In meiner Analyse des
Kolportageromans Barbara Ubryk oder die Geheimnisse des Karmeliter-Klosters
in Krakau von Dr. A. Rode (München 1869) war ich zuletzt bis zum Ende der 3. Lieferung gekommen, wo der Leser miterlebte, wie Jaromir Ubryk – über dessen
Verwandtschaftsverhältnis zur Titelheldin wir noch nichts Genaues wissen – mit
großem Zeremoniell in einen polnisch-nationalistischen Geheimbund aufgenommen
wurde, dessen Versammlungsort ominöserweise im Keller des Warschauer
Jesuitenklosters liegt. Auch im nun folgenden XV. Kapitel steht Jaromir im
Mittelpunkt, nicht jedoch seine neue Karriere als politischer Verschwörer;
vielmehr wird die Kindsvertauschungshandlung aus Kapitel IX wieder
aufgegriffen. Zunächst wird geschildert, wie Jaromir sich mit dem Geld, das er
für die Vertauschung seines neugeborenen Knaben gegen die Tochter einer Gräfin
erhalten hat, einen neuen Hausstand einrichtet; und dann unternimmt er einen
neuen Anlauf, die kleine Grafentochter wiederzufinden, die er in einer Schenke
vergessen hatte.
Bei der Schilderung dieser Suche
betreibt der Autor schamloseste Zeilenschinderei mit Dialogen, deren magere
Ergebnisse in einem augenfälligen Missverhältnis zu ihrem Umfang stehen.
Immerhin erfährt Jaromir, dass ein jüdischer Händler namens Aaron Königsberger
den Korb mit dem Säugling aus der Schenke mitgenommen hat – und dass das Kind
„ein goldenes Kreuz mit Steinen besetzt“ um den Hals getragen hat (S. 151).
Letzteres ist natürlich ausgesprochen unlogisch – schließlich ist die
Kindsvertauschung mit Wissen und Einwilligung der Gräfin, ja geradezu in ihrem Auftrag
vorgenommen worden; warum also hätte sie ihrem Kind ein Erkennungszeichen
mitgeben sollen? - Noch „besser“ ist allerdings, dass das Kreuz gar nicht als
Erkennungszeichen dienen kann, weil der Jude es nämlich inzwischen an einen
Goldschmied verkauft hat. Jaromir kauft es – warum auch immer -, und damit ist
auch dieser Handlungsstrang vorerst wieder an einem toten Punkt angekommen.
Folglich wendet sich der Autor in Kapitel XVI wieder der Verschwörerhandlung
zu.
Nachdem Jaromir einige nicht
näher bezeichnete Aufträge des „geheimen Tribunal[s]“ „mit Raschheit und
Intelligenz“ ausgeführt hat (S. 154) – was man dem tragikomischen Säufer, als
der er ursprünglich eingeführt worden ist, wohl kaum zugetraut hätte –, wird er
beauftragt, sich um eine Stellung „in [der] Nähe des russischen Gouverneurs von
Polen“ (S. 155) zu bemühen. Dies gelingt ihm mit Hilfe von Empfehlungsschreiben
– und der Unterstützung des Beichtvaters der katholischen Frau des Gouverneurs,
was wiederum die Rolle des Klerus in der polnischen Untergrundbewegung
unterstreicht. Peinlich ist allerdings, dass es zur Handlungszeit überhaupt
keinen „russischen Gouverneur von Polen“ gab; vielmehr waren die durch die drei
Polnischen Teilungen an Russland gekommenen Gebiete in ganze neun verschiedene
Gouvernements eingeteilt, und Warschau, wo Jaromir ja wohl nach wie vor
wohnt, gehörte, wie schon gesagt, überhaupt nicht dazu – sondern zu Preußen.
Ein hübsches Detail des XVI.
Kapitels ist der Satz des Gouverneurs „Sie werden mir durch den Fürsten
Lubojatzky auf das wärmste empfohlen“ (S. 156): Fürst Lubojatzky, das
klingt glaubwürdig und sehr polnisch; tatsächlich ist es aber der Name eines
Kollegen des Autors – Franz
Lubojatzky (1807-1887), erfolgreicher Verfasser von Kolportageromanen.
Nachdem die Jaromir-Handlung also
partout auf keinen grünen Zweig kommt, kann es dem Leser nur recht sein, dass
nach 27 Seiten wieder nach Schloss Bielow in Wolhynien zurückgeschnitten wird,
wo bereits die Kapitel II-VIII und X-XIII gespielt hatten. Hier setzt der Autor
zunächst ganz auf die Devise 'sex sells': Die Gräfin Julie stellt mit
wachsender Ungeduld dem Sekretär, Hauslehrer und verkappten Jesuiten Rebinsky
nach, nicht ahnend, dass dieser ein heimliches Verhältnis mit ihrer
halbwüchsigen Stieftochter Elka unterhält. Eines Nachts schleicht Julie sich in
Rebinskys Zimmer, und –
„Es ist sehr ärgerlich, daß sich hier abermals eine nicht unbedeutende Lücke im Originalmanuscripte befindet. Nicht etwa, daß wieder einige Blätter fehlten – nein, unglücklicherweise sind die nächstfolgenden Seiten derart mit Tinte übergossen, die eine ungeschickte Hand entweder absichtlich oder zufällig verschüttet haben mochte, daß es vollkommen unmöglich war, den Sinn der Zeilen zu entziffern.“ (S. 163)
Nun, seien wir ehrlich: Beim ersten
Mal wirkte dieser Trick plump – beim zweiten Mal hat er was. Nun dürfte
schließlich auch dem dümmsten Leser klar sein, dass der Verfasser an solchen
Stellen mit ihm Katz und Maus spielt. Nudge nudge, wink wink,
say no more. – Jedenfalls ist Rebinsky fortan „zu gleicher Zeit der
Geliebte Elka's und der Gräfin“ (ebd.); eines Tages bzw. Nachts ertappt die
Gräfin jedoch Rebinsky und Elka in flagranti, und daraufhin ist das Geschrei
natürlich groß. Gräfin Julie will ihre missratene Stieftochter in ein Kloster
stecken (was uns dem Barbara-Ubryk-Stoff zumindest motivisch schon mal
ein ganzes Stück näher bringen würde), aber Rebinsky gelingt es mit seiner
jesuitischen Beredtsamkeit, sie wieder zu besänftigen. – Kostprobe gefällig?
„Was haben Sie gethan! Sie haben die unschuldige Seele eines Mädchens verdorben, Sie haben ein Kind verführt!
– Elka ist kein Kind mehr. Ein Wesen, das so lieben kann, ist reif.
– Aber Sie haben sie doch verführt!
– Ist das ein größeres Verbrechen, ein junges Mädchen zu verführen, als von einem verheiratheten Weibe verführt zu werden?“ (S. 174)
Eine Zeit lang unterhalten
Rebinsky, die Gräfin und Elka nun allen Ernstes eine ménage à trois
(„Auch Vorhänge von schwerem Seidendamast wurden um die beiden Bette
angebracht; wir wollen sie zugezogen lassen und uns nicht darum bekümmern, was
dahinter vorging“ - S. 176); aber insgeheim trachtet Julie weiterhin danach,
ihre Stieftochter loszuwerden, um den Geliebten für sich allein zu haben.
Dieser vernachlässigt derweil vor lauter Sex die Aufträge seines Ordens, die –
wie der erfahrene Leser sich bestimmt schon gedacht hat – darauf hinauslaufen,
das Vermögen des Grafen in die Finger zu bekommen. Zwischenzeitlich erwägt
Rebinsky sogar, seine Ordensgelübde zu brechen, eine seiner beiden Geliebten zu
heiraten und das Vermögen auf diese Weise sich selbst unter den Nagel zu
reißen, aber er fürchtet die Rache des Ordens. Derweil verbessert sich der
Gesundheitszustand des Grafen, was sein eigentlich erwartetes baldiges Ableben
wenig wahrscheinlich macht. Problematisch ist dies nicht zuletzt deshalb, weil
sich zeigt, dass sowohl die Gräfin als auch Elka schwanger sind. Und dann
erhält Rebinsky unerwarteten Besuch von einem höherrangigen Jesuiten – offenbar
zu dem Zweck, ihn an seine Pflichten zu erinnern.
Hier nun führt der Autor eine
historische Gestalt als Romanfigur ein: Zwar wird beim ersten Auftritt des
Besuchers sein Name nicht genannt, aber bei späterer Gelegenheit erfährt der
Leser, dass es kein anderer ist als Tadeusz Brzozowski
(1749-1820), der spätere 19. Generalobere des Jesuitenordens. In einer Fußnote
auf S. 199 wird der Leser informiert:
„Der Jesuitenorden war im Jahre 1773 von Clemens XIV. aufgehoben worden, bestand jedoch bis zu seiner Wiederherstellung durch Pius VII. im Jahre 1804 im Geheimen fort. In den polnischen Provinzen Rußlands wurden sie trotz ihrer Aufhebung vollständig geduldet, und durften selbst i.J. 1782 einen Generalvicar wählen. Später i.J. 1820 am 25. März wurden sie durch einen Generalukas des Czars vollkommen aufgehoben. Pater Brzozowski, damals Provinzial, wurde später am 2. September 1806 zum 19. General erwählt.“
– Wikipedia gibt die Daten
leicht abweichend an, aber in groben Zügen scheinen die Angaben zu stimmen; mit
einer Ausnahme: Die offizielle Wiederzulassung des Jesuitenordens erfolgte erst
1814. Möglicherweise geht dieser Fehler aber auch auf das Konto des Setzers und
nicht des Autors.
Auf Druck seiner Ordensoberen
denkt Rebinsky – den Brzozowski auf S. 198 als „Pater Anselm“ anspricht,
nachdem sein Vorname zuvor mit Bogumil angegeben worden war – auch mal
wieder an etwas Anderes als Sex und fingiert ein anonymes Schreiben an den
Grafen, in dem dieser ultimativ aufgefordert wird, sein Vermögen
testamentarisch an den ihm unbekannten Brzozowski zu überschreiben; für den
Fall, dass er sich weigert, wird ihm eine kriminalgerichtliche Untersuchung der
Ermordung seines Bruders angedroht. Es ist Rebinsky ein Leichtes, den Grafen
glauben zu machen, die Franziskaner steckten hinter der Intrige; gleichzeitig
redet er ihm ein, ihm bliebe nichts
Anderes übrig, als auf die Forderung einzugehen – er könne dann ja immer
noch ein „Codizill“, einen geheimen Zusatz zum Testament, verfassen, mit dem
die Einsetzung Brzozowskis zum Universalerben wieder aufgehoben wird.
Bevor der Graf dazu kommt, das
geforderte Testament aufzusetzen, verschlechtert sich sein Gesundheitszustand
dramatisch. Gräfin Julie, die zuvor bereits dafür gesorgt hat, dass Elka mit
ihrer Tante nach Warschau verreist, nutzt die Gelegenheit und vergiftet ihren
Mann mit einer Überdosis eines opiumhaltigen Medikaments, um frei für ihren
Geliebten zu sein. Kurz darauf belauscht sie jedoch ein Gespräch zwischen
Rebinsky und Brzozowski, aus dem sie erfährt, dass ihr Geliebter Priester ist
und es im Auftrag seines Ordens auf das Vermögen ihres Mannes abgesehen hatte –
woraufhin sie in Wahnsinn verfällt.
Nachdem der unzeitige Tod des
Grafen Zolkiewicz die Pläne der Jesuiten beinahe vereitelt hätte, eröffnet
ihnen der Wahnsinn der Gräfin ganz neue Möglichkeiten: Der Orden sorgt dafür,
dass der den Jesuiten treu ergebene Graf Drahomirsky die Vormundschaft über die
Kinder des Grafen erhält und seinerseits Rebinsky zum Mitvormund bestimmt.
Während Elka, die inzwischen an einer fiebrigen Erkältung erkrankt ist,
vorläufig in der Obhut ihrer Tante verbleibt, nimmt Rebinsky den kleinen Sohn
des Grafen mit sich nach Warschau – und es wird angedeutet, dass er bei dieser
Gelegenheit auch das im Schloss befindliche Barvermögen veruntreut. Die Gräfin
wird in ein Irrenhaus in Krakau gebracht; das liegt zwar am anderen Ende des Landes
bzw. dank der Polnischen Teilungen sogar in einem anderen Land – nämlich
Österreich –, und somit wirkt es nicht ganz plausibel, dass die Gräfin
ausgerechnet dorthin verbracht wird, aber es stellt einen assoziativen Bezug
zum Fall Barbara Ubryk her. Krakau. Irrenhaus.
Nach 205 Seiten und zwanzig
Kapiteln ist im bislang dominierenden Handlungsstrang um die Machenschaften des
Jesuiten Rebinsky nunmehr eine klare Zäsur erreicht. Gehen wir davon aus, dass
jede Lieferung des Romans drei Druckbogen à 16 Seiten umfasste, befinden wir
uns im ersten Viertel der 5. Lieferung; und noch immer ist ein inhaltlicher
Zusammenhang der Handlung mit dem realen Geschehen um Barbara
Ubryk nicht abzusehen. Das ist umso gravierender, wenn man bedenkt, dass in
der Vorrede 20 Lieferungen angekündigt wurden – mehr als ein Fünftel davon ist
schon vorbei.
Von den bislang 20 Kapiteln, von
denen das erste eine rein einleitende Funktion hatte, entfielen 15 auf die
Rebinsky-Handlung und nur vier auf die parallele Jaromir-Handlung; wie bereits
angemerkt, wirkt letztere unausgegoren, zerfahren und ziellos und weist zudem
keinerlei Zusammenhang mit der bisherigen Haupthandlung auf. Das kann zwar noch
kommen, zumal Rebinsky sich nun ebenfalls in Warschau niederlässt; aber bis zum
jetzigen Zeitpunkt macht die Jaromir-Handlung den Eindruck, nachträglich und
recht unbeholfen in die ursprünglich eigenständige Rebinsky-Handlung
hineinmontiert worden zu sein. Gleichzeitig weist bislang allein die
Jaromir-Handlung einen (wenn auch oberflächlichen) Bezug zu Barbara Ubryk auf –
insofern als Jaromirs Familienname ebenfalls Ubryk lautet, was eine
Verwandtschaft vermuten lässt. Dabei drängt sich allerdings der Verdacht auf,
dass der Name Ubryk erst nachträglich eingesetzt wurde, um einen solchen
Zusammenhang zu suggerieren. – Die Rebinsky-Handlung selbst ist auch
nicht gerade ein Meisterwerk: eine genreübliche Mischung aus Sex, Crime und
Intrigen, mit dem Jesuitenorden als Inbegriff der Skrupellosigkeit; zuweilen
schlampig erzählt und nicht durchweg plausibel. Aber zumindest gewährleistet
sie eine gewisse Spannung.
Wie viel Zeit seit Beginn der
Handlung vergangen ist, ist nicht genau festzustellen, aber vermutlich befinden
wir uns im Frühjahr 1800. Das ist immer noch sehr weit entfernt von der Zeit,
in der Barbara Ubryk im Krakauer Karmel eingesperrt war. Bis die Handlung des
Romans in dieser Zeit angekommen ist, sind die bisher handlungstragenden
Personen wahrscheinlich alle tot. Oder fast alle.
Immerhin kündigt die Überschrift
von Kapitel XXI – „Nach fünf Jahren“ – einen Zeitsprung an… Fortsetzung folgt!
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