnahmen im Zusammenhang mit oder mit dem Ziel einer Geschlechtsumwandlung mitzuwirken. Es wird jedoch explizit klargestellt, dass aus dieser Passage des Gesetzes keine Rechtfertigung dafür abzuleiten sei, einer Person eine notwendige medizinische Behandlung zu verweigern. 

Besonders spannend, weil quasi maßgeschneidert für Fälle, über die es in jüngster Zeit in den USA allerlei heftige Kontroversen gab, sind die Abschnitte 3,5 und 3,8. In Subsection 3,5 geht es um Dienstleistungen für Hochzeitsfeiern - explizit genannt werden z.B. Fotografie, Discjockey-Dienste, die Herstellung bzw. Lieferung von Blumenschmuck, Kleidern und Backwaren, Limousinenservice und die Vermietung von Räumlichkeiten. Das Gesetz legt fest, dass niemand gezwungen werden darf, solche und ähnliche Dienste für Hochzeiten zur Verfügung zu stellen, die er aus religiöser Überzeugung ablehnt. Man könnte meinen, unabhängig von den Gründen für die Ablehnung wäre es einfach eine Angelegenheit der unternehmerischen Freiheit, wenn ein Bäcker oder Florist einen Auftrag ablehnt. Tatsächlich gab es in den letzten Jahren aber einige Fälle, in denen in verschiedenen US-Bundesstaaten massive Strafen wegen solcher Weigerungen verhängt wurden. Zum Teil wurden die betroffenen Dienstleister dadurch zur Geschäftsaufgabe gezwungen. Ist das verhältnismäßig? Wo das jeweils betroffene Braut- oder Bräutigamspaar doch auch einfach zu einem anderen Bäcker hätte gehen können, um seine Hochzeitstorte zu bekommen? Die Meinungen sind geteilt.

Subsection 3,8 betrifft die Ausstellung von Heiratsurkunden durch Staatsbedienstete. Erinnert sich noch jemand an den Fall Kim Davis? Die Standesbeamte des Rowan County im Bundesstaat Kentucky saß eine Woche in Beugehaft, weil sie sich weigerte, Heiratsurkunden für gleichgeschlechtliche Paare mit ihrem Namen zu unterzeichnen. In Mississippi sollen derartige Konfliktfälle zukünftig ausgeschlossen werden: Dem neuen Gesetz zufolge haben Staatsbedienstete das Recht, aus Gewissensgründen den Vollzug oder die Beurkundung von Eheschließungen zu verweigern - allerdings nur unter der Voraussetzung, dass legale Eheschließungen dadurch nicht behindert oder verzögert werden. Simpel gesagt: Wenn ein Standesbeamter sich weigert, ein gleichgeschlechtliches Paar zu trauen oder die Ehe zu beurkunden, dann muss es ein anderer tun.

Werfen wir an dieser Stelle einen Blick auf den größeren Kontext. Mit seiner Entscheidung im Fall Obergefell vs. Hodges vom 26.06.2015 hat der Oberste Gerichtshof der USA bundesstaatliche Gesetze, die gleichgeschlechtliche Paare von der Ehe ausschließen, für ungültig erklärt. Daraus folgt, dass jeder US-Bundesstaat es gleichgeschlechtlichen Paaren erlauben und ermöglichen muss, zu heiraten. Die Entscheidung wurde mit denkbar knapper Mehrheit gefällt, und selbstverständlich sind auch außerhalb des Richtergremiums längst nicht alle US-Amerikaner damit einverstanden. Es gibt zum Beispiel ganze Religionsgemeinschaften, die daran festhalten, dass eine Ehe nur zwischen genau einem Mann und genau einer Frau möglich sei. Nun ist es freilich ein Charakteristikum von Recht und Gesetz, dass sich auch diejenigen daran halten müssen, die damit nicht einverstanden sind. Somit hat kein Standesbeamter, kein Bäcker und kein Florist in den USA das Recht, ein gleichgeschlechtliches Paar am Heiraten zu hindern; ob er aber gegen seine Überzeugung aktiv daran mitwirken muss, ist eine andere Frage. Der Staat Mississippi hat entschieden, die Gewissensfreiheit derjenigen seiner Bürger, die dies nicht wollen, zu schützen. Und deshalb die ganze Aufregung? Eine Einschränkung der Rechte Homosexueller kann ich in diesem Gesetz nirgends entdecken. Mit einzelnen - oder allen - Bestimmungen des Gesetzes nicht einverstanden zu sein, Kritik daran zu üben, ist in einer Demokratie selbstverständlich legitim. Aber haben wir nicht gerade festgestellt, dass sich an Recht und Gesetz auch jene zu halten haben, die damit nicht einverstanden sind?

Ich komme darauf noch zurück; allerdings muss ich zuvor noch auf Subsection 3,6 eingehen, die ich vorläufig übersprungen hatte. An dieser Stelle des Gesetzestextes bin ich nämlich beim ersten Lesen erst mal leicht zusammengezuckt. Der betreffende Abschnitt behandelt das Recht von Personen, "geschlechtsspezifische Standards oder Regeln bezüglich der Kleidung und Körperpflege von Angestellten oder Schülern" oder bezüglich des Zugangs zu Toiletten, Waschräumen, Duschen, Umkleideräumen usw. aufzustellen. Hier, und nur hier, schien mir die doch sehr allgemein gehaltene Formulierung des Gesetzestexts allerlei Willkür zuzulassen - wobei: Ich hatte auch schon mal einen Job, in dem alle männlichen Mitarbeiter Krawatten tragen mussten, und obwohl ich es gehasst habe, wäre ich nicht auf die Idee gekommen, es wäre Sache des Staates, dagegen vorzugehen. Viel interessanter als der Punkt mit den geschlechtsspezifischen Kleidungsvorschriften ist ja ohnehin der mit den Toiletten und Waschräumen. "If we believe government should micromanage which boys or girls can use the bathroom, then what doesn’t government have a right to micromanage?", fragt David Harsanyi in seinem bereits zitierten Artikel im Federalist; das übersetze ich mal nicht, weil mir partout kein geeignetes Äquivalent für den schönen Begriff to micromanage einfällt. Aber wie man sich denken kann, steckt hinter dieser Passage des Gesetzes mehr, als man auf den ersten Blick annehmen möchte. Tatsächlich tobt in den USA schon seit einiger Zeit eine heftige Debatte über Transgender Bathroom Rights. Die Frage lautet: Soll eine Transgender-Person das Recht haben, die Toilette zu benutzen, die seinem/ihren momentanen geschlechtlichen Selbstbild entspricht, oder soll er/sie die Toilette benutzen müssen, die seinem/ihren angeborenen biologischen Geschlecht zugeordnet ist? Unlängst hat sich sogar Präsident Obama in die Debatte eingeschaltet und sich auf die Seite derer gestellt, die freie Toilettenwahl für Transgender-Personen fordern. Einzelne Bundesstaaten haben bereits entsprechende Regularien erlassen; konservative Kritiker warnen hingegen vor Missbrauchsgefahr. Wer das ganze Thema für eher skurril hält, der sei darauf hingewiesen, dass die Debatte neuerdings auch schon in Deutschland angekommen ist. Der Staat Mississippi hat derweil mit Subsection 3,6 der House Bill 1523 eine im Grunde sehr pragmatische Antwort auf die Frage gefunden, wer welche Toilette benutzen darf; sie lautet: Das soll der Besitzer der Toilette entscheiden. Man kann das Willkür nennen oder einfach Eigentumsrecht; klar dürfte sein: Ein Staat kann in seinen eigenen Einrichtungen Unisex-Toiletten einrichten, soviel er lustig ist -- private Einrichtungen wird er kaum dazu verpflichten können.

Kehren wir nach dieser notwendigen Abschweifung zurück zu der Frage: Warum löst dieses Gesetz so viel Wut und Empörung aus? David Harsanyi stellt fest, dass viele Medien in den USA den Begriff "Religionsfreiheit" in diesem und ähnlichen Zusammenhängen meist nur in Anführungsstrichen verwenden, und folgert: "Der Großteil der Medien will nicht anerkennen, dass Amerikaner, die sich weigern, an schwulen Hochzeiten mitzuwirken, dafür ernsthafte Glaubens- und Gewissensgründe haben könnten. Für sie gibt es da nur Hass." Die Öffentlichkeit, so Harsanyi weiter, werde über das Wesen der Religionsfreiheit in die Irre geführt, indem die Debatte über gleichgeschlechtliche Ehen "als Kampf zwischen weltoffenen, nach bürgerlichen Rechten strebenden Schwulen und einem Haufen bigotter Hinterwäldler, die Angst vor dem Fortschritt haben", dargestellt werde. Für eine derartige Schwarzweißmalerei ist es natürlich hilfreich, die Positionen der Gegenseite krass zu überzeichnen und so zu tun, als erlaube es die House Bill 1523 den örtlichen religiösen Fanatikern, homosexuelle Mitbürger auf dem Marktplatz zusammenzutreiben und auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen. Differenzierungen der Art, dass eine Auffassung von Ehe, die gleichgeschlechtliche Partnerschaften per definitionem ausschließt, nicht gleichbedeutend mit "Hass gegen Homosexuelle" sei, sind unerwünscht. So herrscht in der öffentlichen Debatte - und beileibe nicht nur in den USA - vielfach die Tendenz vor, religiös begründete Vorbehalte gegen die Ausweitung des Ehebegriffs auf gleichgeschlechtliche Partnerschaften rundheraus für illegitim zu erklären. Das ist eine besorgniserregende Entwicklung - besonders wenn man bedenkt, dass das Recht auf Gewissens- und Religionsfreiheit geradezu zu den Gründungsprinzipien der USA zählt (und übrigens auch in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, Artikel 18, garantiert wird).

Betonen wir noch einmal, dass es in der House Bill 1523 nicht darum geht, homo- oder transsexuellen Menschen irgendwelche Rechte vorzuenthalten, sondern lediglich darum, die Gewissensfreiheit derer zu schützen, die aufgrund ihrer religiösen oder moralischen Überzeugungen nicht aktiv an gleichgeschlechtlichen Eheschließungen - oder auch an Geschlechtsumwandlungen - mitwirken wollen. Wenn in diesem Zusammenhang von "Hass" die Rede ist, dann muss ich sagen, dass ich den Hass eher auf der anderen Seite der Debatte wahrnehme. Um nochmals David Harsanyi (in freier Übersetzung) zu zitieren:
"Es geht nicht um die Bürgerrechte einer Gruppe. Vielmehr handelt es sich um einen Konflikt, in dem die Interessen zweier verschiedener Gruppen einander gegenüberstehen. Und derzeit legt nur eine dieser Gruppen das Verlangen an den Tag, die andere zu etwas zu nötigen." 
Wie diese Nötigung aussehen kann, dafür gibt der ebenfalls "im Süden der USA" gelegene Bundesstaat Georgia ein illustratives Beispiel. Dort hatten die beiden Kammern des Kongresses erst kürzlich mit großer Mehrheit ein ähnliches Gesetz zur Religionsfreiheit verabschiedet; allerdings war die House Bill 757 aus Georgia erheblich weniger weitreichend als ihr Pendant aus Mississippi - so garantierte der Gesetzentwurf lediglich Gewissensfreiheit für religiöse Organisationen, nicht für Privatleute. Dennoch gab es auch hier massive Proteste - bis hin zu Boykottdrohungen von Großunternehmen wie Disney, Apple und TimeWarner gegen den Bundesstaat. Die National Football League (NFL) warnte, Georgia riskiere mit diesem Gesetzesvorhaben seine Bewerbung um die Ausrichtung des SuperBowl in Atlanta. Schließlich beugte sich Gouverneur Nathan Deal dem Druck und verweigerte dem Gesetz seine Unterschrift. Funktioniert so Demokratie? Ich weiß ja nicht.
 
Ehe ich meine Leser nun ihren jeweils eigenen Gedanken über diese Vorgänge überlasse, möchte ich - einfach so, ohne jeden inhaltlichen Zusammenhang - ein Zitat aus einem Roman über die Revolution von 1848/49 loswerden, auf das ich kürzlich gestoßen bin:
"Das ist also die Freiheit dieser Freiheitshelden -- Vernichtung ohne Erbarmen allen Denen, die nicht wollen und denken wie sie!" 
Das schrieb Sir John Retcliffe (alias Hermann Goedsche) im Jahre 1862. So richtig viel scheint sich seitdem nicht geändert zu haben. 



Dienstag, 5. April 2016

Dunning und Kruger lachen sich einen Ast

In einer Folge der Zeichentrickserie SpongeBob Schwammkopf erwartet der Nachbar und beste Freund des Titelhelden, der exemplarisch dämliche, faule und verfressene Seestern Patrick, Besuch von seinen Eltern und ist extrem nervös, da er bestrebt ist, einen guten Eindruck auf sie zu machen. SpongeBob schlägt vor, ihm zu helfen, indem er bei diesem Besuch ebenfalls zugegen ist und sich so extrem dumm stellt, dass Patrick im direkten Vergleich mit ihm intelligent wirkt. Leider spielt SpongeBob seine Rolle so überzeugend, dass Patrick bald selbst anfängt zu glauben, er sei klüger als sein Freund und Nachbar. Als SpongeBob es schließlich satt hat, für dumm gehalten zu werden, und zu beweisen versucht, dass er in Wirklichkeit viel klüger ist, glaubt man ihm nicht, und Patrick spricht die klassischen Sätze: 
"War doch klar, dass du so was sagen würdest. Dumme Leute haben meistens überhaupt keine Ahnung davon, wie dumm sie eigentlich sind." 
Der Witz besteht hier natürlich darin, dass Patrick, ohne es zu merken, über sich selbst spricht. Die Aussage selbst ist nämlich korrekt. Es gibt sogar eine quasi-wissenschaftliche Bezeichnung für dieses Phänomen: den Dunning-Kruger-Effekt

Benannt ist dieser Effekt nach David Dunning und Justin Kruger, die dieses Phänomen erstmals 1999 in einer populärwissenschaftlichen Publikation beschrieben und dafür im Jahr 2000 mit dem satirischen Ig-Nobel-Preis im Bereich Psychologie ausgezeichnet wurden. Dunning und Kruger verwendeten nicht den pejorativen Begriff "Dummheit", sondern sprachen stattdessen von "Inkompetenz"; aber jedenfalls kamen sie zu dem Ergebnis, dass "weniger kompetente Personen" dazu neigen, ihre eigenen Fähigkeiten zu überschätzen, und somit das Ausmaß ihrer eigenen Inkompetenz nicht erkennen können; und mehr noch, sie sind auch unfähig, die überlegenen Fähigkeiten Anderer zu erkennen. Kurz und dreckig gesagt, je dümmer jemand ist, desto mehr neigt er dazu, Personen für dumm zu halten, die tatsächlich viel klüger sind als er selbst. Und da wird es nun interessant. 

Wie der Kollege Josef Bordat unlängst berichtete, existiert eine aktuelle Studie des Brain, Mind & Consciousness Lab der Case Western Reserve University in Cleveland, Ohio, aus der hervorgeht, was viele Atheisten schon immer vermutet oder behauptet haben: nämlich, dass das analytische Denken bei Atheisten ausgeprägter sei als bei Menschen, die an Gott glauben. Interessanterweise freuen sich die Atheisten aber gar nicht so richtig darüber -- denn dieselbe Studie, die auf den Ergebnissen von acht psychologischen Tests an 2212 Versuchspersonen basiert, stellt zugleich fest, dass das im Vergleich zu gläubigen Menschen stärker ausgeprägte analytische Denken der Atheisten mit einem Mangel an Empathie und Moral einhergeht. "Die Betonung eines Hirnabschnitts geht zu Lasten des anderen", erklärt der FOCUS in einem Bericht über die Studie. "Das führt dazu, dass gläubige Menschen über mehr Mitgefühl und moralische Prinzipien verfügen, die Nicht-Gläubigen dafür intelligenter und nüchterner sind. Die rationale Fokussierung rückt Atheisten in die Nähe von Psychopathen, in dem Sinn, dass sie selbstbezogener und kaltherziger sind, und weniger von moralischen Überzeugen geleitet werden." Im Interesse maximaler Polarisierung versieht der FOCUS seinen Artikel folgerichtig mit der Überschrift "Was Atheisten mit Psychopathen gemeinsam haben"

Über die empörten Reaktionen eingeschworener Kampfatheisten, die sich von ihrer vermeintlich besten Verbündeten, der empirischen Wissenschaft, verraten sehen (noch vor nicht einmal einem halben Jahr berichtete der FOCUS über eine andere Studie, derzufolge religiöse Kinder "weniger großzügig" seien als atheistisch erzogene; da scheint ein gewisser Widerspruch vorzuliegen, aber so funktioniert der Wissenschaftsbetrieb nun mal), ließe sich durchaus Einiges sagen, aber das hat im Wesentlichen bereits Josef Bordat getan. Ich verzichte daher darauf, seine Anmerkungen hier zu wiederholen; im Zuge dessen, worauf ich hier hinaus will, möchte ich jedoch seine fundamentale Infragestellung der Aussagekraft derartiger Studien zitieren: 
"[E]in solches Urteil kann in der allgemeinen Diktion nur falsch sein. Es kommt immer auf den Einzelnen an. 'Wer an Gott glaubt' ist ebensowenig eine sinnvolle wissenschaftliche Kategorie wie 'das Gehirn von Atheisten'. Beides gibt es nicht im suggerierten Singular. Jeder kennt wohl Beispiele kaltherziger Katholiken, egoistischer Evangelikaler und scharfsinniger Juden, kennt Moslems ohne Mitleid, Atheisten mit Anstand und hochempathische Heiden. Und wenn nicht, wird es Zeit, sie kennenzulernen. Oder auch nicht. Und der Unglaube allein sorgt nicht notwendig für überragende Intelligenz." 
Tatsächlich widerspricht laut FOCUS auch der Leiter der betreffenden Studie, Tony Jack, einer Deutung seiner Untersuchungsergebnisse, die darauf hinausliefe, dass Atheisten gläubigen Menschen grundsätzlich intellektuell überlegen wären. "Man kann gleichzeitig religiös und ein guter Wissenschaftler sein", betont Jack und "beruft sich auf die Nobelpreisträger von 1901 bis 2000: 90 Prozent gehörten einer von 28 Religionen an. Nur zehn Prozent bezeichneten sich als Atheisten, Agnostiker oder Freidenker." 

Dafür, dass ein Mensch an Gott glaubt und ein anderer Atheist ist, kann es eine Vielzahl von Ursachen geben; mit Intelligenz hat das jedoch nicht notwendigerweise etwas zu tun. Dass einem ebendies dennoch vielfach suggeriert wird, und zwar vor allem von Seiten kämpferischer Atheisten selbst, hat - meiner persönlichen Beobachtung zufolge - mit einem funktionalistischen Religionsverständnis in Verbindung mit einer bestimmten Spielart von Fortschrittsdenken zu tun: Religion wird verstanden als veraltetes Welterklärungsmodell, das früher einmal nützlich und sinnvoll gewesen sein mag, durch den Fortschritt der Wissenschaften jedoch obsolet geworden sei; und wer dennoch daran festhalte, der sei eben geistig zurückgeblieben - insofern, als er nicht in der Lage sei, die Realität ohne die "Krücke" des Glaubens an Gott zu erfassen. Simpler ausgedrückt: Glauben wird fälschlich als eine unvollkommene Vorform des Wissens verstanden; wer genug wisse, der brauche nicht zu glauben

Nun könnte man meinen, eine Einstellung dem Glauben gegenüber, die auf einem fundamentalen Unverständnis dessen basiert, was Glauben eigentlich bedeutet, sei als Ausweis geistiger Überlegenheit eher untauglich. Ironischerweise ist sie aber gerade deshalb so populär, und das hat mit dem oben beschriebenen Dunning-Kruger-Effekt zu tun. Das Fehlurteil, oder sagen wir, die Behauptung, Atheismus sei prinzipiell ein Kennzeichen überlegener Intelligenz, macht den Atheismus besonders für dumme Menschen attraktiv. Zahllose Menschen, die in früheren Zeiten, als Atheismus gesellschaftlich geächtet oder sogar illegal war, brav jeden Sonntag zur Kirche gegangen wären - sei es aus Angst vor der Hölle oder vor dem Gerede ihrer Nachbarn -, gerieren sich heute als Atheisten, weil ihnen dies eine Möglichkeit eröffnet, sich Milliarden von Mitmenschen, die sich zu einer Religion bekennen, haushoch überlegen zu fühlen. 

Was dabei herauskommt, kann man beispielsweise anhand eines Beitrags der NDR-Satiresendung "Extra 3" beobachten - wobei, wie sollte es im Zeitalter der Sozialen Netzwerke auch anders sein, die Kommentare zum Video auf Facebook noch erheblich dümmer sind als das Video selbst. Kostproben gefällig? (Rechtschreibung und Zeichensetzung unverändert.) 
"Die Antwort ist so Simpel wie das Hirn des Menschen! Also am Anfang waren Götter die Erklärung für einfach alles! Mystisch, und dem Volke dienlich, den Herrschern! Christentum, es gibt nur einen Gott, tja wer sich das ausdachte, war sehr klug, die ihm folgten sehr dumm! Es entstand der größte Konzern auf Erden, der Kriege befahl und Sklaverei, der Ungläubige richtete, und Gläubige Buße tun ließ! Alles im Sinne der Macht und Reichtum anhäufenden Kirchenelite! Im Hightech Zeitalter hat Gott und Götter ausgedient, weil der Glaube alles moderne nur behindern würde und früher auch tat, wir erinnern uns, wir leben auf einer Scheibe!" 
"Ich sage einmal, in vielen Jahren haben diese Religionen keine Bedeutung mehr! Nur geistig einfältige Wesen brauchen Gott oder Götter! Es gibt Sie / ihn nicht! Wenn es Gott gäbe wäre es ein Kind, das nicht weiß was es da tut! Sage ich immer! Denn wenn es Götter gebe, hätte es Hittler und viele andere schlechte Menschen nie gegeben! Oder doch weil sie der Teufel sind?" 
"Wer will eigentlich Jungfrauen? Wozu? Die haben null Erfahrung im Bett und von eher durchschnittlichen Praktiken sind sie total entsetzt. Und wenn du richtig loslegen willst, dann machen sie spätestens zu und du musst abbrechen." 
"Wiedergeburt in eine besseren Welt, den sog. Himmel, wenn man der Kirche genug Geld spendet sowie die Hexenverbrennungen im Mittelalter, wenn eine Frau von einem Pfaffen schwanger wurde, habt ihr vergessen."  
Nun, seien wir ehrlich: Natürlich habe ich mit Absicht einige besonders dumme Äußerungen herausgesucht. Und natürlich sind es nicht ausschließlich Atheisten, die glauben, sie müssten die Welt via Social Media an dem teilhaben lassen, was so an "Gedanken" in den großen leeren Korridoren ihres Gehirns herumirrt, auch wenn sie nicht den blassesten Schimmer von dem haben, worüber sie reden. Und umgekehrt gibt es natürlich auch kluge Atheisten. Allerdings werden die, wenn sie wirklich klug sind, sich nicht einbilden, sie wären deshalb Atheisten, weil sie so verdammt klug sind

Richtig ist, dass religiöser Glaube auf Grundannahmen beruht, die weder beweisbar noch widerlegbar sind. Das betrifft jede Religion - aber es betrifft genauso auch jede nicht-religiöse Weltanschauung, wenngleich der durchschnittliche Atheist sich dessen weniger bewusst sein mag als der durchschnittliche Gläubige. Ein grundlegender Irrtum derjenigen Atheisten, die jede Form von Religiosität für dummes Zeug halten, besteht in der Auffassung, ihre eigene Grundannahme - "Es gibt keinen Gott" - sei vernunftgemäßer als jene Grundannahme, die sie ablehnen: "Es gibt einen Gott". Aus der falschen Voraussetzung, die Annahme, es gebe einen Gott, sei per se unvernünftig, folgt die Vorstellung, jegliche Folgerungen aus dieser Grundannahme - und somit sämtliche Glaubenslehren der verschiedenen Religionen - könnten ebenfalls nur Quatsch sein. Damit erübrigt ich jede Notwendigkeit, sich eingehender damit auseinanderzusetzen, was die verschiedenen Religionen denn nun tatsächlich lehren - und so kommen dann solche kruden Urteile zustande, wie ich sie weiter oben zitiert habe. Das Ironische daran ist unschwer einzusehen: Indem die Religionsverächter ihre eigenen verzerrten Vorstellungen von Religion(en) auf die Gläubigen selbst projizieren und sich darüber lustig machen, wie man so dumm sein könne, an so etwas zu glauben, machen sie sich - ohne es zu merken - tatsächlich über ihre eigene Dummheit lustig. 

Aber Ironie hin oder her: Frustrierend ist es doch, wenn man, sei es im Netz oder in der Kneipe, in Diskussionen mit Atheisten gerät, die glauben, sie seien von Natur aus klüger als gläubige Menschen. Und die aufgrund ebendieser Annahme völlig unempfänglich sind für Argumente - geschweige denn für Fakten, die ihre Vorurteile widerlegen. Denn aus ihrer Sicht ist man als gläubiger Mensch eben unheilbar dumm - dümmer als sie jedenfalls. Trösten kann man sich in solchen Fällen höchstens noch mit einem Spruch, der - aus Gründen, offenbar - immer mal wieder als Meme durch die Sozialen Netzwerke geistert: 
"Mit dummen Menschen zu streiten, ist wie mit einer Taube Schach zu spielen. Egal, wie gut du Schach spielst, die Taube wird alle Figuren umwerfen, auf das Brett kacken und herumstolzieren, als hätte sie gewonnen." 


Samstag, 2. April 2016

Wo geht's denn hier zum Christentum?

Am Ostermontag unternahm ich mit meiner Liebsten einen Ausflug zum Kloster Chorin, einer Zisterzienserabtei aus dem 13. Jahrhundert. Die Abtei war - als Filiale des rund 150 Kilometer entfernten, bereits 1180 gegründeten Klosters Lehnin - im Jahr 1258 gegründet worden, zunächst allerdings an einem anderen Standort, auf der damaligen Insel Pehlitzwerder im Parsteiner See. An den heutigen Standort verlegt wurde das Kloster im Jahr 1273; 1542 wurde es im Zuge der Reformation aufgehoben. Und wer ist schuld daran? Kurfürst Joachim II. von Brandenburg natürlich -  der, wie nicht wenige Landesfürsten seiner Zeit, von der Einführung der Reformation in seinem Land vor allem finanziell profitierte, indem er nämlich die Klöster enteignete und damit einen Teil seiner erheblichen Schulden deckte. Sein Vater und Vorgänger Joachim I. hatte seine Erben noch testamentarisch ermahnt, "die Mark Brandenburg für alle Zeiten dem katholischen Glauben zu erhalten". Tja. Seufz. Heute ist das Kloster Chorin nur noch eine Ruine, aber auch als solche noch durchaus imposant: 




Offenbar ebenfalls eine Folge der Reformation ist es, dass es im ehemaligen Kloster - genauer gesagt, im ehemaligen Brüdersaaal der Mönche - zwar eine evangelische Kapelle gibt, in der regelmäßig Gottesdienste stattfinden, das katholische Dekanat Eberswalde hingegen die Räumlichkeiten des Klosters nur gelegentlich nutzen kann und darf, zum Beispiel für seine Dekanatstage


Abgesehen von dieser kleinen Kapelle erinnert fast nur noch die Architektur des Gebäudekomplexes an seinen ehemaligen religiösen Charakter. Das ehemalige Refektorium wird derzeit zum Konzertsaal umgebaut, im ehemaligen Infirmarium wird eine Kunst-, oder sagen wir, Gemäldeausstellung ("Augenweiden" von Christina Pohl) gezeigt. Die Bilder waren zum Teil recht hübsch und dekorativ, aber ob man das nun gerade als Kunst bezeichnen würde - nun, das mag Geschmackssache sein. In einem ehemaligen Wirtschaftsgebäude, dem so genannten Brausaal, ist eine Reihe von Infotafeln zur Geschichte der Abtei und der Ortschaft Chorin zu sehen - unter der Überschrift "Ein Dorf im Schatten des Klosters". Als wäre das etwas Schlimmes, ja geradezu Bedrohliches. Okay, das Kloster wurde am Ort einer slawischen Siedlung errichtet, die, wie Ausgrabungsbefunde nahe legen, zu diesem Zweck niedergebrannt wurde. Was aus den Bewohnern wurde, weiß man nicht so genau. Schon ganz schön böse, diese Kirche - oder zumindest die askanischen Markgrafen, die auch sonst nicht gerade zimperlich mit der slawischen Landbevölkerung umgingen und sich zur Kolonisierung der Mark gern der fleißigen Zisterziensermönche bedienten. Wenn heutzutage ganze Dörfer niedergerissen und ihre Bewohner umgesiedelt werden, zum Beispiel weil sie dem Braunkohletagebau oder einem geplanten Stausee im Wege sind, dann hat das wenigstens nichts mit Religion zu tun. -- Und dann gab es noch einen Raum, in dem der Chorin Verein e.V. Hefte mit Vorträgen zur Lokalgeschichte feilbot - für 2 € das Stück. Ich war kurzzeitig versucht, eines der Heftchen zu erwerben: "Häretiker im Mittelalter (800-1550)" von Hans-Dieter Winkler - das Manuskript eines am 19.03.2011 im Verein gehaltenen Vortrags. Ich blätterte ein wenig darin. Der letzte Absatz hob hervor, dass die Katholische Kirche heute zwar keine Ketzer mehr verbrenne, immerhin aber kritischen Theologen wie Hans Küng, Eugen Drewermann oder Leonardo Boff die Lehrerlaubnis entziehe. Was, wie man daraus wohl schließen soll, ja annähernd genauso schlimm ist wie Verbranntwerden bei lebendigem Leibe.

Wie wir schon auf dem Weg zur Abtei festgestellt hatten, fand übrigens ganz in der Nähe ein Mittelaltermarkt statt - und einige der in martialische pseudo-mittelalterliche Gewänder gekleideten Gestalten, zum Teil auch mit entsprechender Bewaffnung, hatten sich auch auf das Klostergelände und sogar in die Ruine selbst verirrt. "Die Heiden fallen in das Kloster ein", raunte ich meiner Liebsten zu, doch die wandte ein: "Wieso überhaupt Heiden? Inwiefern sollte denn das Mittelalter heidnisch gewesen sein?" -- "Na jaaa", erwiderte ich gedehnt, "die ganze Christianisierung war doch nur oberflächlich. Jedenfalls wenn man dieser Sorte von Mittelalterfreaks glaubt. Die einfache Landbevölkerung blieb natürlich insgeheim heidnisch, ist ja auch klar, woher wären denn sonst die Millionen von Hexen gekommen, die die Kirche verbrannt hat." -- Da mir bewusst ist, dass Ironie, besonders in schriftlicher Form, oft schwer als solche zu erkennen ist, füge ich sicherheitshalber hinzu: Ich weiß sehr wohl, dass in Europa keine "Millionen von Hexen" verbrannt wurden, schon gar nicht von "der Kirche" und schon gar nicht im Mittelalter. Aber versuch das mal einem eingefleischten Fan des modernen Phantasie-Mittelalters beizubringen. Na, mehr zu diesem Thema später. Zunächst möchte ich noch erwähnen, dass in direkter Konkurrenz zum Mittelaltermarkt auch auf dem Klostergelände ein Markt stattfand. Ein Ostermarkt nämlich. "GärtnerInnen verkaufen Frühblüher, Kunsthandwerker ihre Kreationen und regionale GastronomInnen und HändlerInnen regionale (Bio-)Produkte", verriet die Broschüre "Ostertage im Kloster Chorin". "In den Mittagsstunden begleiten MusikerInnen das Marktgeschehen. Für den kulinarischen Genuss gibt es u.a. Klosterbrot, Bio-Crêpes, Flammkuchen, Räucherfisch und Schweizer Käsespezialitäten." Na wie fein. Angesichts des gnadenlosen Öko-plus-Gender-Sprechs der Broschüre dürfte es keine große Überraschung darstellen, dass auf diesem  Markt allerlei Esoterik-Klumpatsch feilgeboten wurde, vom Heilkräutertee über Halbedelsteine bis hin zum Traumfänger. Auch abgesehen von diesem Markt bot das Programm der "Ostertage im Kloster Chorin" nichts, absolut überhaupt gar nichts, was einen Bezug  zum christlichen Osterfest hergestellt hätte. Stattdessen gab's am Karfreitag eine "Kräuterwanderung" und am Ostermontag einen Flechtworkshop ("Kinder und Erwachsene können nach einer Einführung der Designerin und Dozentin Andrea Tuve selbst ein Osternest, einen Ostervogel oder ein anderes Unikat erschaffen"). Oh, ich sehe gerade, am Ostersonntag gab es ein Blechbläserkonzert mit geistlicher Barockmusik, sogar unter dem Motto "Glanz und Glaube". So viel Kulturchristentum ist also doch gerade noch vertretbar. Aber meine Liebste und ich waren ja wie gesagt am Ostermontag da, hatten das Konzert also bereits verpasst und wussten nichts davon, und somit dachte ich, noch viel heidnischer könne es nun auf dem Mittelaltermarkt auch nicht mehr werden. Tja, hatte ich eine Ahnung.

"Handgezimmertes Mittelalterdorf", hieß es in der Ankündigung
Irgendwie neugierig war ich ja schon, auch wenn das vermutlich mehr mit "Faszination des Grauens" zu tun hatte als mit irgendetwas Anderem. Präzise ausgedrückt handelte es sich bei diesem Markt um das "27. Oster-Kloster-Fest Chorin", veranstaltet von der Gruppe SPILWUT, die sich rühmt, "die Ost-Mittelalterszene begründet" und "die deutsche Sackpfeife neu erfunden" zu haben. Gemessen daran, dass man (wie ich zu Recht vermutete) für alles, was man auf dem Marktgelände so machen konnte, noch mal extra bezahlen musste, fand ich den Eintrittspreis etwas happig: 

Mic dûht, ez ist betruoc. 

Zu kaufen gab es allerlei - Gewänder natürlich, Schmuck und auch Waffen (allerdings stumpfe); und auch jede Menge Speis und Trank. Ich hatte mich schon auf Buchweizengrütze und eine Ratte am Spieß gefreut, aber tatsächlich wimmelte das Speisenangebot von Anachronismen (Kartoffelecken zum Beispiel. Finde den Fehler.) Zudem konnte man sich im Bogenschießen oder Axtwerfen üben. Gratis gab es pseudo-mittelalterliche Live-Musik (Sackpfeife in Endlosschleife).  



Und wir erlebten gerade noch den Schluss der interaktiven Aufführung "Der Drachenritt und der Kampf um das Ei" mit. Der Drache spuckte zwar kein Feuer, aber immerhin Dampf. Die Kinder waren begeistert. (Man beachte auch, im zweiten Bild, die weiß gewandete Frau mit dem Kopfputz aus Widderhörnern.Weiteres dazu später.) 



Anschließend stand laut Flyer "Winteraustreiben mit Drachen und Osterfeuer - ein Mysterienspiel" auf dem Programm. Unter einem Mysterienspiel würde ich mir zwar etwas Anderes vorstellen, aber hey, man kann ja von den Veranstaltern eines Mittelaltermarktes nicht erwarten, dass sie erst mal Mediävistik studieren. Jedenfalls: Winteraustreiben! Osterfeuer! Heidnisches Brauchtum! -- Zwecklos, darauf hinzuweisen, dass das Osterfeuer fester Bestandteil der katholischen Osternacht-Liturgie ist und als weltlicher Brauch erstmals anno 1559 belegt ist, wo das Mittelalter ja wohl schon so ziemlich vorbei war. Nein, was ein echter Mittelalterfreak ist, der liebäugelt mehr oder weniger ernsthaft mit dem Neopaganismus und ist daher überzeugt, dass Ostern ursprünglich ein heidnisches Jahreszeitenfest war. Und im Brauchtum sollen diese heidnischen Wurzeln noch immer auffindbar sein. Dass das aus der Perspektive seriöser historischer und volkskundlicher Forschung hanebüchener Blödsinn ist, braucht ja die Gruppe SPILWUT nicht zu kümmern -- die auf ihrer Website in der Rubrik "Philosophie" (sic!) schreibt: 
"Das Christentum kam in unsre germanischen Urwälder mit den Römern, die es aus dem Orient eingeschleppt hatten[,] und es setzte sich zuerst in den römischen/romanischen Städten [durch]. Karl beschleunigte die Mission mit Mord und Totschlag flächendeckend auch im platten Land. Zentralistisches Reich braucht zentralistische Religion. Oberflächlich hatte er Erfolg[,] doch blieb dem biedern deutschen oder wendischen Landmann - auch der Landfrau (!) und den Welschen – die religiöse Monokultur des alten Männergeheimbundes viel zu abstrakt." 
Ja, klar. Am Rande des Drachenei-Spiels habe ich auch einen Darsteller gesehen, der so etwas Ähnliches wie eine Mönchskutte trug. Das war dann wohl der Bösewicht des Spiels. -- Früher am Tag, um 13 Uhr, hatte es laut Programmzettel eine Aufführung mit dem Titel "Die Passion des Propheten [!] Jesus" gegeben. "Kranke, Blinde und Hinkende können hier den Heiland auf die Probe stellen und alle anderen sich bestens unterhalten!" Bin ganz froh, dass wir das verpasst haben. Am Ostersonntag lief auf Phoenix zur Prime Time "Strafsache Jesus - Der Faktencheck mit Petra Gerster", und anschließend "Jesus und die verschwundenen Frauen - Vergessene Säulen des Christentums". Habe ich mir natürlich auch nicht angesehen. Dieser Drang, alljährlich ausgerechnet das höchste Fest der Christenheit zum Anlass zu nehmen, den christlichen Glauben dekonstruieren zu wollen, nervt einfach nur. 



Ein Thema für sich wäre die starke Präsenz von Figuren mit Bocksschädeln und -hörnern auf diesem Mittelaltermarkt; an prominenter Stelle war eine solche Satyrgestalt ausgestellt, die zudem noch mit einem auffälligen erigierten Glied ausgestattet war. Konsultieren wir nochmals die "Philosophie"-Abteilung der SPILWUT-Website, um uns über die Phantasien der Veranstalter vom ach so geilen Heidentum zu orientieren: 
"So waren es sicher Freudenfeste und in der Hoffnung synergetischer Effekte vollzogene Riten[,] die das Ende des Winters begleiteten. Das wurde nicht allein den Schamanen überlassen, sondern es vögelten die Bauern auf dem von der Märzsonne erwärmten Acker[,] um ihn mit ihrem Beispiel zu Fruchtbarkeit anzuregen. In einigen Gegenden hat dies wohl auch nach der Christianisierung noch vereinzelt oder gemeinschaftlich stattgefunden. Niedergeschlagen hat sich dies z.B. in den Geschichten von der Walpurgisnacht – Zaubertränke köchelnde Weiber, Nackte tanzen durchs Feuer, kopulierende Leiber allenthalben; schrecklich bemalte Gestalten mit gehörnten Masken [...].
Im Ernst: Es handelt sich um handfesten und sinnlich empfundenen Synergiezauber.
Da mögen auch mal Drogen im Spiel gewesen sein – das Kopfgehirn ein wenig zu besänftigen, die Geister aus dem Bauch sprechen zu lassen.
Die große 'Begeisterung' erreicht uns allerdings ohnedies mit dem Wiedererwachen der Natur. (im Freien befreit freien…)
[...] Man freute sich an allem was das deutlich sichtbar werden lässt und sinnbildlich verkörpert: Hasen - schnelle Ficker und Werferinnen, Katzen lautstark und enthusiastisch Liebende, die Vögel - fleißig brütend, die Kröten auch in früher Zeit, denn auch sie sehr fruchtbare Mondtiere und natürlich – der Bock!
Da hätten wir sodann auch gleich die Hörner, obwohl die auch manch anderm männlich' Tier gut stehen. Stellt euch die Freude vor: Nach Monaten im dunklen engen Stall, nur kümmerlich genährt von Abfall, Heu und Stroh, zieht Hirt und Herde 'raus zu frischem saft'gen Grün - geführt von Pan dem Ziegengott mit seiner Syrinx. [...]
Der wurde dann bekanntlich den Christen zum Bild des Teufels.
Naja, is' schon geil so'n Ziegenbock!" 

Keine weiteren Fragen, Euer Ehren. Außer vielleicht eine: Sollte man zu solchen Veranstaltungen wirklich Kinder mitnehmen

Schön wäre es ja, wenn sich angesichts der enormen Beliebtheit von Mittelaltermärkten mal jemand die Mühe machte, einen solchen Markt zu gestalten, der ein adäquateres Bild des mittelalterlichen Christentums abgäbe. Mit gregorianischen Gesängen, heilkundigen Nonnen und prächtigen Prozessionen. Vielleicht mit einer schön imposanten Klosterruine als Kulisse... ach nein.