HINWEIS: Der folgende Beitrag erschien zuerst - leicht bearbeitet und unter dem Titel "Was Heimat ist" - am 10.10.2015 in der Zeitung Die Tagespost, S. 9.
Für
die einen ist es Kitsch, für die anderen Ideologie, für wieder andere einfach
ein Stück Lebensgeschichte und Lebensgefühl: Der Begriff „Heimat“ hat viele
Facetten und eine wechselvolle und in Teilen durchaus nicht unproblematische
Geschichte. Nun versuchte eine Themenwoche der ARD, sich dem Heimatbegriff im
Zusammenhang mit der derzeitigen Flüchtlingswelle anzunähern. Zentral für
diesen Ansatz ist es, dass der Begriff der Heimat stets komplementär zu dem der
Fremde zu denken ist; zu diesem Diskurs hätte auch das christliche Welt- und
Menschenbild einiges beizutragen.
Der vielschichtige, oft umstrittene Begriff „Heimat“ bildete den Anlass und
Mittelpunkt einer ARD-Themenwoche vom 04.-10. Oktober 2015. In einer
Pressemitteilung erklärte der Programmdirektor des Ersten Deutschen Fernsehens,
Volker Herres, es sei notwendig, „über den Begriff der Heimat neu nachzudenken“
– gerade vor dem Hintergrund der aktuellen Flüchtlingskrise, die deutlich mache,
„wie wichtig Heimat im Angesicht des millionenfachen Verlusts derselben“ sei.
Zum Auftakt der Themenwoche stellte die ARD eine
„O-Ton-Collage“ aus den Antworten von Schauspielern und anderen Prominenten auf
die Frage „Was bedeutet Heimat für Sie?“ zusammen. Die Fragestellung impliziert
bereits, dass der Begriff „Heimat“ nicht fixiert ist: Es handelt sich offenbar
um eine weitgehend abstrakte Kategorie, die, um konkret zu werden, individuell
unterschiedlich „gefüllt“ werden kann und muss – etwa auf der Grundlage eigener
biographischer Erfahrungen. „Heimat“, so scheint es, ist in erster Linie
emotional besetzt; so zieht sich durch die Statements der befragten Prominenten
wie ein roter Faden die Auffassung, „Heimat“ sei vor allem ein „Gefühl“.
Das war allerdings nicht immer so. Wie der
Volkskundler Hermann Bausinger herausgearbeitet hat, herrschte bis um die Mitte
des 19. Jahrhunderts „eine sehr enge und konkrete Vorstellung“ von Heimat vor,
die an den Besitz von Haus und Hof gebunden war. Eng damit verknüpft war die
Bedeutung von „Heimat“ als Rechtsbegriff: Heimatrecht bedeutete – so der
Philosoph Rainer Piepmeier – die „rechtlich verbindliche Zugehörigkeit zu einer
Gemeinde“ und war „bis zur Gründung des Norddeutschen Bundes“, also bis 1867,
„in den meisten deutschen Staaten Voraussetzung für die Ausübung wichtiger
Rechtsbefugnisse“. Wie Bausinger betont, entsprach und entsprang dieses
Heimatrecht „den Prinzipien einer stationären Gesellschaft“ und wurde
„problematisch, als die wirtschaftliche Entwicklung eine immer größere
Mobilität erforderte“. Gerade dieser Bedeutungsverlust von „Heimat“ als
konkreter, objektiver rechtlicher Kategorie ging mit einer emotionalen
Aufladung des Heimatbegriffs einher. „Der Heimatbegriff wird nun frei,
Bedeutungen anzunehmen, die den Ersatz für das bezeichnen, was mit den alten
Bindungen verlorenging“ (Piepmeier). Exemplarisch ist dieser Prozess anhand der
seinerzeit enorm populären Dorfgeschichte „Barfüßele“ (1856) von Berthold
Auerbach zu beobachten: In der Geschichte zweier Waisenkinder, die auf die
Unterstützung der Dorfgemeinschaft an jenem Ort angewiesen sind, an dem sie
„Heimatrecht“ haben, ist die alte Bedeutung des Heimatbegriffs noch präsent,
gleichzeitig weist der Text bereits eine starke Tendenz zur Idealisierung und
Emotionalisierung von „Heimat“ auf. In dem Maße, in dem infolge von
gesteigerter Mobilität, Gewerbefreiheit und der Sogwirkung der Industrie, die
die arme Landbevölkerung in die Städte zieht, die Bindung an den angestammten
Boden als ökonomische Notwendigkeit ihre Selbstverständlichkeit verliert, wird
sie umso stärker ideologisch aufgeladen und als „schicksalhaft“ apostrophiert.
So entwickelt der Heimatdiskurs durch die Idealisierung anachronistischer
Lebens- und Wirtschaftsformen im überschaubaren ländlichen Raum einen
ausgeprägt regressiven, reaktionären Zug der Verweigerung gegenüber den
Herausforderungen der Moderne.
Diesen regressiven Aspekt ist der Begriff „Heimat“,
trotz aller Wandlungen, die er seit dem 19. Jahrhundert durchgemacht hat, bis
heute nicht gänzlich losgeworden. So reflektierten etwa die Heimatfilme der
1950er Jahre zwar – entgegen verbreiteter Annahmen – durchaus zeittypische
Probleme der Nachkriegszeit (wie Generationenkonflikte, zerbrochene Ehen,
soziale Folgen ökonomisch-technischer Modernisierung, Auseinandersetzungen um
Berufstätigkeit von Frauen), aber durch die Ansiedlung der Handlung in einem
anachronistischen dörflichen Milieu in idyllischer, vom Krieg verschont
gebliebener Landschaft, durch die weitestgehende Ausblendung der von
NS-Diktatur und Krieg geprägten jüngsten Vergangenheit und durch das
unweigerliche „Happy End“ wurde dieses Problembewusstsein sogleich wieder
beschwichtigt. Erst ab Mitte der 1970er Jahre machte sich eine Tendenz zu
verstärkt sozialkritisch ausgerichteten „Neuen Heimatfilmen“ bemerkbar, die
sich gezielt den Schattenseiten der vermeintlichen ländlichen Idylle zuwandten
und „Heimat“ nicht mehr nur als Sehnsuchtsort, sondern auch als Ort der
Bedrückung in Szene setzten.
Schon in der Heimatliteratur des 19. Jahrhunderts
wie auch in Heimatfilmen sowohl der „klassischen“ als auch der neueren,
sozialkritischen Schule war die Frage nach der Möglichkeit der Integration von
Außenseitern ein wiederkehrendes Thema. Somit erscheint es keineswegs abwegig,
dass die ARD mit ihrer Themenwoche „Heimat“ einen Beitrag zur
Integrationsdebatte zu leisten beabsichtigte. Verschiedene Beiträge widmeten
sich explizit dem „fremden Blick“ von Flüchtlingen und anderen Zuwanderern auf
die deutsche Gesellschaft und Kultur.
In einer Pressemitteilung der DeutschenBischofskonferenz würdigte deren Vorsitzender Reinhard Kardinal Marx die
ARD-Themenwoche „Heimat“ als „wichtige[n] Beitrag zur Integration in unserem
Land“ und mahnte einen „Schritt von einer Willkommenskultur hin zu einer Integrationskultur“
an: „Vermitteln wir Menschen, die auf der Flucht sind, das Gefühl einer neuen
Heimat? Sind wir tolerant genug, um anderen Heimat zu schenken?“ Der Begriff
Heimat, so Kardinal Marx, vermittle „Hoffnung auf Zugehörigkeit und
Gemeinschaft“.
Eine Problematisierung des Heimatbegriffs findet in
dieser Stellungnahme des DBK-Vorsitzenden offenkundig nicht statt – und, was
noch auffälliger ist, ebensowenig der Versuch einer genuin christlichen
Bestimmung dieses Begriffs, wie er etwa in dem populären Kirchenlied „Wir sind
nur Gast auf Erden“ von Georg Thurmair
zu finden ist: „Wir sind nur Gast auf Erden, / Und wandern ohne Ruh' / Mit
mancherlei Beschwerden / Der ewigen Heimat zu“. Die Aussage, für Christen sei
die wahre, die eigentliche Heimat nicht in dieser Welt zu finden, bildet ein
starkes Korrektiv zu der Vorstellung, Heimat sei etwas, das die Einen „haben“
und die Anderen nicht – was letztlich auf die Vorstellung hinausliefe,
Integration sei gewissermaßen ein Gnadenakt der „Besitzer“ von Heimat gegenüber
den Heimatlosen. – Bereits im August dieses Jahres erschien auf der
Facebook-Seite des Passauer Bischofs Stefan Oster ein Beitrag, in dem dieser –
ohne direkt auf Thurmairs Verse Bezug zu nehmen – die Aussage, Christen seien
letztlich „nur Gast auf Erden“, bekräftigte; und bemerkenswerterweise stand
dieser Beitrag ebenfalls im Zusammenhang mit den Herausforderungen der
aktuellen Flüchtlingswelle: In einem engagierten Appell gegen
Fremdenfeindlichkeit erinnerte Bischof Oster daran, dass „gläubige Christen […]
in gewisser Weise selbst Fremde“ seien, „überall, weil ihre eigentliche Heimat
eine andere ist als die, in der wir hier leben“, und untermauerte dies mit
Verweisen auf Hebräer 11,16 („nun aber streben sie nach einer besseren Heimat,
nämlich der himmlischen“) und Philipper 3,20 („Unsere Heimat aber ist im
Himmel“). Jesus Christus selbst erscheint in den Evangelien geradezu als
Prototyp des Menschen, der auf Erden keine Heimat hat. Als Er im Alter von
zwölf Jahren mit seinen irdischen Eltern den Tempel besucht, will Er dort am
liebsten gar nicht mehr weg – weil dies das Haus Seines Vaters sei (vgl. Lukas 2,41-49). Später macht Er die Erfahrung, dass gerade in Seiner Heimatstadt
Nazaret, wo man Ihn als „den Zimmermann, den Sohn der Maria und Bruder von
Jakobus, Joses, Judas und Simon“ zu kennen meint, am wenigsten an Seine
göttliche Sendung geglaubt wird: „Nirgends hat ein Prophet so wenig Ansehen wie in
seiner Heimat, bei seinen Verwandten und in seiner Familie" (Markus 6,3-4). Folgerichtig distanziert Er sich beinahe schroff von herkömmlichen
familiären Bindungen: „Wer ist meine Mutter, und wer sind meine Brüder? [...]
Wer den Willen meines himmlischen Vaters erfüllt, der ist für mich Bruder und
Schwester und Mutter“ (Matthäus 12,48.50).
Hier zeigt sich: Während die Bindung an irdische
Instanzen der Identitätsstiftung wie Heimat und Familie sowohl ausgrenzenden
als auch eingrenzenden (und damit tendenziell einengenden) Charakter hat,
weitet der Hinweis auf den himmlischen Vater den Blick für die gemeinsame
Gotteskindschaft aller Menschen. „Der Glaube vereint Menschen und überschreitet
Grenzen“, betont Bischof Oster in seinem oben bereits zitierten
Facebook-Beitrag: „[W]eil unser Gott der Schöpfer aller Menschen ist und weil
Christus für alle Menschen gestorben ist, sind in dieser Hinsicht auch alle
Menschen Geschwister der einen Menschheitsfamilie – und eben nicht einfach
Fremde.“ Nicht zuletzt ruft die Botschaft des Evangeliums die Christen dazu
auf, gerade in den Fremden, den Heimatlosen und Unbehausten das Ebenbild
Christi zu erkennen – jenes Christus, der von sich selbst sagt: „Die Füchse
haben ihre Höhlen und die Vögel ihre Nester; der Menschensohn aber hat keinen
Ort, wo er sein Haupt hinlegen kann“ (Matthäus 8,20).
********
Literaturhinweise:
Hermann Bausinger: Heimat in einer offenen Gesellschaft. Begriffsgeschichte als Problemgeschichte. In: Will Cremer/Ansgar
Klein (Hg.): Heimat. Analysen, Themen, Perspektiven. Bd. I. Bielefeld 1990, S.
76-90
Tobias Klein: Von deutschen Herzen. Familie, Heimat und Nation in den Romanen und Erzählungen E. Marlitts. Hamburg 2012.
Rainer Piepmeier: Philosophische Aspekte des Heimatbegriffs. In: Cremer/Klein (Hg.): Heimat. A.a.O., S. 91-108.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen