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Montag, 27. Februar 2017

Gebt ihr ihnen zu essen!

Seit Monaten geistert nun schon die Idee durch diesen Blog, "man müsste" - und das heißt konkret natürlich: wir, nämlich meine Liebste und ich, wollen - mal was in Richtung eines "subversiven Pastoralprojekts" unternehmen: Neuevangelisation als Graswurzelinitiative, zwar verwurzelt im Glauben und den Sakramenten der Katholischen Kirche, aber ohne allzu feste Einbindung in institutionalisierte Strukturen. Also im Sinne von Can. 215 f. des Codex Iuris Canonici (CIC)
215. Den Gläubigen ist es unbenommen, Vereinigungen für Zwecke der Caritas oder der Frömmigkeit oder zur Förderung der christlichen Berufung in der Welt frei zu gründen und zu leiten und Versammlungen abzuhalten, um diese Zwecke gemeinsam zu verfolgen.  
216. Da alle Gläubigen an der Sendung der Kirche teilhaben, haben sie das Recht, auch durch eigene Unternehmungen je nach ihrem Stand und ihrer Stellung eine apostolische Tätigkeit in Gang zu setzen oder zu unterhalten; keine Unternehmung darf sich jedoch ohne Zustimmung der zuständigen kirchlichen Autorität katholisch nennen. 
Erste Ideen dazu, wie so etwas aussehen könnte - unter dem Leitgedanken, in Sachen Selbstorganisation und Vernetzung könne man eine Menge von der in Berlin ausgesprochen gut aufgestellten linken Szene lernen, und folglich sollte man "irgendwas mit Suppe, Punkrock und Fahrradreparatur" (oder so) machen - hatte ich schon vor Jahren mal gehabt, und, wie sich zeigte, meine Liebste ebenfalls. Einen ersten deutlichen Impuls, gemeinsam konkret etwas in diese Richtung zu unternehmen, verspürten wir am Wochenende nach dem letzten Katholikentag beim Besuch der Fiesta Kreutziga. Auf unserem gemeinsamen Jakobsweg verfestigte sich dieses Vorhaben, und dann trug die MEHR-Konferenz das Ihre zu dem Entschluss bei, jetzt aber endlich mal loszulegen. 

Und jetzt legen wir los. 

In den letzten Wochen haben wir an Veranstaltungskonzepten gebastelt, Kontakte geknüpft und potentielle Locations in Augenschein genommen, und nun steht unsere erste Veranstaltung unmittelbar bevor: 

"Dinner mit Gott"! 


Die Grundidee dieses Veranstaltungsformats lautet schlicht und ergreifend: gemeinsam kochen und essen wie auf dem Jakobsweg. Meine Liebste hat den rd. 780 km langen Camino Francés von St. Jean Pied-de-Port nach Santiago de Compostela ja insgesamt schon dreimal zurückgelegt und dabei schon oft in Pilgerherbergen gekocht - zum Teil für rund 30 Personen aus über 20 verschiedenen Nationen. Bei unserem gemeinsamen Jakobsweg im Sommer 2016 war ich bei einigen solchen Kochaktionen dabei und kann sagen: Das Essen war immer hervorragend und die Tischgemeinschaft mit den anderen Pilgern stets ein eindrucksvolles Erlebnis. Besonders, wenn auch die Zubereitung des Essens gemeinsam in Angriff genommen wurde.

Und dass gemeinsames Essen ein hervorragendes Mittel zur Evangelisierung sein kann, lehren ja schon die Evangelien selbst. So heißt es im Bericht über die Berufung des Matthäus: "Und als Jesus in seinem [=Matthäus'] Haus beim Essen war, kamen viele Zöllner und Sünder und aßen mit Ihm und Seinen Jüngern" (Mt 9,10; vgl. Mk 2,15 u. Lk 5,29). Als in Jericho der recht kleingewachsene Zöllner Zachäus auf einen Baum klettert, um Jesus sehen zu können, ruft dieser ihm zu: "Zachäus, komm schnell herunter! Denn ich muss heute in deinen Haus zu Gast sein" - und das heißt offenbar: mit dir essen (Lk 19,5). Auch die Salbung in Betanien, die im Matthäus-, Markus- und Johannesevangelium eine Art Auftakt zur Passion Christi bildet, ereignet sich, als "Jesus in Betanien im Haus Simons des Aussätzigen bei Tisch war" (Mt 26,6f.; Mk 14,3; ähnlich Joh 12,2). Das gemeinsame Essen spielte in der Verkündigung Jesu offenbar eine so große Rolle, dass Er und Seine Jünger bei ihren Gegnern geradezu als "Fresser und Säufer" verschrieen waren (Mt 11,19; Lk 7,34). Die Wundersame "Speisung der 5000" wurde dadurch veranlasst, dass Jesus die Menschen, die Ihm folgten, nicht fortschicken wollte, damit sie sich woanders etwas zu essen besorgen:
"Als es Abend wurde, kamen die Jünger zu Ihm und sagten: Der Ort ist abgelegen und es ist schon spät geworden. Schick doch die Menschen weg, damit sie in die Dörfer gehen und sich etwas zu essen kaufen können. Jesus antwortete: Sie brauchen nicht wegzugehen. Gebt ihr ihnen zu essen!" (Mt 14,15f.; vgl. Mk 6,35ff., Lk 9,12f.
Und als der auferstandene Christus Seinen Jüngern am Ufer des Sees von Tiberias erscheint, lautet Seine erste Frage an sie: "Meine Kinder, habt ihr nicht etwas zu essen?". Als sie verneinen, bereitet Er ihnen etwas zu essen zu: "Als sie an Land gingen, sahen sie am Boden ein Kohlenfeuer und darauf Fisch und Brot." (Joh 21,5 u. 9). 

Unser "Dinner mit Gott" soll künftig an jedem ersten Mittwoch im Monat stattfinden, und zwar im Pfarrhaus der Gemeinde Herz Jesu in Berlin-Tegel (Brunowstr. 37); eingeladen sind alle Interessierten, unabhängig von Konfession, Glauben oder Nichtglauben. Für die Zukunft kann man sich sicherlich überlegen, das gemeinsame Kochen und Essen mit "thematischen Beiträgen" (Vorträge, Lesungen, Filme, Livemusik... whatever) zu verbinden, aber zumindest die erste Veranstaltung soll in dieser Hinsicht ganz offen gestaltet sein - um erst mal miteinander ins Gespräch zu kommen und nach Möglichkeit gemeinsam Ideen zu entwickeln, was man zukünftig noch so alles veranstalten könnte. Community-based heißt das große Zauberwort. 

Im März fällt der erste Mittwoch des Monats nun ausgerechnet auf den Aschermittwoch, und es mag dem Einen oder Anderen ein bisschen sonderbar vorkommen, ausgerechnet an diesem Tag eine Veranstaltung mit Essen anzubieten. Aber schließlich heißt "Fasten- und Abstinenztag" auf Katholisch nicht zwingend "überhaupt nichts essen". Um dem besonderen Charakter dieses Tages gerecht zu werden, wird das Essen vegan sein. Und außerdem bietet sich so die Gelegenheit, unmittelbar vor der Veranstaltung in der Herz-Jesu-Kirche zur Messe zu gehen und sich das Aschenkreuz zu holen. Meine Liebste und ich werden das auf jeden Fall so machen. 

Wir haben fleißig Flyer verteilt - größtenteils in der Nähe des Veranstaltungsortes -, haben die Veranstaltung auf Facebook angekündigt und eine beträchtliche Zahl an Leuten persönlich eingeladen. Und nun sind wir gespannt, wie das erste "Dinner mit Gott" so laufen wird. Ich werde berichten! 


Freitag, 24. Februar 2017

Ein ungenannter Pfarrer reist nach Indien

Die Pfarrei St. Willehad in meinem Heimatstädtchen Nordenham veröffentlicht seit einiger Zeit ihren jeweils aktuellen Pfarrbrief auf ihrer Facebook-Seite. Das macht es auch mir leichter, auf dem laufenden zu bleiben, was an der Heimatfront so los ist. In den Pfarrnachrichten für den Zeitraum vom 18. Februar bis zum 5. März wurde nun eine "Studien- und Begegnungsreise nach Indien" angekündigt: 
"Vom 18. Januar bis zum 02. Februar 2018 wird Pfr. ... (Lindern, früher Pfarrer in Nordenham) mit Interessierten eine Reise nach Indien durchführen." 
Die drei Pünktchen anstelle des Namens habe übrigens nicht ich eingefügt - die stehen so im Pfarrbrief. Jedenfalls in der Online-Version. Das mag sonderbar wirken, aber in einem früheren Pfarrbrief wurden auch schon mal "Frau x, Frau x und Frau x" als Katechetinnen der Gemeinde genannt. Möglicherweise soll das Datenschutz sein. Schließlich, wenn man etwas öffentlich ins Internet stellt, noch dazu bei der Datenkrake Facebook, dann kriegt man das ja nie wieder eingefangen. Zwar könnte auch die gedruckte Version von irgendwelchen Finsterlingen eingescannt oder abfotografiert und ins Netz gestellt werden, und somit wäre es vielleicht sicherer, überhaupt nur noch per "Stille Post" zu kommunizieren, aber hey - wer wäre ich, über die Datenschutz-Gepflogenheiten Anderer zu urteilen. 

Allerdings muss ich gestehen, auf den ersten Blick habe ich "Pfr. ..." eher im Sinne von "Pfarrer He-Who-Must-Not-Be-Named" interpretiert. Gerade in Verbindung mit dem Hinweis "früher Pfarrer in Nordenham". Denn wer sollte das wohl sein? Als erstes fällt einem da wohl der weggemobbte Torsten Jortzick ein, dessen Namen man in Teilen der Gemeinde vielleicht wirklich nicht mehr nennen darf. Aber dass der neuerdings Pfarrer in Lindern ist, wäre mir neu - nach meinem letzten Kenntnisstand ist er Pastor (also so etwas wie Subsidiar oder "mitarbeitender Priester") in der Pfarrei St. Mauritz in Münster. Und irgendwie kann ich mir auch nicht vorstellen, dass er eine Indienreise organisieren würde, bei der den Teilnehmern u.a. eine "Ayurveda Massage" sowie die "Gelegenheit [...], Hindu-Tempel, Moscheen und Gotteshäuser der Sikhs zu besichtigen", geboten wird. Das würde, wie mir scheint, eher zu seinem Vorgänger Bögershausen passen - aber der ist ja im Ruhestand und arbeitet wohl noch gelegentlich in der Pfarrei seines Wohnortes mit, aber auch das ist nicht in Lindern, sondern in Wildeshausen

(Symbolbild, Quelle: hier.) 
Wer also ist "Pfr. ..." nun wirklich? Die Website der Pfarrei St. Katharina von Siena in Lindern gibt Aufschluss: Es handelt sich um Pfarrer Thomas Mappilaparambil, und selbstkritisch muss ich anmerken, dass ich darauf schon früher hätte kommen können, wenn ich den Artikel über die geplante Indienreise genauer gelesen hätte; denn dort ist auch "das Kennenlernen der Heimat und Familie von Pfarrer ..." als Programmpunkt der Reise angegeben. Pfarrer Mappilaparambil stammt aus Kerala in Indien. Allerdings war er streng genommen nie "Pfarrer in Nordenham" - wohl aber von April bis Juli 2014, zwischen der Emeritierung der altgedienten Pfarrer Kordecki und Bögershausen und dem Amtsantritt von Torsten Jortzick, Pfarradministrator von St. Willehad. Geschenkt. Pfarrer Mappilaparambil macht also Heimaturlaub und verbindet das gleich mit einer Indien-Rundreise, auf die er interessierte Pfarrkinder mitnimmt. Das macht er anscheinend öfter: Eine Reise mit exakt identischem Programmangebot ist auf der Website der Pfarrei in Lindern für den 28.09.-13.10.2017 angekündigt. Soweit, so schön. Indien ist gewiss eine Reise wert. Und was weiter? 

Indien ist ein Land mit einer im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung sehr kleinen christlichen Minderheit (unter 3%); in absoluten Zahlen handelt es sich allerdings um immerhin rund 25 Millionen Christen, von denen rund 18 Millionen der Katholischen Kirche angehören - zum Vergleich: In Deutschland hat die Katholische Kirche rund 24 Millionen Mitglieder. Hervorzuheben ist auch, dass die Katholische Kirche Indiens sich durch eine hohe Zahl an Priesterberufungen auszeichnet: Im Jahr 2003 - neuere Zahlen liegen mir nicht vor - gab es in Indien rund 27.000 katholische Priester, mithin durchschnittlich einen Priester für 667 Katholiken. In Deutschland ist diese Quote erheblich schlechter: Hier kommen (laut Stand von 2015) 1.687 Kirchenmitglieder auf einen Priester. Rechnet man nur diejenigen Priester, die im pastoralen Dienst aktiv sind, verschlechtert sich die Quote sogar auf 1 : 2.667. Angesichts solcher Zahlenverhältnisse überrascht es nicht, dass die so reich mit Priestern gesegnete Katholische Kirche Indiens schon seit Jahrzehnten Priester an andere Länder, in denen Priestermangel herrscht, "abgibt" - so auch an Deutschland, wofür Pfarrer Mappilaparambil ja ein Beispiel ist. 

Eine Indienreise, die von einem katholischen Priester geleitet wird und deren Programm ausdrücklich "das Kennenlernen der Heimat und Familie" ebendieses Priesters beinhaltet, dürfte sicherlich geeignet sein, den Teilnehmern einen Eindruck von der kleinen, aber vitalen christlichen Minderheit Indiens zu vermitteln, und das ist ohne Zweifel zu begrüßen. Gleichwohl fällt es auf, dass die Programmbeschreibung der Reise als besondere "Attraktionen" gerade die Gelegenheiten zum Kennenlernen anderer Religionen hervorhebt - und somit wohl auch vor allem solche Gemeindemitglieder ansprechen dürfte, die sich mehr für fremde Religionen interessieren als für die eigene.

Keine Frage: Ein gewisses Maß an Kenntnissen über fremde Religionen, und auch ein gewisses Maß an Wertschätzung für diese, ist prinzipiell eine gute Sache und kann für ein friedliches Zusammenleben in unserer globalisierten und pluralistischen Welt von großem Wert sein. Das haben bereits die Väter des II. Vatikanischen Konzils so gesehen: In der Konzilserklärung Nostra Aetate (Über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen) heißt es u.a.:
"Die Menschen erwarten von den verschiedenen Religionen Antwort auf die ungelösten Rätsel des menschlichen Daseins, die heute wie von je die Herzen der Menschen im tiefsten bewegen: Was ist der Mensch? Was ist Sinn und Ziel unseres Lebens? Was ist das Gute, was die Sünde? Woher kommt das Leid, und welchen Sinn hat es? Was ist der Weg zum wahren Glück? Was ist der Tod, das Gericht und die Vergeltung nach dem Tode? Und schließlich: Was ist jenes letzte und unsagbare Geheimnis unserer Existenz, aus dem wir kommen und wohin wir gehen? [...]
Die katholische Kirche lehnt nichts von alledem ab, was in diesen Religionen wahr und heilig ist. Mit aufrichtigem Ernst betrachtet sie jene Handlungs- und Lebensweisen, jene Vorschriften und Lehren, die zwar in manchem von dem abweichen, was sie selber für wahr hält und lehrt, doch nicht selten einen Strahl jener Wahrheit erkennen lassen, die alle Menschen erleuchtet."
Gleichzeitig betont Nostra Aetate jedoch auch:
"Unablässig aber verkündet [die Kirche] und muss sie verkündigen Christus, der ist 'der Weg, die Wahrheit und das Leben' (Joh 14,6), in dem die Menschen die Fülle des religiösen Lebens finden, in dem Gott alles mit sich versöhnt hat (4)."
Nun, seien wir mal optimistisch, dass Pfarrer Mappilaparambil die Leitung seiner Indienreise so gestalten wird, dass sie diesen Anforderungen gerecht wird. Am Freitag, dem 24. Februar - also heute - um 19 Uhr findet im Pfarrheim von St. Willehad ein Informationsabend zu der geplanten Reise statt. Man darf gespannt sein. 



Sonntag, 19. Februar 2017

Na, alle wach?

Gestern erschien auf The Cathwalk ein "Weckruf" unter der Überschrift "#SineDubia - wir gehen mit Papst Franziskus" (der Grammatikfehler - die Präposition "sine" regiert den Ablativ - wurde inzwischen zu #SineDubiis korrigiert). Anliegen dieses Aufrufs ist es, Schmähungen und Verdächtigungen gegen Papst Franziskus, insbesondere im Zusammenhang mit seinem nachsynodalen Schreiben "Amoris Laetitia", zurückzuweisen. Mein Name erscheint in den Reihen der Erstunterzeichner. 

Der Text hat unmittelbar nach seinem Erscheinen scharfe Kritik hervorgerufen, auch von Seiten lieber und geschätzter Freunde. Ich kann diese Kritik in Teilen nachvollziehen. 

Der wohl gewichtigste Kritikpunkt lautet, der "Weckruf" greife die Kardinäle Brandmüller, Burke, Carraffa und Meisner, die die "Dubia" zum Schreiben "Amoris Laetitia" formuliert und - nach längerem Ausbleiben einer Antwort des Papstes - veröffentlicht haben, frontal an und stelle jegliche kritische Anfragen an die Amtsführung des Papstes unter den Generalverdacht mangelnder Papsttreue. 

Tatsächlich muss ich einräumen, dass ich die im "Weckruf" enthaltene Formulierung "wir distanzieren uns ausdrücklich von den Dubia" als unglücklich empfinde. Ich hätte mir gewünscht, dass der Text klarer herausstellt, dass nicht die "Dubia" selbst das Problem sind, sondern deren Instrumentalisierung durch Papstgegner. Insofern ist auch der Titel des "Weckrufs" problematisch, weil er die Aufmerksamkeit genau auf diesen Punkt lenkt - und damit von anderen, (wie ich finde) wichtigeren Aspekten des Aufrufs ablenkt

Auch darüber hinaus hätte ich mir an manchen Stellen einen nuancierteren Tonfall gewünscht - schon allein um zu vermeiden, dass Personen, die mit der Kritik (so wie ich sie verstehe) gar nicht gemeint sind, sich angegriffen fühlen. Ein Teil der Reaktionen auf die Veröffentlichung des "Weckrufs" hat meine diesbezüglichen Bedenken bestätigt. 

Wenn ich das also bereits vorausgesehen habe: Warum habe ich dann unterschrieben? 

Darauf gibt es eine einfache und eine komplizierte Antwort. Die einfache lautet: weil ich das grundsätzliche Anliegen des "Weckrufs" trotz einzelner Kritikpunkte richtig und wichtig finde. 

Schauen wir uns trotzdem auch noch die komplizierte an. 

Als mir der Text erstmals vorgelegt wurde, habe ich zunächst um Bedenkzeit gebeten. Theoretisch hätte ich nun vielleicht eine Liste von Änderungsvorschlägen bzw. -wünschen erstellen können, von denen ich meine Zustimmung abhängig mache; aber erstens war dazu nicht genug Zeit, und zweitens schätze ich meinen Einfluss auf die Initiatoren nicht als so groß ein, als dass ich annähme, dieses Vorgehen hätte etwas geändert. Somit blieb nur die Entscheidung: Unterschreiben oder NICHT unterschreiben. 

Ich hätte, wie ein geschätzter Bloggerkollege, nicht unterschreiben und dann ausführlich darüber bloggen können, wo ich dem Aufruf zustimme und wo nicht. Das wäre möglicherweise "klug" gewesen. Dass selbiger Bloggerkollege nun auf Facebook ergrimmt gegen Jene vom Leder zieht, die sich - wie ich - für den umgekehrten Weg entschieden haben - erst zu unterschreiben und dann notwendige Differenzierungen nachzuliefern -, empfinde ich zwar als stillos und beleidigend, aber hey - Vieles, was ich so schreibe, wird auch von Manchem als stillos und beleidigend empfunden werden. C'est la vie

Und nun erzähl' ich Euch mal was, Freunde: 
Zum Teil habe ich den "Weckruf" unterschrieben, OBWOHL ich dabei Bauchschmerzen hatte. 
Und zum Teil habe ich den ""Weckruf" unterschrieben, WEIL ich dabei Bauchschmerzen hatte. 

Ich war nie ein besonderer "Fan" von Papst Franziskus und bin es auch jetzt noch nicht. Meine Idealvorstellung davon, wie ein Papst sein sollte, ist nun mal stark von Benedikt XVI. geprägt. Nicht selten reagiere ich auf Äußerungen von Papst Franziskus (zumindest in der Form, wie sie in den Medien kolportiert werden; darauf komme ich noch) und auf den Stil seiner öffentlichen Selbstdarstellung mit Befremden. Und genau deswegen habe ich den Text des "Weckrufs" sehr selbstkritisch gelesen. 



Zunächst mal: Eine Hermeneutik des Misstrauens und des Verdachts, wie sie in zahlreichen Äußerungen über die Amtsführung des Papstes zu beobachten ist, ist hochgradig ansteckend. Es ist schon schlimm genug, wenn man in der Sonntagsmesse einen Priester vor sich hat, von dessen Rechtgläubigkeit man nicht gänzlich überzeugt ist, und während der Begrüßungsworte und der Predigt mit zusammengekrampften Zehen (oder noch anderen Körperteilen) denkt: Gleich sagt er bestimmt was Häretisches. Wenn man dasselbe über den Papst denkt, ist das ein noch erheblich größeres Problem. Und genau das wird durch die im "Weckruf" beklagte "argwöhnische und pessimistische Mentalität, die sich im katholisch-konservativen Lager in den letzten Jahren eingeschlichen hat", sowie dadurch, dass in bestimmten Kreisen "selektiv und stets negativ über Papst Franziskus berichtet" wird, gefördert. Nicht selten spüre ich diese ansteckende Wirkung an mir selbst. 

Sodann: Kritik am Papst - gleich aus welcher Richtung sie kommt - ist nicht selten von einer Haltung der Besserwisserei geprägt; konkret: der (mehr oder weniger bewussten) Auffassung, man selbst wisse ganz genau und besser als der Papst, was die Kirche braucht bzw. was gut für sie ist. Hier fragt der "Weckruf" zu Recht: "Wissen wir vielleicht gleich viel oder sogar mehr als der Papst über sämtliche disziplinarische Angelegenheiten in den Orden oder in der Kurie?" Eine ehrliche Antwort kann eigentlich nur lauten: Nö, wissen wir nicht


Ebenfalls sehr stark angesprochen hat mich die Ermahnung, "dass Papst Franziskus vollumfänglich das Recht hat, unbequeme Worte auch an diejenigen zu richten, die bisher vielleicht unbequeme Worte nicht gewohnt waren": "Wer, wenn nicht der Papst, hat das Recht dazu, auch die vermeintlich 'gerechten Söhne' zu ermahnen?" Das Stichwort "gerechte Söhne" fällt im "Weckruf" mehrmals. Und in der Tat, die Versuchung, so zu denken, zu sprechen und zu handeln wie der ältere Bruder im Gleichnis vom Verlorenen Sohn, betrifft jeden von uns. Es kann nur heilsam und nützlich sein, sich diese Versuchung bewusst zu machen. 

Schließlich beklagt der "Weckruf" eine "Eigendynamik, die unter konservativen Katholiken entfesselt wurde: da man keinesfalls liberal oder weichlich sein will, übertrumpft man sich gegenseitig in einem immer starreren Rigorismus und Rubrizismus." Auch das ist eine reale Gefahr, und auch da braucht man gar nicht mit dem Finger auf Andere zu zeigen: Es genügt ein Blick in den Spiegel. 

Die hier angesprochene Gefahr, aus dem Bedürfnis nach Abgrenzung von "liberalen" Strömungen in einen "Konservatismus um des Konservatismus willen" zu verfallen, bringt mich auf einen weiteren Kritikpunkt, der an der Veröffentlichung dieses "Weckrufs" geäußert wurde. Ich fasse ihn mal etwas salopp zusammen: 
"Das hat ja auch der Püttmann unterschrieben, wie könnt ihr mit dem gemeinsame Sache machen, und überhaupt ist das ein gefundenes Fressen für die Liberalen, um einen Keil ins konservative Lager zu treiben - ihr seht ja, was Domradio und katholisch.de und Radio Vatikan daraus machen, das habt ihr jetzt davon." 
Auch dieser Einwand bzw. die Denkweise, aus der er entspringt, ist mir keineswegs fremd, und deshalb ist es erneut auch und nicht zuletzt selbstkritisch gemeint, wenn ich darauf erwidere: Dieser Einwand wurzelt letztlich in einem Lagerdenken, das wir nicht wollen können. Schon Paulus schrieb an die Korinther: 

"Ich ermahne euch aber, Brüder, im Namen Jesu Christi, unseres Herrn: Seid alle einmütig und duldet keine Spaltungen unter euch; seid ganz eines Sinnes und einer Meinung. Es wurde mir nämlich, meine Brüder, von den Leuten der Chloë berichtet, dass es Zank und Streit unter euch gibt. Ich meine damit, dass jeder von euch etwas anderes sagt: Ich halte zu Paulus - ich zu Apollos - ich zu Kephas - ich zu Christus. Ist denn Christus zerteilt? Wurde etwa Paulus für euch gekreuzigt? Oder seid ihr auf den Namen des Paulus getauft worden?" (1 Kor 1, 10-13
Klar: Es gibt diese "Lager". Es gab sie damals in Korinth und es gibt sie heute bei uns. Aber wenn man das Lagerdenken überwinden will, kann man nicht darauf warten, dass "die Anderen" es tun. Sondern ICH muss das vermaledeite Lagerdenken überwinden. Und dann kann ich nicht sagen "Person X unterstützt Sache A, also darf ich Sache A nicht unterstützen, weil ich mit Person X nichts zu tun haben will". Angst vor Beifall aus der falschen Ecke ist auch eine Form von Menschenfurcht. Nochmals: Ich weiß selbst, wie sehr ich dazu neige. Ein Grund mehr, dagegen anzugehen. 

Obendrein zeigen ja gerade die Auseinandersetzungen um "Amoris Laetitia" und manche andere umstrittene Aussagen und Initiativen von Papst Franziskus, dass ein eindimensionales Lagerdenken im Sinne von "konservativ vs. liberal" letztlich absurd ist - denn hier sitzen manche liberalen "Reformer", ein großer Teil der säkularen Medien und eine bestimmte Spezies erzkonservativer Papstkritiker im Grunde im selben Boot, auch wenn sie in verschiedene Richtungen rudern (oder das zumindest jeweils von sich selbst glauben). Sie alle neigen dazu, dem, was der Papst sagt oder tut, die denkbar "liberalste" Deutung zu unterlegen und noch darüber hinaus zu spekulieren, was er womöglich noch so alles in der Kirche "revolutionieren" werde - nur dass das für die Einen Ausdruck von Freude und Hoffnung ist, während die Anderen es als Menetekel des drohenden Untergangs an die Wand malen. Demgegenüber eine Position zu formulieren, die sich sowohl zur tradierten Lehre der Kirche als auch zum gegenwärtigen Papst bekennt, erscheint mir dringend geboten. 

Es bleibt der Hinweis auf die Gefahr einer kirchenpolitischen Instrumentalisierung in einem Sinne, den man gerade nicht gewollt hat. Einverstanden, die Gefahr besteht. Diese Gefahr besteht bei allem, was man sagt und tut. Das kann und darf kein Grund sein, überhaupt nichts mehr zu sagen und zu tun. Und schließlich: Müssen wir uns davor wirklich fürchten? -- Das ist, wenn man sich's recht überlegt, eine Grundfrage, die man bei allen Debatten um den Kurs der Kirche unter Papst Franziskus im Hinterkopf behalten sollte: Glauben wir, dass Gott in der Kirche WIRKT? Vertrauen wir auf Seine Zusage, dass Seine Kirche auf festem Grund steht und die Pforten der Hölle sie nicht überwinden werden? 

Lautet die Antwort "ja", sollten wir in der Lage sein, Vieles gelassener zu sehen (was ehrliche, wohlmeinende Sorge und Kritik wohlgemerkt nicht ausschließt). 

Lautet sie "nein", dann... nee, den Satz schreibe ich jetzt nicht zu Ende. 


Donnerstag, 16. Februar 2017

Buddha bei die Fische!

+++BREAKING: katholisch.de will jetzt offizielles Portal des deutschen Buddhismus werden+++ 


Christiane Bundschuh-Schramm, promovierte Theologin, Pastoralreferentin, arbeitet in der Hauptabteilung "Pastorale Konzeption" der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Vor einigen Wochen überraschte sie in einer Folge der von ihrer Diözese verantworteten Videoclip-Reihe "Mein Sonntagsevangelium" mit dem Geständnis, sie "kenne Jesus nicht". Das ist gewiss traurig, aber inzwischen hat Frau Dr. Bundschuh-Schramm offenbar andernorts spirituelle Orientierung gefunden. Nämlich im Buddhismus. In einem Videoclip der Reihe "spirituelle.lesezeit" stellt sie mit Begeisterung das Buch "Ein Regentropfen kehrt ins Meer zurück" des buddhistischen Abtes Muho vor. Die Online-Plattform katholisch.de verlinkt dieses Video mit einem Begleittext, in dem es über Muho heißt: "Sein bzw. unser Vorteil: Er ist gebürtiger Deutscher, kennt also unsere Denkweise und unsere christliche Religion, und versteht es daher, uns etwas zu erklären, was für uns Westeuropäer nicht leicht zu verstehen ist." Oder anders ausgedrückt: Er bringt die besten Voraussetzungen mit, die Noch-Christen "da abzuholen, wo sie stehen". Der Traum aller modernen Pastoralstrategen. Oder? 

(Bildquelle hier.) 

Laut eigener Aussage ist katholisch.de "das Internetportal der katholischen Kirche in Deutschland". Dieser Selbsteinschätzung wurde jedoch jüngst vom Pressesprecher der Deutschen Bischofskonferenz, Matthias Kopp, widersprochen: Die Plattform katholisch.de sei "nicht das offizielle Internetportal" der Katholischen Kirche in Deutschland, erklärte Kopp auf Anfrage. Vorausgegangen war dieser Distanzierung des DBK-Sprechers massive Kritik an einer verbalen Entgleisung des Chefs vom Dienst von katholisch.de, Steffen Zimmermann, auf Twitter

Und nun? Bricht die katholisch.de-Redaktion infolge dieses herben Rückschlags in Sachen "publizistische Relevanz" nun zu neuen Ufern auf und schickt sich an, stattdessen offizielles Portal des deutschen Buddhismus zu werden? Falls ja: Glück auf den Weg! Allzu viel verändern müsste man dafür vermutlich gar nicht. Außer vielleicht den Namen des Portals und somit wohl auch die Domain... Warten wir's ab. 



Mittwoch, 15. Februar 2017

Verwechslung am Valentinstag

Gestern ging ich zur Frühmesse in eine kleine, etwas versteckt in einem Wohngebiet gelegene Kirche, in der ich zuvor erst einmal (nämlich an St. Nikolaus) gewesen war. Ich war ziemlich früh dran und traf am Eingang einen etwas älteren Herrn, von dem ich zunächst annahm, er wäre vielleicht der Pfarrer. Tatsächlich war er jedoch, wie sich zeigte, Küster und Ministrant -- und fragte mich, ob ich der Pfarrer wäre! Okay, in einer anderen Kirche wurde ich auch schon mal für den Organisten gehalten, aber dass ich so pastoral aussehe, hätte ich gar nicht gedacht. 

Jedenfalls verneinte ich die Frage, aber in den rund zehn Minuten, die noch vergingen, bis der tatsächliche Zelebrant auftauchte, schmunzelte ich doch ein bisschen bei der Vorstellung, ich hätte den Irrtum des Küsters nicht aufgeklärt. Aufgeflogen wäre ich aber vermutlich spätestens, wenn ich in der Sakristei Anstalten gemacht, hätte, mir ein rotes Messgewand überzuziehen. 
"Ähm, Herr Pfarrer -- heute ist weiß."
"Wieso, Valentin ist doch Märtyrer!?"
"Wir feiern heute aber nicht Valentin, sondern Cyrill und Methodius."
"Oh." 

 Wieder was gelernt. 



Zeit für einen geistlichen Klimawandel! (Teil 2)

Die MEHR-Konferenz ist schon seit über einem Monat vorbei, und noch immer bin ich meinen Lesern die Fortsetzung meiner Reflexionen über dieses Ereignis bzw. die geistlichen Impulse schuldig, die - speziell für mich persönlich - von der Konferenz ausgegangen sind. Da trifft es sich gut, dass ich unlängst im "Kreis junger Erwachsener" der Pfarrei St. Antonius in Berlin-Friedrichshain einen Vortrag über meine Endrücke von der MEHR-Konferenz habe halten dürfen. Einerseits habe ich für diesen Vortrag natürlich auf Passagen meiner bisherigen Blogartikel zur MEHR zurückgegriffen; andererseits und umgekehrt kann ich aber nun wiederum Teile meines Vortragsmanuskripts verbloggen, in denen es um Aspekte geht, zu denen ich mich hier bisher noch nicht oder nur andeutungsweise geäußert habe. 



Vorweg etwas zur Untermauerung meiner in meinem letzten Beitrag zu diesem Thema geäußerten Einschätzung, dass wir geistliche Aufbrüche, wie sie beispielsweise aus der MEHR-Konferenz hervorgehen können, dringend brauchen: Als ich den besagten Vortrag vorbereitet habe, hatte ich eine Art Halbwachtraum, und darin habe ich einen ungefähr 1m x 50 cm x 20 cm großen Kanister aus halb durchsichtigem weißem Plastik gesehen, auf dem "SINN" stand. Aber in dem Kanister war nichts drin. Und ich glaube, so geht es vielen Leuten, die in die Kirche gehen, weil sie hoffen, dort einen Sinn zu finden -- dann aber keinen finden. Zum Beispiel auch, wenn man Theologie studiert – was ich zu meinem Glück nie gemacht habe, aber ich kenne so einige Betroffene. Denen wird erst mal beigebracht, was in der Bibel, und erst recht in der Lehre der Kirche, so alles (angeblich) nicht stimmt. Zum Beispiel "lernen" sie, dass Jesus gar nicht der Sohn Gottes war und die Auferstehung nur irgendwie symbolisch zu verstehen ist, und so weiter – und irgendwann ist der Kanister dann leer. Und wenn man dann feststellt, in diesem Behälter sollte eigentlich ein Sinn stecken, aber ich finde ihn nicht, dann kommt man ganz leicht auf die Idee: 
Dann muss ich den Sinn eben selber machen. 
Und daher - so vermute ich zumindest - kommt dieser ganze sozialpolitische Aktionismus, der seit ungefähr 40 Jahren in den großen Kirchen grassiert. Erst war es das Waldsterben und der Saure Regen, dann kam die Anti-Atomkraft-Bewegung und dann der Klimawandel, und Parallel dazu der Feminismus und der Kampf "gegen Rechts", und heute sind es Gender Mainstreaming und Refugees Welcome. Wohlgemerkt: Ich will gar nicht behaupten, dass das keine wichtigen Themen wären, zu denen es nicht auch aus christlicher Perspektive eine Menge zu sagen gäbe; aber dazu müsste man erst mal darüber reden, worin diese christliche Perspektive eigentlich besteht. Und da hakt's dann vielfach -- weil der Glaube und auch das Glaubenswissen so verkümmert sind, dass es den Anschein hat, das ganze sozialpolitische Engagement erfülle letztlich die Funktion einer Ersatzreligion

Vor diesem Hintergrund habe ich es als sehr wohltuend empfunden, dass es in den diversen Vorträgen auf der MEHR eigentlich immer um ganz grundlegende Fragen ging: Wer ist eigentlich dieser Gott, wer ist Jesus Christus, und was hat das alles eigentlich mit mir zu tun, welche Konsequenzen hat das für mein Leben? Die Antworten, die auf diese Fragen gegeben wurden, waren gar nicht besonders neu oder originell: Im Wesentlichen wurde zu diesen Fragen nichts Anderes gesagt als was die Kirche schon immer gelehrt hat. Nur dass man das in der Kirche bzw. im kirchlichen Umfeld heute vielfach nicht mehr in dieser Deutlichkeit und Klarheit zu hören bekommt. Oft - auch das habe ich schon mehr als einmal angesprochen - ist es ja so, wenn man zu Veranstaltungen von kirchlichen oder kirchennahen Vereinen oder Verbänden geht, dass da entweder überhaupt nicht von Gott die Rede ist, oder wenn doch, dann vielfach nur in einer so distanzierten und verklausulierten Form, dass man den Eindruck hat, die Leute rechnen eigentlich gar nicht damit, dass Gott wirklich existiert - wirklich in DEM Sinne, dass Er in der Welt und im Leben von Menschen WIRKT. 

Ich muss (oder möchte, auch wenn es mir irgendwie leid tut) an dieser Stelle wieder einmal auf meine Heimatgemeinde St. Willehad in Nordenham verweisen. Wie schon erwähnt, wurde dort ungefähr parallel zum Abschlussgottesdienst der MEHR-Konferenz, am Fest Taufe des Herrn, ein Radiogottesdienst für den NDR produziert und live ausgestrahlt. Im zweiten Teil meines Erlebnisberichts von der Konferenz schrieb ich: 
"[I]n gewissem Sinne verstärkten sich die absolut trostlose Grottigkeit dieses Radiogottesdienstes und meine Begeisterung über die MEHR gegenseitig."
Für diese Formulierung musste ich von einem Nordenhamer Leser scharfe Kritik einstecken: 
"Was für ein Hochmut...Kannst Du Dir nicht vorstellen, dass die Leute dort es einfach gut machen wollten, was wenn die Aufnahmeleitung mit der Stoppuhr daneben steht, nicht einfach ist? Sich darüber zu erheben ist sehr billig[.]"
Hier liegt nun allerdings ein massives Missverständnis vor. Dass "die Leute dort es einfach gut machen wollten", daran zweifle ich überhaupt nicht. Um die, sagen wir mal, "technische" Qualität der Gottesdienstgestaltung geht es mir aber auch gar nicht. Nicht viel später war ich in St. Antonius bei einer Vesper mit Eucharistischer Anbetung; da war der Psalmengesang der Gemeinde melodisch teilweise ziemlich wacklig, und die Messdienerin, die dem Zelebranten zum Eucharistischen Segen das Pluviale umhängte, stellte sich etwas ungeschickt an (was, wenn es eine Live-Übertragung in Funk oder Fernsehen gegeben hätte, dem Aufnahmeleiter vermutlich zu dem einen oder anderen grauen Haar verholfen hätte) - aber hat mich das gestört? Nicht die Bohne! Es war trotzdem eine schöne und würdige Feier. Ebenso hätten mich auch beim Nordenhamer Radiogottesdienst ein paar schiefe Töne vom Cäcilienchor oder der Musikgruppe "Jubilate" nicht sonderlich gestört; meine Einschätzung, hier könne man "der Volkskirche beim Abnippeln" zusehen, bezog sich vielmehr auf die gähnende geistliche Leere, die dieser Gottesdienst ausstrahlte. Das illustriere ich am besten mal durch ein paar Auszüge. 

Erst einmal: Wie nennt man eigentlich diese je nach charakterlicher Disposition und Amtsverständnis des Zelebranten mal mehr, mal weniger programmatische (und mal mehr, mal weniger ausufernde) Ansprache nach dem Eröffnungssegen? Gibt es dafür überhaupt eine offizielle Bezeichnung? Na, nennen wir sie mal "Begrüßung". 
"Liebe Mitchristen, liebe Hörerinnen und Hörer,
das heutige Fest der Taufe Jesu erinnert an die eigene Taufe. Im Wasser des Gottesgeistes hat uns Gott Seine Annahme und Liebe zugesagt. Im Bund der Taufe bestätigt Er unsere Menschenwürde, die jedem Menschen unbedingt zusteht - auch dem Nichtgetauften. Das ist die Freude des heutigen Tages." 
Achso?! -- Dass die Menschenwürde auch Nichtgetauften zusteht, ja klar, keine Einwände. Aber wieso braucht es dann die Taufe, um diese Menschenwürde zu bestätigen? Inwiefern soll DAS "die Freude des heutigen Tages" sein? Wird die Predigt dieses Rätsel auflösen? 
"Liebe Mitchristen, liebe Kommunionkinder, liebe Hörerinnen und Hörer,
'Du bist mein geliebter Sohn!' - Welcher Junge strahlt nicht, wenn er diese Worte von Vater oder Mutter hört? Oder das Mädchen, das von den Eltern hört: 'Du bist meine geliebte, unsere geliebte Tochter!'?"
"Wenn Eltern das sagen, meinen sie: 'Du gehörst zu uns. Wir lieben dich. Wir freuen uns, dass du da bist.' Das Kind weiß sich geborgen und angenommen. Auch das Jesuskind hat sich von Anfang an geliebt gefühlt von Maria und Josef. [...] Und Maria und Josef haben ihm die Liebe Gottes, die Liebe zu Gott von Anfang an vermittelt. Und so zieht es Jesus immer stärker zu diesem Gott des Lebens, zu dem er betet, von dem er hört, der ihm so nahe gebracht wird von Maria und Josef und anderen." 
Momentchen mal - wird hier gerade die Göttlichkeit Jesu geleugnet? That's Adoptianism, Patrick! Spätestens hier hätte eigentlich die erste Tomate fliegen müssen. 
"Und je weiter er wächst, umso sicherer wird in ihm die Erkenntnis: Ich bin von Ihm gerufen und von Ihm in besonderer Weise erwählt. Sodass er sich dann - er ist schon 30 - entscheidet, [sich] im Jordan von Johannes dem Täufer taufen zu lassen. [...] Und dann: Der Geist Gottes, in Gestalt einer Taube, kommt herab auf ihn und zeigt ihm die Gegenwart Gottes. Und dann diese Stimme aus dem Himmel, die Stimme Gottes. 'Du bist Mein geliebter Sohn, an dem Ich Gefallen gefunden habe.' Es wird ihm durch und durch gegangen sein, liebe Mitchristen!" 
Mir geht's ebenfalls durch und durch, liebe Leser. Aber sowas von. -- Ich überspringe hier mal ein größeres Stück der Predigt; besser wird's nämlich nicht. Wohl aber schlimmer: 
"Wir leben doch in einer Welt der Gegensätze: Da sind Herzlichkeit, Hilfsbereitschaft, Menschenfreundlichkeit, und zugleich erfahren wir auch eine verstörende Brutalität und Aggressivität und menschenverachtendes Verhalten. Es gibt Überfluss und es gibt Mangel. Menschen, denen es gut geht, und andere, die nicht ein noch aus wissen mit ihrem Leben." 
Und der Rasierpinsel liegt immer noch im Klo. 
"Die Eltern wünschen sich, dass sich ihr Kind dem Leben, dem Guten zuwendet. Dass es seine Menschlichkeit entfaltet, und sie spüren, dass das mit der Hilfe Gottes besser [!] gelingt, als wenn sie diesen Glauben und dieses Vertrauen nicht haben. Dafür steht Jesus - Jesus der Christus, und seine gelebte Menschenfreundlichkeit." 
Ich glaube, es hackt. 
"Jesus ist Vorbild und Weggefährte für uns Christen. [...] Heute sind wir hier zur Messfeier gekommen, um uns von Jesus inspirieren, stärken zu lassen." 
Na schön. Aber ist das schon ALLES? - Wie so viele schlechte Predigten enthielt auch diese Predigt durchaus so einige Aussagen, die für sich selbst gesehen nicht unbedingt falsch sind, die aber dadurch, dass ihnen etwas Wesentliches fehlt, im Endergebnis schief und fragwürdig werden. So entsteht ein halbwahres, bedarfsgerecht zurechtgestutztes - nein, sagen wir geradeheraus: verkrüppeltes -, harmloses, politisch korrektes und letztlich ganz diesseitig ausgerichtetes Kuschelchristentum, das keinen Hund hinter dem Ofen hervorlockt. Manchmal möchte ich laut schreien: "Wenn Ihr den Leuten nicht MEHR zu bieten habt als DAS, dann lasst es doch einfach! Macht den Laden dicht, dann können wir alle sonntags ausschlafen." Aber im Ernst gesagt ist das natürlich keine Option. Solange das Opfer der Eucharistie gefeiert wird, ist eine Heilige Messe eine Heilige Messe, und wenn man, um an der Feier der Eucharistie teilnehmen zu können, erst mal einen grottigen Wortgottesdienst ertragen muss, dann muss man da als treuer Katholik eben durch. Aber was wird aus dem Glauben derer, die in Sachen Verkündigung immer nur diese fade Wassersuppe vorgesetzt bekommen? 

Es hat vielfach den Anschein, dass heutige Pastoralstrategen meinen, eine klare und unverkürzte Verkündigung von Glaubenswahrheiten sei den Menschen heutzutage einfach nicht mehr zuzumuten. Dass diese Einschätzung irrig ist, ja, dass eine klare und auch herausfordernde Glaubensverkündigung heute wie zu allen Zeiten begeistern kann, war auf der MEHR sehr schön zu sehen. Ich möchte hier mal einige Kerngedanken der dort gehörten Vorträge und Predigten skizzieren, von denen ich meine, dass man sie in der Kirche und allgemein im "kirchlichen Umfeld" viel zu selten in dieser Deutlichkeit zu hören bekommt:  
  • Ja, es stimmt: Wir alle sind von Gott unendlich geliebt. Und zwar so sehr geliebt, dass Er Seinen Sohn zu unserem Heil hat sterben lassen. 
  • Durch Jesu Tod und Auferstehung sind wir von Sünde und Tod erlöst, das heißt: Das "Werk unserer Erlösung" (um es mal in liturgischer Sprache auszudrücken) ist bereits vollbracht, wir müssen es nicht selbst vollbringen. Das könnten wir nämlich gar nicht. Denken wir mal zurück an den Anfang, an den Kanister, wo SINN draufsteht – es könnte auch HEIL draufstehen, das würde den Kern der Sache eigentlich genauer treffen. Der Kanister ist nicht leer, wir müssen ihn nicht selbst füllen. 
Hier droht nun freilich ein Missverständnis. Das wurde mir unlängst im Rahmen einer langen Diskussion deutlich, die ich mit jemandem führte, den ich im Anschluss einer Open-Mic-Lesung in einer Buchhandlung kennen lernte. Der Standpunkt meines Gesprächspartners lässt sich in etwa so zusammenfassen: Wenn Christus uns Menschen bereits erlöst hat (und wir selbst zu dieser Erlösung gar nichts beitragen konnten), wieso reden wir dann überhaupt noch über Sünde und mühen uns damit ab, ein gottgefälliges Leben zu führen? Erstens können wir Gerechtigkeit vor Gott sowieso nicht durch unser Tun und Lassen erreichen, und zweitens müssen wir es ja auch nicht, denn Christus hat uns ja erlöst. Darauf kann man zunächst mal erwidern (und habe ich erwidert): Dass die Sünde, obwohl Christus sie am Kreuz prinzipiell besiegt hat, dennoch nicht aus der Welt ist, das sieht man doch mit bloßem Auge. Hinzuzufügen wäre: Gerade weil Gott die Menschen (und zwar alle) unendlich liebt, kann es Ihm nicht gleichgültig sein, wenn Menschen einander und sich selbst Schaden zufügen; und es kann Ihm auch nicht gleichgültig sein, wenn Menschen sich von Ihm und Seiner Liebe abwenden. Aber das tun Menschen nach wie vor, und da kommt der Begriff der Sünde ins Spiel. Nun liegt es auf der Hand, dass mein Gegenüber fragen kann und wird: Wenn die Sünde nach wie vor in der Welt ist und Menschen nach wie vor sündigen, was bedeutet es dann, zu sagen, dass Christus die Sünde besiegt habe? Ich gebe zu, die Frage ist knifflig, und ihr so gründlich nachzugehen, wie sie es verdient, würde hier und jetzt den Rahmen sprengen; kurz und schlicht gesagt würde die Antwort lauten: Gott hat uns Menschen frei geschaffen, und diese Freiheit beinhaltet, dass wir die durch Christus bewirkte Erlösung annehmen können oder auch nicht

Was mich übrigens daran erinnert, was Pater Cantalamessa in seinem Vortrag auf der MEHR zu der bekannten Stelle aus dem Jakobusbrief zum Thema "Glaube ohne Werke ist tot" (vgl. Jak 2, 14-26) ausgeführt hat; ich paraphrasiere mal: Zu der durch Christus bewirkten Erlösung kann der Mensch aus eigener Kraft nichts beitragen. Ein Kind kann auch nichts aus eigener Kraft dazu beitragen, dass es gezeugt wird. Wenn das Kind aber geboren ist, dann muss es anfangen zu atmen, sonst stirbt es. Ebenso kann auch die von Gott geschenkte Gnade der Erlösung im Menschen verkümmern und sterben, wenn der Mensch nicht ihr gemäß handelt

Das hängt eng zusammen mit einem weiteren Grundgedanken, den ich mir notiert habe: 
  • Gerade weil das Werk unserer Erlösung bereits vollbracht ist, können wir auch als erlöste Menschen leben: frei von Menschenfurcht, frei von der Angst, im Leben "zu kurz zu kommen" oder "etwas zu verpassen". Und nicht zuletzt: frei von der Angst vor dem Tod. Letztlich lassen sich nämlich alle Ängste auf diese eine Angst zurückführen: Wir wissen, dass wir sterben müssen, und das verführt uns zur Sünde - wenn wir versuchen, auf Teufel komm raus alles aus diesem Leben rauszuholen, was geht. Aber das müssen wir nicht - weil Christus den Tod überwunden hat. Und Er hat uns Leben in Fülle zugesagt (vgl. Joh 10,10). 
  • Und schließlich, ganz wichtig: Wenn wir, wie es im 1. Johannesbrief (4,16) heißt, die Liebe Gottes "erkannt und gläubig angenommen" haben, dann sollte es eigentlich ganz natürlich sein, dass wir diese Liebe auch Anderen mitteilen wollen. Das ist im Kern das christliche Verständnis von Mission: Zeugnis abzulegen von der Liebe Gottes. Christus hat uns erlöst, aber gleichzeitig hat Er uns auch in Seine Nachfolge berufen. 
Für mich persönlich war gerade dieser missionarische Impuls ein enorm wichtiger Aspekt der MEHR-Konferenz; und zwar (für mich persönlich, wie gesagt) gar nicht so sehr im Sinne von "Erstverkündigung" in entlegenen Gegenden der Welt (so notwendig selbstverständlich auch das ist), sondern vielmehr im Sinne von Neuevangelisation vor der eigenen Haustür. Von der Notwendigkeit einer neuen Evangelisierung Europas sprach u.a. Pater Cantalamessa in seiner Predigt zum Hochfest Erscheinung des Herrn - und verwies darauf, dass es diese Notwendigkeit in der Kirchengeschichte schon einmal gegeben habe: im 4. und 5. Jh., zur Zeit der "Barbarischen Invasion" (die im deutschen Sprachgebrauch gängige Bezeichnung "Völkerwanderung" fiel der Dolmetscherin wohl auf die Schnelle nicht ein). "Die Situation war gar nicht so viel anders als heute", meinte der Päpstliche Hausprediger - und einige Zuhörer zuckten an der Stelle ganz schön zusammen: political correctness ist was Anderes... Pater Cantalamessa erinnerte an die Taufe Chlodwigs durch den Hl. Remigius im Jahr 498 und zitierte die Worte, die der Bischof von Reims dabei der Überlieferung zufolge gesprochen haben soll: 
"Neige dein Haupt, du stolzer Sicamber, und unterwirf es dem sanften Joch Christi! Bete an, was du verbrannt hast, und verbrenne, was du angebetet hast!" 
Und heute, so Pater Cantalamessa weiter, sei es an der Zeit, zu der säkularisierten westlichen Kultur zu sagen: "NEIGE DEIN HAUPT!" (Pater Cantalamessa predigte auf Englisch, und man muss erlebt haben, wie der sonst so jovial und charmant 'rüberkommende Kapuzinerpater an dieser Stelle ins Mikrofon donnerte: "BOW YOUR HEAD!") 

Auch in dem schon an anderer Stelle einlässlich gewürdigten Vortrag von Ben Fitzgerald nahm die Notwendigkeit eines neuen geistlichen Aufbruchs in Europa eine zentrale Stellung ein; und natürlich war der Missionsgedanke auch in den Vorträgen von Johannes Hartl ausgesprochen präsent. Exemplarisch möchte ich mal eine Passage aus seinem Vortrag "Der Duft der Hoffnung" zitieren:
"Lasst uns Jesus nicht kleinlich lieben. Ich kenne so viele Menschen, die nur überleben wollen. Die mit Jesus nur überleben wollen. [Die wollen,] dass alles sicher ist. Es gibt so wenige Menschen, die sich überhaupt die Frage stellen: Herr, kann es sein, dass Du mich berufst, in die Mission zu gehen in ein schwieriges Land? Kann es sein, dass Du mich berufst, ehelos zu leben für Dich? Kann es sein, dass Du mich berufst, komplett was Anderes zu machen, mich hinzugeben für Dich? Leute: Heute, an diesem Tag, geben Christen ihr Blut für Jesus. Und Jesus ist es wert!" 
Hand aufs Herz: Wann haben wir solche oder ähnliche Töne zuletzt in einer Predigt in der Kirche gehört? 

Nun ist es sicher so, dass ein heroischer Tugendgrad nicht von Jedem zu erwarten oder gar zu verlangen ist. Aber wenn wir von Heroismus reden, ist es recht interessant, was Pater Cantalamessa in seinem Vortrag am vorletzten Konferenztag mit Bezug auf Sören Kierkegaards Gegenüberstellung des "Helden" und des "Poeten" sagte: Ein Held sei jemand, der große Taten vollbringe und sogar den Tod herausfordere; ein Poet dagegen verwirkliche sein Genie in der Bewunderung. "Für uns Christen ist natürlich Jesus dieser Held", führte der Päpstliche Hausprediger aus. "Er hat für uns den Tod besiegt." Nun können wir zwar nicht das tun, was Jesus getan hat - und müssen es ja auch nicht, da Er, siehe oben, es ja schon getan hat -, "aber wir können Seine Poeten sein" - indem wir Seinen Ruhm in die Welt heraustragen, die Begeisterung für Ihn in anderen Menschen wecken.

Auch das ist aber natürlich nicht immer einfach und erfordert Mut. Kierkegaard in allen Ehren, aber ein bisschen was von einem Helden (nach dem Vorbild Christi, versteht sich) muss der Christ wohl auch haben, wenn er missionarisch wirken will. Folglich trug Johannes Hartls Abschlussvortrag den Titel "Erwecke die Helden". Ich lasse hier mal einige Auszüge, die mir besonders gut gefallen haben, für sich selbst sprechen:
"Das ist die Essenz eines Helden: Nicht erst darauf warten, dass alle anderen mitmachen. [...] Ein Held tut das nicht, weil er dafür Applaus erntet, sondern er tut das, weil es richtig ist. Wir haben diese Tugend ein bisschen verlernt: Dinge zu tun, weil sie richtig sind."  
"Wenn du Angriffe bekommst, ist das ein gutes Zeichen. Weil, wenn du ein Soldat bist und hängst irgendwo im Wald rum und schießt immer in eine Richtung, und dann schießt nie jemand zurück -- ist das gar kein so gutes Zeichen. Das ist vielleicht eher ein Zeichen, dass du auf verlorenem Posten oder gegen Windmühlen kämpfst. Wenn jemand zurückschießt, machst du irgendwas richtig."  
"Sterben musst du sowieso. Aber nicht jeder, der stirbt, stirbt aus Liebe. Viele sterben einfach nur bei dem verzweifelten Versuch, möglichst lange zu überleben und möglichst alles mitzunehmen. Du bist zu Größerem berufen als das."  
"Jesus sagt: Ihr seid das Salz der Erde. Glaubst du, dass das Salz in der Suppe schwimmt und sagt: 'Alles um mich rum ist so fad!'? Ihr seid das Licht der Welt! Das Licht, sagt das 'Das ist aber blöd, dass es so dunkel ist überall'? - Dafür bist du dort!"
Und schließlich:
"Wir sind am Ende dieser Konferenz, und das ist auch kein Problem - weil du weißt, was du jetzt zu tun hast. [...] Du bist gesandt. Du bist gerufen. An den Ort, an den du jetzt zurückgehst." 
Tja. "Du weißt, was du zu tun hast", hat er gesagt, der Hartl. Da stellt sich nun die Frage: Weiß ich das? Ich habe das durchaus als eine Anfrage an mich ganz persönlich wahrgenommen: Was tue ich eigentlich für das Reich Gottes? Na gut: bloggen. Man könnte immerhin sagen, das ist schon mal mehr als nichts. Nun lautete das Motto der Konferenz aber ja nicht umsonst MEHR. Wie Weihbischof Wörner in seiner Predigt beim Abschlussgottesdienst der Konferenz sagte: "Es gibt noch viel Luft nach oben – drum sind wir heute hier. [...] Ihr geht anders von dieser MEHR weg, als ihr hergekommen seid." Ähnlich Pater Cantalamessa: "Keiner sollte von dieser Versammlung so nach hause gehen, wie er gekommen ist." Also habe ich mich gefragt, ob ich nicht noch MEHR tun kann. Glücklicherweise hat die Konferenz nicht nur diese Frage aufgeworfen, sondern auch gleich ein paar Anregungen geliefert, wie man sie beantworten kann. Zum Beispiel:


  • MEHR BETEN.
"Alles Große, Gute und Echte wird im Gebet geboren." Das ist eine Grundüberzeugung der Leute vom Gebetshaus Augsburg, und man kann sagen, wenn man sich anschaut, wie sich das Projekt über die letzten Jahre entwickelt hat, dann ist da offenbar was dran. "Das Zentrum des Universums, das Zentrum von allem Sein ist Anbetung", erklärte Johannes Hartl in einem seiner Vorträge, und in einem Anderen: "Echte Reich-Gottes-Frucht wächst im Gebet." Auch Pater Cantalamessa betonte in seiner Predigt zum Fest Erscheinung des Herrn: "Neuevangelisation beginnt in der Anbetung und führt zur Anbetung." (Dass er in besonderem Maße auch von der Eucharistischen Anbetung sprach, kam in der Übersetzung nicht so rüber, denn die Übersetzerin kam erkennbar aus einem evangelisch-freikirchlichen Hintergrund und kannte sich, wie sie selbst zugab, mit Spezifika der katholischen Glaubenspraxis ganz und gar nicht aus.) "Eine der großartigsten Gaben, die der Heilige Geist heute der Kirche gibt, ist ein neues Bewusstsein und ein neuer Hunger nach Anbetung", so Pater Cantalamessa weiter; zudem stellte er klar: Nicht Gott hat es nötig, dass Seine Geschöpfe Ihn anbeten; WIR haben es nötig, denn in der Anbetung Gottes wachsen wir über uns selbst hinaus. -- Ein weiterer wichtiger Gedanke: Der Sinn des Gebets, auch des bittenden Gebets, liegt nicht darin, bei Gott wie beim Weihnachtsmann die Dinge, die man sich wünscht, quasi zu "bestellen"; und auch nicht so sehr, Gott zu erzählen, wie's einem so geht – das weiß Er auch so –, sondern den eigenen Willen mit Gottes Willen in Einklang zu bringen. Und wenn man DAS hinkriegt, dann weiß man auch, was man zu tun hat. 

  • Die leidige Menschenfurcht überwinden.
Ein heikles Thema, besonders für mich – aber sicher auch für viele Andere. Der Witz ist: Man kann das üben. Ich übe es. 

  • Nicht ewig herumtheoretisieren, sondern einfach mal anfangen.
Meine Liebste und ich tragen uns ja schon eine ganze Weile mit Ideen zu einem Projekt, das ich gern etwas augenzwinkernd als "Punk-Pastoral" bezeichne. Der Grundgedanke dabei ist, Anlaufpunkte zu schaffen, um auf eine zwanglose Art Leute zu erreichen, die zwar auf der Suche nach Sinn und Orientierung sind – wir erinnern uns: der Kanister! –, die aber von sich aus eher nicht auf die Idee kommen würden, dass sie die ausgerechnet im christlichen Glauben und konkret in der Katholischen Kirche finden können. Ein paar Ansätze dazu, wie so etwas aussehen könnte, hatten wir wie gesagt schon gehabt, aber noch kein richtiges Konzept. Man kann sagen, ein Grund für uns, zur MEHR-Konferenz zu fahren, war gerade, dass wir uns da Impulse für unser Projekt erhofft haben. Und die haben wir auch bekommen.Vorher war ich noch auf dem Standpunkt gewesen: "Das muss alles noch zu Ende gedacht werden". Jetzt sage ich: Nö, muss es GAR nicht! Lass uns einfach irgendwie anfangen, dann werden wir schon sehen, wohin sich das entwickelt. Unmittelbar nach der Konferenz waren wir beide in der Stimmung, zu sagen: Lass uns SOFORT anfangen. Das ist jetzt über einen Monat her, woran ihr sehen könnt, dass es mit "sofort" nicht so GANZ geklappt hat; aber immerhin haben wir seitdem schon mal ein paar Schritte unternommen, um demnächst loslegen zu können. Genaueres werde ich verraten, wenn es soweit ist.

Viertens und letztens:

  • Keine Angst vor dem Scheitern haben!
Du kannst nie tiefer fallen als in Gottes Hand. Das klingt zwar wie ein Postkartenspruch, und ehrlich gesagt ist es auch einer. Aber wahr ist es trotzdem. Außerdem musst du nicht die Welt retten. Das hat Jesus schon getan. 




Freitag, 3. Februar 2017

Das Wort der Bischofskonferenz

Freitag, 12 Uhr. Zehntausende Gläubige versammeln sich erwartungsvoll vor dem barocken Palast der Deutschen Bischofskonferenz. Auf der Loggia erscheint ein Ausrufer in Chorhemd etc. 

Ausrufer: Gelobt sei Jesus Christus! 

Menschenmenge: In Ewigkeit, Amen! 

Ausrufer: Hören Sie nun das Wort der Deutschen Bischofskonferenz. (ab.) 

(Kardinal Marx oder ein anderes Mitglied der Bischofskonferenz, das per Losentscheid oder aufgrund seiner Zuständigkeit für ein bestimmtes Thema dazu bestimmt wurde, das Wort zu verkünden, betritt in vollem Ornat die Loggia.) 

Kardinal bzw. Bischof: "Zahnhalskaries"! (ab.) 

(Menschenmenge jubelt.) 

****** 

Kurzkritik:


Donnerstag, 2. Februar 2017

Valerie in Space oder Wer sein Leben retten will...

Laut dem 2. Kapitel des Buches Genesis wurde Eva auf Adams Wunsch hin erschaffen, weil dieser im Paradies nicht allein sein wollte. Wie Eva sich dabei fühlte, ist nicht überliefert. 

Dieser Frage - so könnte man cum grano salis behaupten - geht der Film Passengers (USA 2016, Regie: Morten Tyldum) nach, den meine Liebste und ich uns auf Empfehlung unserer MEHR-Bekanntschaft Franz angesehen haben. Ohne diese Empfehlung hätten wir ihn uns wohl eher nicht angesehen, denn mein Eindruck von der im Foyer unseres bevorzugten Kinos ausgehängten Kurzbeschreibung des Filminhalts ließe sich in etwa so zusammenfassen: 
"Science-Fiction-Film mit integrierter Liebesgeschichte? Och nö." 
Tatsächlich trifft diese Kurzbeschreibung den Charakter des Films allerdings kaum. Vielmehr ist Passengers ein hervorragendes Beispiel dafür, wie man die gängigen Stil- und Handlungselemente des SF-Genres gewissermaßen als Metaphern nutzen kann, um durchaus tiefschürfende ethische und "lebensphilosophische" Fragen zu verhandeln. 

Die Ausgangssituation des Films ist Freunden der Science Fiction nicht fremd: Das Raumschiff Avalon soll 5.000 Kolonisten von der überbevölkerten Erde auf einen noch weitgehend unerschlossenen Planeten bringen, wo sie die Aussicht lockt, sich ein ganz neues Leben aufbauen zu können. Da die Reise 120 Jahre dauern soll, sind die Passagiere in Hyperschlaf versetzt worden - einen todesähnlichen Zustand, in dem sie nicht altern. 

Doch nach nur einem Viertel der Reisezeit kollidiert die Avalon mit einem Meteoriten. Dem äußeren Anschein nach übersteht das Schiff diesen Unfall zwar weitgehend unbeschadet, aber eine Fehlfunktion an einer der Schlafkapseln führt dazu, dass ein Passagier - Jim Prescott (Chris Pratt), Mechaniker aus Colorado - vorzeitig "aufgeweckt" wird. Eine holographische Begrüßung teilt ihm mit, das Reiseziel werde in vier Monaten erreicht werden und er sei geweckt worden, um in der verbleibenden Zeit für das Leben auf dem neuen Planeten geschult zu werden und ansonsten die Annehmlichkeiten des Lebens auf dem Schiff zu genießen. Die Avalon ist nämlich ausgestattet wie ein Wellness-Hotel - einschließlich des Umstands, dass man für alle Services, die man in Anspruch nimmt, mit einem ID-Chip in einem Armband "bezahlt". Es dauert eine Weile, bis Jim bemerkt, dass etwas nicht stimmt. Wäre mir auch so gegangen. Ist doch toll, allein im Wellness-Hotel zu sein. Nur der Kaffeeautomat macht Ärger: Da Jim kein Passagier der "Gold-Klasse" ist, gibt's für ihn keinen Chai-Latte und keinen Frappuchino, sondern nur Standard-Kaffee. (Deshalb hat übrigens Trump gewonnen, aber das nur nebenbei.) 

Dass außer ihm niemand auf dem Schiff wach ist, kommt Jim dann aber doch komisch vor - und unter erheblichen Schwierigkeiten findet er schließlich heraus, dass die Ankunft auf dem Zielplaneten nicht nur vier Monate, sondern rund 90 Jahre entfernt ist. Die Erkenntnis, dass er, wenn es ihm nicht gelingt, sich erneut in Hyperschlaf zu versetzen, mutterseelenallein auf dem Schiff altern und sterben wird, erschüttert ihn begreiflicherweise erheblich. Zunächst versucht er mit Hilfe seiner Mechaniker-Fertigkeiten alles, um eine Lösung für sein Problem zu finden: die Schlafkapsel reparieren, in die Räume der Crew eindringen (die natürlich ebenfalls im Hyperschlaf liegt), einen Notruf an die Erde absetzen (was zwar gelingt, aber die Übermittlung der Nachricht wird 19 Jahre dauern, und mit einer Antwort ist frühestens in 55 Jahren zu rechnen). Als sich jedoch alle Bemühungen als sinnlos erweisen, bleibt ihm als Trost nur Whisky - kredenzt von Arthur (Michael Sheen): von der Hüfte aufwärts ein perfekter Barkeeper, weiter unten jedoch nur ein Metallgestell. Ja, Arthur ist ein Roboter - beziehungsweise, wie er mit Stolz betont, ein Android. 

Nach einigen Monaten ist Jim drauf und dran, Selbstmord zu begehen, aber dann fällt ihm eine schlafende Mitpassagierin namens Aurora Lane (Jennifer Lawrence) auf, von der er spontan fasziniert ist. Ihm kommt der Gedanke, wenn er schon seine eigene Schlafkapsel nicht reparieren kann, könnte er doch Auroras Kapsel sabotieren, damit sie ebenfalls aufwacht und er nicht mehr allein ist. Was allerdings bedeuten würde, dass er auch sie dazu verurteilen würde, auf dem Schiff alt zu werden und aller Voraussicht nach lange vor dem Erreichen des Bestimmungsorts zu sterben. Mit den ethischen Implikationen dieser Entscheidung schlägt er sich monatelang herum - tut es aber schließlich doch, und das muss ja auch so sein, denn sonst käme die Handlung des Films ja nicht voran. 

Aurora macht nun im Schnelldurchlauf dieselben Reaktionsphasen durch, die Jim schon hinter sich hat: Verwirrung; Schock über die Tatsache des vorzeitigen Erwachens; verzweifelte Versuche, eine (technische) Lösung für das Problem zu finden; Resignation. Ich muss an dieser Stelle gestehen, dass ich nicht ganz das Maß an Empathie aufbringen konnte, das der Film von seinen Zuschauern eigentlich erwartet; und zwar deshalb, weil ich Aurora von Anfang an doof fand. In der Phase des Films, in der Aurora sich allmählich mit Jim anfreundet, raunte ich meiner Liebsten zu: "Das erinnert irgendwie an Valerie und der Priester." Dieser Gedanke kam derart aus dem Nichts, dass ich im Grunde überrascht war, als meine Liebste mir lakonisch und unumwunden zustimmte. Aber so ist sie nun mal, meine Liebste

Woher aber kam denn nun diese Assoziation? Sicherlich nicht nur daher, dass Aurora blond ist und angeblich hübsch sein soll. Auch nicht nur daher, dass sie von Beruf "writer" ist (was auf Deutsch sowohl "Schriftstellerin" als auch "Journalistin" bedeuten kann und hier offenbar tatsächlich beides umfasst). Wobei das wirklich ein interessanter Aspekt ist, aber dazu in Kürze mehr. Und auch dass so explizit betont wird, dass Jim, der Mechaniker aus Colorado, und Aurora, die Schreiberin aus New York, sich unter anderen Umständen nie kennengelernt hätten, ja geradezu aus "verschiedenen Welten" stammen, ist noch nicht der zentrale Punkt. Ausschlaggebend für meine spontane Assoziation war wohl eher eine Passage aus einem der jüngsten Valerie und der Priester-Blogbeiträge, die mir beim flüchtigen Überfliegen des Texts ins Auge gefallen war. Da reflektiert Valerie über die Radikalität der Entscheidung fürs Priesteramt und kommt zu dem Schluss, für sie käme so etwas - ganz abgesehen davon, dass Frauen ja ohnehin nicht Priester werden können - nie in Frage; schon allein deshalb, 
"weil die Angst, etwas zu verpassen, mich [...] umtreiben würde. Mein jetziges Leben würde als Dauerschleife in meinem Kopf ablaufen und ich würde nur zurückwollen." 
Wie dieses "jetzige Leben" aussieht, das Valerie nicht aufgeben mag, davon vermittelt der chronologisch nächste Artikel auf ihrem Blog einen Eindruck. Um die Häuser ziehen, Freunde treffen, Party machen. Klar: Das ist was Schönes. Allerdings bliebt kein Mensch, so gern er es vielleicht möchte, für immer Mitte 20. Und dann fiel mir auf, dass man die oben zitierten Sätze so oder so ähnlich auch von vielen Frauen in Valeries Alter hören kann, wenn sie darüber reden, dass und warum sie ("noch") keine Kinder wollen. Zum Beispiel. Und der Gedanke machte mich traurig. Wenn man aus "Angst, etwas zu verpassen", vor einschneidenden Veränderungen im Leben zurückschreckt, läuft man dann nicht gerade Gefahr, etwas Wesentliches zu verpassen? "Hold on to 16 as long as you can", hat John "Cougar" Mellencamp mal gesungen; ich mag den Song, aber ich glaube, mittlerweile würde Mellencamp (heute 65 und fünffacher Vater) das auch anders sehen. Und wo ich gerade dabei bin, mit Zitaten um mich zu werfen: Der große Lyriker Robert Frost (1874-1963) sagte bzw. schrieb einmal: 
"Alles, was ich über das Leben gelernt habe, lässt sich in drei Wörtern zusammenfassen: Es geht weiter.
Dat's da point: Das Leben geht weiter, aber das heißt eben auch: Es bleibt nicht stehen. 

Und genau das ist im Grunde Auroras Problem. 

Wie man erfährt, war es ihr Plan, nur ein Jahr lang auf dem Kolonieplaneten zu bleiben und dann zur Erde zurückzufliegen, um dort aus erster Hand über das Leben in den Kolonien zu berichten. Das macht nämlich sonst keiner. Eine einmalige journalistische Chance - kommt uns diese Formulierung irgendwie bekannt vor? Dass die Erde, wenn Aurora nach rund 250 Jahren dorthin zurückkehren würde, nicht mehr derselbe Ort wäre, den sie kannte, scheint ihr nur so halb bewusst zu sein. Erst als sie sich ein Video ansieht, das ihre Party-Freundinnen vor ihrer Abreise für sie aufgenommen haben, dämmert ihr, dass das Leben, das sie kannte, so oder so vorbei ist. Eine bewegende Szene, die sehr eindringlich auf den Punkt bringt, wie der Versuch, die eigene aktuelle Lebenssituation zu konservieren, sich selbst ad absurdum führt. 

Valerie und das Frühstück (Goldklasse).
(Bildquelle hier.) 
Mit dem Scheitern ihrer Zukunftspläne konfrontiert, freundet Aurora sich zunächst mit Jim an und verliebt sich bald heftig in ihn - was bliebe ihr auch Anderes übrig? Eine Zeit lang genießen Jim und Aurora ihre Zweisamkeit in vollen Zügen; immerhin befinden sie sich auf einem Wellness-Raumschiff mit allen Schikanen, einschließlich einer Hammer-Aussicht (besonders wenn die Avalon ein Manöver fliegt, um einem Roten Riesen auszuweichen). Doch dann erfährt Aurora durch eine arglose Äußerung von Barkeeper-Android Arthur, dass Jim sie absichtlich aufgeweckt hat -- und reagiert geschockt und wütend. Zugegeben: Dass Jim kein Recht dazu hatte, auf diese Weise in ihr Leben einzugreifen, ist unstrittig, das räumt er auch selbst ein. Aber nun ist die Situation einmal so, wie sie ist, und man muss irgendwie damit umgehen. Interessant ist, was genau Aurora Jim vorwirft: nämlich, dass er ihr ihr Leben weggenommen habe. Aber welches Leben? Nun ja: ihr zukünftiges, und somit ein rein hypothetisches. Man könnte sagen, er habe ihr dafür ein anderes gegeben; dieses ist real und, wie man gesehen hat, durchaus nicht schlecht. Schlecht wird es erst, als Aurora sich mit Jim überwirft; mit anderen Worten: in dem Moment, als sie die Möglichkeiten, die ihr reales Leben ihr bietet, verschmäht, weil sie einem verlorenen hypothetischen Leben nachtrauert. Das Raumschiff, dem beide Protagonisten nicht entfliehen können, erweist sich hier als ambivalenter Ort: Je nachdem, welche Haltung seine Bewohner zu ihm einnehmen, kann er sowohl Paradies als auch Hölle sein. 

Aus dramaturgischer Sicht ist es freilich klar, dass das Zerwürfnis zwischen Jim und Aurora letztlich zu nichts führt und daher nicht ewig andauern kann. Und nun, liebe Freunde, fangen die Spoiler an. Überlegt euch also gut, ob ihr weiterlesen wollt. 

Nachdem sich schon seit einiger Zeit kleinere bis mittelschwere Fehlfunktionen der Schiffstechnik gehäuft haben, fällt schließlich noch eine weitere Schlafkammer aus - diesmal die eines Crewmitglieds, des Deckoffiziers Gus Mancuso (wie immer großartig: Lawrence Fishburne). Mancusos Aufwachen erweitert den Aktionsradius der Protagonisten erheblich, denn mit seiner Hilfe haben sie Zugang zu allem Bereichen des Schiffes und Zugriff auf alle Funktionen des Bordcomputers. Vor allem aber will Mancuso den technischen Defekten an Bord auf den Grund gehen - und dabei stellt sich heraus, dass die durch den Meteoriteneinschlag zu Beginn der Filmhandlung verursachten Schäden gravierende Langzeitfolgen haben: Das Betriebssystem des Schiffs ist chronisch überlastet, und der Fusionsreaktor, der die Avalon antreibt, droht zu kollabieren. 

An dieser Stelle wird nun endgültig und auf dramatische Weise deutlich, wie sinnlos es ist, ein bloß hypothetisches zukünftiges Leben dem Leben im Hier und Jetzt vorzuziehen: Hätte Jim Aurora nicht aufgeweckt, wäre sie trotzdem nie an ihr Ziel gekommen, da unterwegs das ganze Raumschiff explodiert wäre. Nun müssen beide an einem Strang ziehen, um das Schiff zu retten - während Mancuso, der durch die Fehlfunktion seiner Schlafkammer schwere Organschäden davongetragen hat, schon bald nach seinem Erwachen stirbt, Jim und Aurora aber immerhin sein ID-Armband überlässt. 

Als sich zeigt, dass Jim, um den Reaktor zu stabilisieren, mit hoher Wahrscheinlichkeit sein eigenes Leben opfern muss, erkennt Aurora, dass sie lieber mit ihm sterben als ohne ihn weiterleben will. Für Jim ist es jedoch keine Option, den Versuch zur Rettung des Schiffs zu unterlassen: "Es sind noch 5.000 andere Menschen auf dem Schiff!" In einer hochdramatischen Sequenz gelingt es zunächst Jim, den drohenden Kollaps des Reaktors abzuwenden, und dann rettet Aurora Jim mit knapper Not das Leben. Aber damit ist der Film noch nicht zu Ende: Jim findet nämlich heraus, dass es wider Erwarten doch eine Möglichkeit gibt, eine Person - aber eben nur eine - in den Hyperschlaf zurückzuversetzen. Er bietet Aurora also die Möglichkeit, ihren ursprünglichen Lebensplan doch noch zu verwirklichen - aber jetzt will sie das nicht mehr: Sie will lieber mit Jim zusammen auf dem Schiff alt werden. 

Abschließend würde ich eigentlich gern behaupten, dass Passengers sich somit - ganz gegen meine Erwartung - als der philosophisch tiefgründigste Science-Fiction-Film seit Kubricks 2001 (zu dem er durchaus allerlei Ähnlichkeiten aufweist) erwiesen habe; aber um das behaupten zu können, habe ich allzu viele andere möglicherweise brillante Filme dieses Genres nicht gesehen. Einschlägige Empfehlungen nehme ich gern unten im Kommentarbereich entgegen. Übrigens habe ich auch noch keine anderen Kritiken zu Passengers zur Kenntnis genommen; es würde mich allerdings nicht direkt wundern, wenn hardcore-feministische Millennials nicht ganz so positiv über den Film urteilen. Ich könnte mir sogar vorstellen, dass in den Kritiken Begriffe wie "rape culture" vorkommen. Da würde ich zwar widersprechen, aber immerhin hätte man schon mal 'ne Gesprächsgrundlage. Unter dem Strich hätte ich jedenfalls keinerlei Bedenken, diesen Film für den schulischen Ethikunterricht oder sogar für die Firmkatechese zu empfehlen... 


Mittwoch, 1. Februar 2017

Anscheinend habe ich als Kind gar nicht so viel gelesen

Meine Lieblingsbloggerin aus dem nicht-deutschsprachigen Raum, Simcha Fisher, veröffentlicht normalerweise jeden Freitag unter der Serien-Überschrift "What's For Supper?" einen zumeist hochkomischen Bericht darüber, was sie ihrer großen Familie (zehn Kinder!) die ganze Woche über zum Abendessen aufgetischt hat. Vergangenen Freitag stellte sie jedoch fest, dass sie in der ganzen zurückliegenden Woche gar nichts so Bemerkenswertes gekocht hat, als dass es sich lohnen würde, darüber zu schreiben, und schrieb daher was Anderes - nämlich über sonderbare Bücher, die sie als Kind gelesen hat

Ich fand's toll und dachte: Sowas könnte ich auch mal schreiben. 

Aber dann stellte ich fest, dass mir zunächst mal überhaupt nichts dazu einfiel. Genauer gesagt, mir fielen keine schrägen, merkwürdigen Bücher ein, von denen ich mir sicher war, dass ich sie schon als Kind gelesen hatte und nicht erst später. Was komisch ist, denn ich galt während meiner ganzen Kindheit in meiner Familie, aber auch bei Schulkameraden und Lehrern als ausgesprochene Leseratte. Wenn ich jetzt so darüber nachdenke, frage ich mich, ob das zum Teil vielleicht nur daran lag, dass die, die mich so einschätzten, selbst überhaupt nicht (oder nur sehr, sehr wenig) lasen. 

Symbolbild: "Lesender Klosterschüler" (1930) von Ernst Barlach in der Güstrower Getrudenkapelle, fotografiert von Wolfgang Sauber (Bildquelle hier)  

Ich hatte als Kind eine Menge Hörspielkassetten und sogar auch einige Hörspiel-Schallplatten, und einige dieser Hörspiele habe ich so oft gehört, dass ich noch heute die Stimmen der Sprecher im Ohr habe und umfangreiche Passagen aus dem Gedächtnis aufsagen kann. Aber Bücher? Ich erinnere mich, dass mir in meinen ersten Schuljahren wohlmeinende Verwandte Bücher schenkten, die ich nie gelesen (oder zumindest nie zu Ende gelesen) habe, weil ich sie langweilig und doof fand. Zum Teil, weil sie in Schreibschrift gedruckt waren. Druckschrift hatte ich schon lesen können, bevor ich zur Schule kam, und habe die in der Grundschule gelehrte Schreibschrift vom ersten Tag an gehasst. Und dann ging es in diesen Büchern auch noch um so normale, alltägliche Erlebnisse aus dem Erfahrungsbereich von Kindern. Wieso sollte ich so etwas lesen, wenn ich genausogut das Buch zuklappen, rausgehen und solche oder sogar wesentlich interessantere Dinge selbst erleben konnte? -- Von einem dieser Bücher weiß ich den Titel noch: Der kleine Bär kann fliegen (angeblich von 1986. Ernsthaft? So ein Buch wollte man mir andrehen, als ich schon zehn war?!?). Gemeint war der gleichnamige Schmetterling. Toll. Ein Buch über Pflanzen und Tiere in Wald und Garten, aber ohne Indianer, Piraten oder Außerirdische. Bis heute kostet mich Überwindung, Bücher lesen zu sollen, in denen weder Indianer noch Piraten noch Außerirdische vorkommen. Aber die gute Nachricht ist: Zu einer Promotion in Germanistik hat es auch so gelangt. 

In der Grundschule wurde ich dankenswerterweise an die Werke Otfried Preußlers herangeführt - zunächst mit Die kleine Hexe (1957) und Der kleine Wassermann (1956; dass mir damals der "Wassermann", obwohl die Story doch eher bieder ist, mehr zusagte als die "Hexe", sollte man eventuell mal unter Gender-Gesichtspunkten untersuchen...) und dann vor allem mit dem Räuber Hotzenplotz (1962). Das war, soweit ich mich erinnern kann, das erste Buch, das mich wirklich begeistert hat. Die beiden Folgebände (1969/73) las ich dann aus eigenem Antrieb in meiner Freizeit, später auch noch andere Werke von Preußler, von denen mich besonders Krabat (1971) gefesselt und fasziniert hat. 

Letzteres Buch hatte ich aus der Bücherei  des Dorfes, in dem ich meine Kindheit verlebt habe. Diese Bücherei, die von der örtlichen evangelischen Kirchengemeinde betrieben wurde, hatte eine ziemlich anständig sortierte Kinder- und Jugendbuchabteilung, aus der ich mir nach und nach bestimmt so um die 20 bis 30 Bände Karl May besorgte. Leider nur in der durchgreifend bearbeiteten Bamberger Ausgabe, aber man wusste es damals ja nicht besser. Mir ist noch erinnerlich, dass mich von Mays Winnetou-Trilogie damals vor allem der zweite Band begeisterte. Was komisch ist, denn aus erwachsener Sicht und mit einem erfolgreich abgeschlossenen Germanistikstudium im Rücken würde ich sagen, dass nach objektiven Kriterien Winnetou I erheblich besser ist als die beiden anderen Bände. Der ist kompositorisch aus einem Guss, während Winnetou II und III mehr oder weniger schlampig aus zuvor schon in Zeitschriften veröffentlichten kürzeren Erzählungen zusammengeschustert sind. Was lernen wir daraus? Vermutlich, dass dem kindlichen Leser die kompositorische Qualität eines Romans eher egal ist, solange die einzelnen Handlungselemente nur spannend genug sind. Und da hat Winnetou II ja nun Einiges zu bieten: Old Shatterhand als Detektiv; den im Sinne der Handlungslogik zwar "guten", aber gleichzeitig unheimlichen Charakter "Old Death"; den Ku-Klux-Klan; in der zweiten Romanhälfte dann Old Firehands "Festung"; den Knaben Harry, der in der Erstfassung noch ein Mädchen namens Ellen war; Parranoh, den "weißen Häuptling der Poncas"; und natürlich die Rückblenden-Erzählung von Winnetous einziger und unerfüllter großer Liebe. Also, meine Herrn! -- Auch machte sich offenbar schon damals meine katholische Erziehung bemerkbar, denn auch Mays Marienkalender-Geschichten, die von der Kritik fast einhellig verabscheut werden, kamen bei mir gut an. Natürlich wurden sie in der Bamberger Ausgabe - ebensowenig wie in den vorangegangenen Freiburger und Radebeuler Ausgaben - nicht als "Marienkalendergeschichten" gekennzeichnet und erschienen auch nicht en bloc, sondern, gemischt mit anderen kurzen Erzählungen des Autors, verteilt auf die Bände Sand des Verderbens und Auf fremden Pfaden; aber jedenfalls geht es in den Marienkalendergeschichten fast immer darum, Zweifler, Spötter oder Andersgläubige von der Wahrheit des christlichen Glaubens zu überzeugen. Es mag wohl sein, dass es mich mit ungefähr zehn Jahren gewundert hat, solche Inhalte in Abenteuergeschichten vorzufinden; gestört hat es mich jedenfalls nicht

Während eines Urlaubs - ich mag wohl so elf oder zwölf Jahre alt gewesen sein - entdeckte ich in der Hotelbibliothek zu meinem Entzücken einige May-Bände, die es in der evangelischen Pfarrbibliothek meines Heimatdorfs nicht gab und die ich daher noch nie gesehen hatte. Leider ebenfalls Bamberger Ausgabe. Ich wählte den Band Zobeljäger und Kosak als Urlaubslektüre - nicht ahnend, dass das Buch in dieser Form allenfalls indirekt als von Karl May verfasst gelten kann: Es handelte sich um eine freie Bearbeitung der in Sibirien spielenden Passagen von Mays wirrem und ausuferndem Fortsetzungsroman Deutsche Herzen, deutsche Helden, der allerlei Abenteuer auf vier verschiedenen Kontinenten miteinander verknüpft. Eine besonders "brillante" Idee der Bearbeiter bestand darin, das Heldentrio der Sibirien-Handlung - den dicken Sam Barth und seine hageren "Sidekicks" Jim und Tim Snaker - durch die aus den Winnetou-Romanen bekannten Figuren Sam Hawkens, Dick Stone und Will Parker zu ersetzen; ggen Ende des Bandes taucht sogar Old Firehand in Sibirien auf. Aber sei's drum: Damals fand ich das Buch unterhaltsam. 

Ungefähr zur selben Zeit hatte ich einen Klassenlehrer, der meinte, mich von meiner Vorliebe für Karl May kurieren zu müssen, indem er mir etwas "Besseres" anbot. Darum empfahl er mir die Indianerromane von Fritz Steuben und lieh mir sogar eins aus seinen eigenen Beständen: Schneller Fuß und Pfeilmädchen (1935). Das Tragikomische daran war, dass der Lehrer zwar in der SPD war, der von ihm als "besser als Karl May" eingestufte Autor Steuben (eigtl. Erhard Wittek, 1898-1981) jedoch ein in der Wolle gefärbter Nazi war, der seine Indianerromane explizit zu dem Zweck geschrieben hatte, eine rassenideologisch "korrekte" Alternative zum in dieser Hinsicht etwas anrüchigen Karl May zu schaffen. Das wusste ich zwar damals nicht, aber wenn ich schon damals etwas "ideologiekritischer" gewesen wäre, hätte ich es anhand des mir ausgeliehenen Bandes vermutlich gemerkt. Die Titelfiguren von Schneller Fuß und Pfeilmädchen sind zwei blonde, blauäugige Kinder, die von Indianern entführt werden und fortan bei ihnen aufwachsen; und bald zeigt sich, dass sie in puncto Indianersein den echten Indianern weit überlegen sind.

Wesentlich positivere Erinnerungen habe ich an ein anderes Buch, das mir, wenn ich mich nicht irre, derselbe Lehrer empfohlen hat - ein Wikingerbuch von Günter Sachse. Es gibt deren zwei - Wikingerzeit (1977) und Wikinger zwischen Hammer und Kreuz (1979) -, aber ich habe nur eins gelesen und weiß nicht mehr mit Sicherheit, welches der beiden es war. Jedenfalls war einer der Protagonisten ein Junge mit einem verkrüppelten Fuß, der aufgrund dieser Behinderung ein Außenseiter in dieser archaischen Kriegergesellschaft ist und dem Leser dadurch strukturell am nächsten steht. Dieser erzähltechnische Kniff hat mir schon damals ausgesprochen gut gefallen, und davon abgesehen hatte ich enormen Spaß daran, dass die (historischen) Wikingerkönige so skurrile Namen wie Harald Blauzahn und Sven Gabelbart trugen.

Vom selben Autor gab es in der evangelischen Pfarrbücherei ein Buch über die Meuterei auf der Bounty, und das habe ich ebenfalls mit Begeisterung gelesen. Es war gleichermaßen gut recherchiert und spannend erzählt.

Durch meine knapp fünf Jahre ältere Schwester geriet ich an Fantasyromane von Wolfgang und Heike Hohlbein. Den Hohlbein-Klassiker Märchenmond (1982), für den meine Schwester schwärmte, fand ich zwar eher doof (und für mich heißt das Buch bis heute Mädchenmond, obwohl der Protagonist - entgegen meiner Erinnerung - ein Junge ist), aber einige andere Hohlbein-Bücher habe ich durchaus mit Genuss gelesen. Bleibenden Eindruck hinterließen bei mir vor allem Die Heldenmutter (1985) und Die Töchter des Drachen (1987). Letzteres Buch entdeckte ich über ein Jahrzehnt später auf einem Flohmarkt wieder und kaufte es für zwei Euro, und beim erneuten Lesen war ich überrascht, wie schlecht es geschrieben ist. Ich finde Wolfgang Hohlbeins Stil scheußlich. Aber mit elf Jahren (oder so) hat mich das offenbar nicht sonderlich gestört; da war ich mit der abenteuerlichen, aus Fantasy- und Science-Fiction-Elementen zusammengesetzten, düsteren und etwas unverständlichen Handlung vollauf zufrieden.

Jetzt, wo ich's sage, beschleicht mich der Eindruck, dass ich damals tatsächlich ein Faible für Romane hatte, deren Handlung ich nicht ganz verstand - sofern sie nur phantastisch und/oder abenteuerlich genug war. Gerade das Unverständliche trug dazu bei, dass man in diese Romane eintauchen konnte wie in einen Traum: mit dem Protagonisten durch eine rätselhafte Landschaft irren wie durch ein permanentes Halbdunkel, aus dem einzelne dramatische Ereignisse grell beleuchtet hervorstechen.

Man könnte denken, so gesehen müsste Die unendliche Geschichte (1979) von Michael Ende das perfekte Buch für mich gewesen sein. Allerdings las ich das erst, nachdem ich Wolfgang Petersens Verfilmung des ersten Teils gesehen hatte; und dann war ich - wie das wohl häufig der Fall ist - erst mal irritiert von allem, was im Film anders gewesen war. Zum Beispiel, dass Atréju im Buch grüne Haut hat. Ich glaube, das hat alle irritiert, die zuerst den Film gesehen hatten. Dass das Buch an der Stelle, an der die Handlung des Films endet, im Grunde erst so richtig losgeht, war ebenfalls eine Überraschung, die erst mal verdaut sein wollte. Tatsächlich fand ich den zweiten Teil des Buches dann bald sogar besser als den ersten, aber ganz so begeistert, wie man denken könnte, war ich von der Unendlichen Geschichte dennoch nicht. Vielleicht war sie mir einfach zu sophisticated und, ganz gegen die erklärte Absicht des Verfassers, auch zu pädagogisch. Vielleicht war ich auch zu jung und hätte lieber erst mal Momo (1973) lesen sollen. Habe ich aber nicht, bzw. erst viel später. Deshalb gehört es nicht hierher, aber: DAS Buch rührt mich heute noch zu Tränen.

Viel besser fand ich damals das zugegebenermaßen viel simpler gestrickte Die Brüder Löwenherz (1973) von Astrid Lindgren. Sicher hat jeder Lindgren-Leser so seine speziellen Favoriten unter den zahlreichen Buchreihen und Einzelwerken der Autorin, aber was ihre Fantasy-inspirierten Abenteuergeschichten "für Jungs" angeht, scheint mir, dass es eine "Mio, mein Mio"- und eine "Brüder Löwenherz"-Fraktion gibt. Ich war in der "Brüder Löwenherz"-Fraktion. Mio, mein Mio (1954) habe ich erst im Erwachsenenalter gelesen, und es ist brillant; aber ich glaube, hätte ich es schon als Kind gelesen, hätte ich Die Brüder Löwenherz trotzdem besser gefunden. Weil es irgendwie "härter" und düsterer ist. Kritiker haben dem Buch vorgeworfen, darin würde der Selbstmord glorifiziert oder zumindest verharmlost. Da kann ich nur sagen: Das hat man von den Leiden des jungen Werthers auch behauptet.

Um die - wie ich sie an anderer Stelle mal nannte - "realistisch-aufklärerisch-emanzipatorische (oder kurz: sozialpädagogische) Schule" der Kinder- und Jugendliteratur machte ich seinerzeit eher einen Bogen - mit Ausnahmen; über Christine Nöstlingers Gretchen Sackmeier-Trilogie (1981/83/88) habe ich mich ja schon mal ausführlich geäußert. Nicht unerwähnt lassen möchte ich jedoch eine Buchreihe, die zwar durchaus nicht "aufklärerisch-emanzipatorisch", aber immerhin in dem Sinne "realistisch" war, dass sie in der wirklichen Welt und weder in exotischer Ferne noch in einer vergangenen historischen Epoche spielte (es sei denn, man betrachtet die Adenauer-Ära als eine solche): die Burg Schreckenstein-Reihe von Oliver Hassencamp. Die ist mittlerweile so oll, dass ich mir vorstellen kann, dass sie kaum noch jemand kennt, daher hier ein paar Worte dazu, worum es ging: Eine Jungenschule wird, da das alte Schulhaus hoffnungslos marode ist, als Internat auf eine alte Ritterburg ausgelagert, und die Protagonistengruppe unter den Schülern entdeckt alsbald Rittersaal und Folterkammer (mit echtem Skelett!) als Treffpunkt für nächtliche Zusammenkünfte. In nahezu jedem Band ergibt sich zudem eine Gelegenheit für die Jungs, Detektiv zu spielen. Da dem Autor wohl bald bewusst wurde, dass es auf die Dauer unbefriedigend wird, wenn in seinen Romanen keine Mädchen vorkommen, kommt schon in einem der ersten Bände ein benachbartes Mädcheninternat mit dem herrlich gender-unsensiblen Namen Rosenfels mit ins Spiel. Überhaupt ist die Reihe auf eine wunderbar altbackene Weise politisch inkorrekt: Die Jungs treiben viel Sport, verdrücken unfassbare Mengen an Essen, waschen sich nur, wenn es sich absolut nicht vermeiden lässt und tragen Spitznamen wie "Dampfwalze" und "Mücke", die Mädchen sind eher etepetete (aber ganz ohne sie geht's eben auch nicht). Als ich aufs Gymnasium kam, entdeckte ich, dass die im Schulgebäude untergebrachte Stadtbücherei ganze Regalmeter voller Schreckenstein-Bücher führte; man muss allerdings gestehen, dass die 1959 begonnene und erst 1988 (nach dem Tod des Autors) eingestellte Reihe mit zunehmender Dauer nicht unbedingt besser wurde. Aber mindestens die ersten sieben Bände habe ich mit großem Vergnügen gelesen.

Und dann geistert mir noch ein Buch im Kopf herum, von dem ich mich leider weder an den Titel noch an den Autor erinnern kann und das ich hier schon allein deshalb erwähnen muss, weil mir vielleicht jemand, der dies liest, auf die Sprünge helfen kann. Es handelte sich um ein Exemplar des von mir damals normalerweise nicht sehr geschätzten Genres "Problembuch", will sagen, es ging um Gewalt und - wenngleich der Begriff damals noch nicht gebräuchlich war - "Mobbing" unter Schülern. Was mich damals vermutlich hauptsächlich dazu veranlasste, es zu lesen, war der Umstand, dass die Hauptfigur ein neu an den Ort und in die Schule gekommener, schroff und verschlossen wirkender Junge war, der - zumindest nach Meinung des Ich-Erzählers - aussah wie ein Indianer. Weiß irgend jemand, welches Buch ich meine? (Die Erzählkonstruktion, dass es einen Ich-Erzähler gibt, der nicht die Hauptfigur ist, war übrigens auch eine neue Erfahrung für mich.)

Als ich so ungefähr 14 war, schenkte mir der damalige Freund meiner Schwester das Buch Die neuen Leiden des jungen W. (Suhrkamp-Ausgabe 1976) von Ulrich Plenzdorf - nicht zum Geburtstag oder dergleichen, sondern einfach so, weil er meinte, das wäre was für mich. Diese Geste hat mich stark beeindruckt, und das Buch selbst in der Folge dann auch. Ich schätze, dieses Lektüreerlebnis hat meiner Vorliebe für das Fantasy-Genre ziemlich nachhaltig den Garaus gemacht und mein Leseinteresse in eine neue Richtung gelenkt. Aber das ist eine andere Geschichte und soll ein Andermal erzählt werden...