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Mittwoch, 20. Dezember 2023

Butjadingen/Nordenham: Weihnachten fällt (größtenteils) aus

Es ist zu meiner eigenen Überraschung schon fast fünfeinhalb Jahre her, dass ich mich auf meinem Blog einlässlich mit dem rapiden Niedergang der evangelischen Kirche in meiner Heimatregion befasst habe. Dabei erscheint es aus katholischer Perspektive so naheliegend, zu sagen oder auch nur zu denken: Wenn man meint, die katholische Kirche in Deutschland sei in einem trostlosen Zustand, muss man sich nur mal die evangelischen Landeskirchen ansehen – verglichen mit denen geht's uns noch gut. Tatsächlich ist Häme aber denkbar unangebracht: Die evangelischen Landeskirchen sind schließlich lediglich ein Stück weiter vorangeschritten in eine Richtung, in die auch die katholische Kirche hierzulande unterwegs ist. Warum so viele Amts- und Funktionsträger in der katholischen Kirche so erpicht darauf scheinen, der evangelischen Kirche nachzueifern, obwohl die katastrophalen Folgen dieses Kurses doch offen zutage liegen, wäre an und für sich eine interessante Frage – die wir hier und jetzt jedoch nicht klären können. 

Im Frühsommer 2018 hatte ich ausgerechnet, dass, wenn der Mitgliederschwund der Evangelisch-lutherischen Kirche Oldenburgs im Kreis Wesermarsch im selben Tempo weitergeht wie seit 1990, die Landeskirche im nicht mehr gar so fernen Jahr 2061 überhaupt keine Mitglieder mehr in diesem Landstrich haben wird. Zieht man die Ergebnisse der jüngsten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU) in Betracht, darf man es als wahrscheinlich betrachten, dass der Mitgliederschwund sich in den nächsten Jahrzehnten eher noch beschleunigt als verlangsamt; der Nullpunkt könnte also bereits deutlich früher erreicht werden, wenn es nicht in naher Zukunft zu einer spektakulären Trendumkehr kommt. 

Man könnte nun meinen, eine derart drastische Situation erfordere drastische Maßnahmen. In der nördlichen Wesermarsch hingegen, wie zweifellos auch andernorts, fällt den Verantwortlichen nichts Besseres ein, als – ganz im Sinne eines dienstleistungsorientierten Selbstverständnisses – zu sagen: Na gut, wenn die Nachfrage sinkt, dann reduzieren wir eben das Angebot

Zum Beispiel das Angebot an Weihnachtsgottesdiensten

Symbolbild, Quelle: Flickr

Es ist noch nicht so lange her, da war der Weihnachtsgottesdienst sozusagen das Top-Markenprodukt und der zuverlässige Verkaufsschlager der evangelischen Landeskirchen. Übers Jahr hatte man vielleicht eine Gottesdienstbesuchsquote von 2-3% der Kirchenmitglieder, aber zu Weihnachten war die Kirche voll. Weil der Kirchbesuch in vielen Familien zum traditionellen, gewohnten und eingeübten Festtagsprogramm und zum vertrauten und liebgewonnenen Bild von "Weihnachtsstimmung" einfach dazugehörte. Und genau dies hat sich in den vergangenen Jahren offenbar rapide verändert. 

Die Esenshammer Pfarrerin Bettina Roth führt gegenüber der Nordwest-Zeitung "als einen der Gründe die Corona-Zeit an", und ich glaube, da hat sie einen Punkt. Ich erinnere mich noch lebhaft, wie die Leute vor den Friseursalons Schlange standen, als diese nach dem Corona-Lockdown wieder öffnen durften, und ebenso lebhaft daran, dass es vor den Kirchen keine solchen Warteschlangen gab. Eine Menge Leute, die "vor Corona" gewohnheitsmäßig zur Kirche gegangen sind, haben während des Lockdowns die Erfahrung gemacht, dass sie eigentlich ganz gut ohne diese Gewohnheit auskommen können; und diese Leute bekommt die Kirche jetzt nicht zurück. Pfarrerin Roth drückt es so aus: "Während der Pandemie hätten viele Christen andere Rituale gefunden, um Weihnachten zu feiern: mehr in der Familie als in der Kirche." 

Da würde man sich nun allerdings wünschen, die lieben Kirchenleut' würden, wenn sie denn schon mal was Richtiges und Kluges sagen, sich wenigstens selbst zuhören. Das Schlüsselwort lautet hier nämlich "Rituale". Wenn die schrumpfenden Großkirchen ihren Mitgliedern Rituale zu jahreszeitlichen (Ostern, Weihnachten) oder lebensabschnittsbezogenen Anlässen (Heirat, Taufe, Konfirmation, Beerdigung) nur noch als Dienstleistungen anbietet und ihnen die Sinnzuschreibung selbst überlassen, müssen sie sich nicht wundern, wenn ihre Zielgruppe irgendwann auf die Idee kommt, sich die Rituale ebenfalls selbst zu basteln – oder andere Dienstleister damit zu beauftragen: freie Redner zum Beispiel, die nicht diesen Ballast an Tradition und Dogma mit sich herumschleppen und darum flexibler auf die individuellen Wünsche und Vorstellungen der "Kunden" eingehen können. 

Eine Chance, sich gegen diesen Trend zu behaupten, haben die Kirchen eigentlich nur, wenn es ihnen gelingt, die Menschen davon zu überzeugen, dass Tradition und Dogma eben nicht bloß Ballast sind, sondern, richtig verstanden, den Zugang zu etwas Echtem und Wahrem eröffnen – und dass die Kirche den Menschen damit etwas zu bieten hat, was sie bei keinem anderen Anbieter bekommen, etwas, das größer ist als ihre eigenen Vorstellungen. 

Dafür wäre es natürlich hilfreich, man würde erst mal selbst daran glauben

Was indes dabei herauskommt, wenn man die Dienstleistungsmentalität so sehr verinnerlicht hat, dass es einem ganz selbstverständlich erscheint, das Angebot an der Nachfrage auszurichten, kann man heuer in der nördlichen Wesermarsch beobachten – und sicherlich nicht nur dort. "Das Geschehen konzentriert sich immer mehr auf Heiligabend", stellt der Burhaver Pfarrer Klaus Braje fest; und die Folge ist, dass er ebenso wie sein Abbehauser Amtskollege Matthias Kaffka "am 24. Dezember [...] gleich fünfmal im Gottesdienst-Einsatz" ist – "an wechselnden Orten. Pfarrerin Bettina Roth, die neben Esenshamm die Gemeinden Seefeld und Dedesdorf betreut, hat eine Rundreise mit drei Terminen vor sich." Dieser Vielzahl an Heiligabend-Gottesdiensten steht der Umstand gegenüber, dass "die Pfarrstellen Butjadingen-Nord und Butjadingen-Süd [...] am 1. Weihnachtstag nur noch einen zentralen Gottesdienst" anbieten, nämlich "ab 9.30 Uhr in der St.-Laurentius-Kirche in Abbehausen. 'Das ist zunächst ein Versuch', sagt Matthias Kaffka, 'wir warten mal ab, wie die Reaktionen ausfallen.'" Tja: Ich würde mal sagen, "ausfallen" ist hier genau das richtige Stichwort. Auch die evangelischen Kirchengemeinden Nordenham und Blexen legen ihre Weihnachtsgottesdienste zusammen und feiern am 25. Dezember ab 10 Uhr in der St.-Hippolyt-Kirche in Blexen, am 26. Dezember ab 17 Uhr in der Martin-Luther-Kirche in Nordenham. In ganz Butjadingen einschließlich Abbehausens gibt es hingegen am 2. Weihnachtstag überhaupt keinen evangelischen Gottesdienst. 

Mir ist bewusst, dass man eine Reihe von Argumenten dafür vorbringen könnte, dass diese Reduktion des Gottesdienstangebots vertretbar und vernünftig sei. Man könnte zum Beispiel argumentieren, es sei sowieso anachronistisch, dass es in Butjadingen ganze fünf formal selbständige evangelisch-lutherische Kirchengemeinden gibt (bzw. sechs, wenn man Abbehausen mitrechnet, das "weltlich" seit 1974 zu Nordenham gehört). Man könnte darauf hinweisen, dass in diesem Landstrich die gesamte Infrastruktur darauf ausgerichtet ist, dass jeder ein Auto hat, und dass es darum auch zumutbar sei, wenn die Leute etwas weiter fahren müssen, um zu einem Weihnachtsgottesdienst zu kommen. Und natürlich kann man auf den massiven Stellenabbau in der Oldenburgischen Landeskirche hinweisen, der dazu führt, dass die – gerade an Weihnachten, trotz schwindender Nachfrage, immer noch beträchtliche – Arbeitsbelastung sich auf immer weniger Geistliche verteilt. Aber um all das geht es mir hier letztendlich nicht, oder schärfer ausgedrückt: Ich bin überzeugt, dass all diese pragmatischen Argumente dem eigentlichen Problem gegenüber nur vorgeschoben sind. Und das eigentliche Problem ist, wie oben schon angedeutet, dass die ehemaligen Volkskirchen schlichtweg den Glauben daran verloren haben, dass sie den Leuten etwas zu geben haben, das diese zu ihrem Heil nötig haben. Und wenn sie das selbst nicht mehr glauben, werden sie natürlicherweise auch niemanden davon überzeugen können. 

Erhellend ist hier einmal mehr ein Seitenblick auf die örtliche katholische Pfarrei. Die ist, wie wir wissen, personell seit Kurzem sogar überbesetzt. Trotzdem gibt es in der Pfarrkirche St. Willehad in Nordenham heuer keine Messe zum 4. Advent. Sondern nur eine Vorabendmesse in Burhave. Man darf davon ausgehen, dass das damit zusammenhängt, dass der 4. Advent dieses Jahr auf den Heiligabend fällt (oder umgekehrt, wie man's nimmt). Da gibt's um 16 Uhr eine Krippenfeier für Familien mit kleinen Kindern, um 17 Uhr eine ökumenische Weihnachtsandacht auf dem Marktplatz und um 22 Uhr dann die Christmette; da fand das Pastoralteam offenbar, auch noch am Vormittag Messe zu feiern, wäre ein bisschen zu viel des Guten; da käme ja sowieso keiner, bzw. die paar Leutchen, die Wert auf eine Messe zum 4. Advent legen, passen auch in die kleine Kirche in Burhave. Letzteres stimmt vielleicht sogar, aber die Einstellung dahinter ist eigentlich eine Frechheit und ein Armutszeugnis. Um's mal zugespitzt zu formulieren: Bewusst oder unbewusst nehmen diese Kirchenfunktionäre an, sie täten den Leuten einen Gefallen damit, weniger Gottesdienste anzubieten, weil die Leute dann eben auch nicht so oft zur Kirche müssen. Dass es Leute geben könnte, die, wenn sie die Möglichkeit dazu hätten, eher öfter zur Kirche gehen würden, als die sogenannte Sonntagspflicht es von ihnen verlangt – weil die Mitfeier der Heiligen Messe für sie einen positiven Wert hat und nicht nur eine lästige Pflicht ist –, kommt dabei gar nicht in den Blick. Was für Rückschlüsse das darauf zulässt, welche Einstellung die Priester selbst zur Feier der Messe haben, mag sich jeder selber ausmalen. 

Für die evangelische Kirche gilt all das natürlich nicht im selben Maße. Ein evangelischer Gottesdienst ist nun mal keine Heilige Messe, und eine Sonntagspflicht gibt es in der evangelischen Kirche auch nicht. Man könnte denken, es müsste für die evangelische Kirche darum umso offensichtlicher sein, dass sie etwas tun müsste, um die Leute zum Gottesdienstbesuch zu motivieren. Aber wie's aussieht, wollen die Kirchenfunktionäre das gar nicht. Stattdessen warten sie einfach ab, bis die Klientel, die immer noch aus Gewohnheit zur Kirche kommt, ausgestorben ist, damit sie ihren Laden dann endgültig zumachen können. Wie eingangs, mit Blick auf die statistische Entwicklung, schon erwähnt: Möglicherweise werden wir es noch erleben. 

P.S.: Um diesen Artikel dennoch mit einer heiteren Note ausklingen zu lassen, möchte ich noch etwas erwähnen, was der Pfarrer von St. Bonifatius in Berlin-Kreuzberg mal zum Thema "Gottesdienstbesuch an Feiertagen" sagte; ich weiß nicht mehr, ob es da um Weihnachten oder Ostern ging, anwendbar ist es jedenfalls auf beide Feste. Ihn würden manchmal Leute fragen, ob sie, wenn sie abends in der Christmette oder in der Osternacht waren, am nächsten Tag nochmals zur Messe müssten. Seine Antwort lautete, das sei keine Frage des Müssens, oder sollte es jedenfalls nicht sein: "Das ist so, als würde mich ein Ehemann fragen: Wenn ich abends mit meiner Frau schick ausgehe, muss ich dann am nächsten Morgen noch mit ihr frühstücken?" 



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4 Kommentare:

  1. Allerdings fällt, mit Verlaub, die zitierte Bemerkung des Pfarrers von St. Bonifaz natürlich in die Kategorie "diese Art von Moralisieren kann man sich sparen". Daß Leute, die die Kasuistik nicht selber runterrattern können, ihren Pfarrer fragen, ist legitim und zeugt von gutem kirchlichem Sinn; und die Frage, ob man nach dem einen Mal am Weihnachtstag nochmal muß, ist von elementarer Wichtigkeit für Leute, deren Familie nicht zur Gänze gläubig ist, und ebenso für den, der für die Gans zuständig ist (das ist gewissermaßen auch ein liturgisches Amt)... Dies insbesondere, wenn es am 1. Feiertag keine Abendmesse gibt, und mal ehrlich: das *eigentlich* bessere wäre es da tatsächlich, statt der Messe die 2. Vesper zu singen, macht nur keiner...

    Es gibt dann noch eine Oktav. Wer, und das sollte man, seine Dankbarkeit für die Menschwerdung Gottes mit Eifer ausdrücken will, hat eine ganze Woche dafür Zeit (und äh ein ganzes Jahr). Weihnachten enthält aber auch (und das ist nicht *ganz* verkehrt, und *irgendwo im Jahr muß das hin*) einen Marathon von Familien- und Freundesbesuchen, den man schlichtweg "gebacken" (teilweise im wahrsten Sinne des Wortes) kriegen muß; da mag jetzt einer sagen, das ist schade, aber es ist halt so, und ein positiver Effekt ist, daß wir an spätestens an Epiphanie dann wieder zeit für klassische, besinnliche Anbetung haben.)

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  2. Nur ein kurzer, pointierter Zwischenruf zu den Sinnzuschreibungen von Ritualen: Ist die offizielle Sinnzuschreibung des Sakraments der Ehe und der kirchlichen Trauung nicht selten fixiert auf die Legalisierung von Geschlechtsverkehr?

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  3. Vor ziemlich genau 2 Jahren konnte man die Messe nur mit Gesichtslappen und der sog. 2 bzw. 3 G-Regeln besuchen. Als ungeimpfter Christ schaute man entsetzt in den Abgrund der Dienstleistungskirche. Der Bischof von Rottenburg erlaubte sich folgende Ungeheuerlichkeit: "Die "Unvernünftigen und Uneinsichtigen" rauben den Kindern eine unbeschwerte Kindheit und nehmen alten Menschen die letzten Jahre." Es reichte wohl nicht aus die Ungeimpften als Blinddarm der Gesellschaft oder als Volksschädlinge zu bezeichnen. Mit dieser Kirche habe ich selbstverständlich fertig.

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  4. Meine Lieblingsanekdote zu Gottesdiensten und Corona: Die Oma eines Freundes wollte das mit den gestreamten Gottesdiensten auch nach Corona beibehalten: Mit Nüsschen auf dem Sofa wäre das einfach viel angenehmer.

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