Am Freitag vor unserer Abreise in den Urlaub wollte unser Tochterkind bei einer Schulfreundin übernachten, die Eltern der besagten Freundin waren einverstanden, und als Bonus durfte unser Jüngster, der die Freundinnen seiner großen Schwester aus Prinzip toll findet, mitkommen und mal ausprobieren, ob er sich mit seinen noch nicht dreieinhalb Jahren auch schon traut, woanders zu übernachten. Für meine Liebste und mich bedeutete das den sehr, sehr seltenen Luxus eines kinderfreien gemeinsamen Abends, und mit "selten" meine ich: Das hatten wir vielleicht dreimal in den letzten gut sechseinhalb Jahren. Wir nutzten diesen Umstand u.a. dazu, essen zu gehen – in einem griechischen Restaurant, mit dem ich, obwohl wir in der Zwischenzeit noch ein paar weitere Male (zusammen mit den Kindern) dort waren, vor allem die Erinnerung daran verbinde, dass wir dort am Vorabend des ersten Corona-Lockdowns essen waren und zum krönenden Abschluss des Abends dem mobilen Rosenverkäufer seine gesamte Ware abkauften. Diesmal saßen wir im Außenbereich, genossen das schöne Wetter, das Essen, vor allem aber die Tatsache, dass wir mal ausgiebig Zeit füreinander hatten, ohne dass die Kinder im Minutentakt unsere Aufmerksamkeit beanspruchten. Ein sehr schönes Erlebnis hatten wir dann auf dem Heimweg: Wir kamen an einem anderen Restaurant vorbei, das nur wenige Hausnummern von unserem Zuhause entfernt liegt; da bediente gerade eine Kellnerin im Außenbereich, und als sie uns sah, fragte sie uns überrascht, wo wir denn unsere Kinder gelassen hätten. Wir kannten diese Kellnerin eigentlich gar nicht, aber sie kannte uns – vom Sehen, einfach weil wir so oft an ihrem Arbeitsplatz vorbeikommen, weil wir da eben ganz in der Nähe wohnen. Als wir ihr erklärten, die Kinder seien zu einem Übernachtungsbesuch bei einer Freundin, meinte sie herzlich: "Das habt ihr euch aber auch mal verdient." Sie fügte hinzu, es sei uns anzusehen, wie gut uns der kinderfreie Abend tue ("Ihr strahlt richtig"), aber auch, dass sie es toll finde, wie wir unseren Alltag mit unseren Kindern organisieren.
Die Übernachtungsparty der Kinder nahm dann allerdings ein etwas unerwartetes Ende: Gegen 1 Uhr nachts rief die gastgebende Mutter bei uns an – unsere Große war aufgewacht, konnte nicht wieder einschlafen, weinte und wollte nach Hause. Da der Versuch, sie per Telefon zu trösten und zu beruhigen, keinen durchschlagenden Erfolg hatte, einigten wir uns darauf, dass dee gastgebende Vater unsere beiden Kinder mit dem Auto nach Hause brachte, was allerdings bedeutete, dass unser Jüngster erst einmal geweckt werden musste (er schlief dann im Auto weiter). Nach einem Schlummertrunk, einer Gutenachtgeschichte und ein bisschen Kuscheln schlief die Große irgendwann gegen 2 oder halb 3 auch wieder ein. Es ist wohl einigermaßen selbsterklärend, dass wir daraufhin alle erst mal gründlich ausschlafen mussten.
Gleichwohl hatten wir am folgenden Tag volles Programm: Erst war Gorkistraßenfest, und dann waren wir – wie im Creative Minority Report Nr. 40 bereits erwähnt – zu einer Grillparty im Ernst-Thälmann-Park eingeladen. – Über die von den Geschäftsinhabern in der Gorkistraße gesponserten Straßenfeste, bei denen es von Hüpfburg und Karussell über Popcorn und Zuckerwatte bis hin zu Kinderschminken so allerlei gratis gibt, habe ich mich bei früherer Gelegenheit schon mal geäußert; ursprünglich war es unser Plan gewesen, unsere Kinder nach ihrer Auswärts-Übernachtung auf diesem Fest wieder in Empfang zu nehmen, aber nachdem es mit der Übernachtung nicht so ganz geklappt hatte, trafen wir uns auf dem Gorkistraßenfest trotzdem mit der Familie, bei der unsere Kinder am Abend zuvor zu Besuch gewesen waren, und ein paar andere Bekannte liefen uns auch über den Weg.
Livemusik gab es auch, in Gestalt eines jungen Mannes mit Bart, Männerdutt und Gitarre, der sich Plagu nannte und, als wir auf dem Straßenfest ankamen, gerade "Little Lion Man" von Mumford & Sons spielte – den "Ohrwurm der Woche" in den Ansichten aus Wolkenkuckucksheim Nr. 6, nebenbei bemerkt. Ich wunderte mich, wie der Musiker es schaffte, mit nichts als einer Gitarre (und ein paar elektronischen Effektgeräten, zugegeben) einen derart dichten und vielschichtigen Sound zu erzeugen, und einen Moment lang argwöhnte ich, er arbeite womöglich mit Halbplayback. Wie sich jedoch zeigte, handelte es sich tatsächlich um eine Loopstation; mit anderen Worten, Teile der Musik kamen zwar tatsächlich vom Playback, aber auch die wurden live eingespielt. Auf Plagus Website wird diese Technik wie folgt beschrieben: "Durch geschicktes Layering von Gesang und Percussion-Instrumenten schafft er eine eindrucksvolle Klanglandschaft, die die Illusion einer kompletten Band erzeugt." Isso.
Um's unmissverständlich zu sagen, mir gefiel die Musik ausgesprochen gut; Plagus Repertoire war gemischt aus Coverversionen und eigenen Stücken, und er machte einen ausgesprochen sympathischen Eindruck. Als er verkündete, falls jemand aus dem Publikum selbst etwas singen wolle, solle derjenige gern auf ihn zukommen, und er werde mal sehen, ob er den betreffenden Song spielen könne, fühlte ich mich doch sehr bei meiner Eitelkeit gepackt; umso mehr, als meine Liebste mir eifrig zuredete, von diesem Angebot Gebrauch zu machen. Auch Plagu selbst zwinkerte mir aufmunternd zu, als er mein Interesse bemerkte. Ich musste aber erst mal in mich gehen und mir einen Song überlegen, den ich mir stimmlich zutraute, bei dem ich ausreichend textsicher war und der sich stilistisch einigermaßen stimmig ins Programm einfügte. Als Plagu eine Pause machte, beriet ich mich mit ihm, und wir einigten uns auf "I'm on Fire" von Bruce Springsteen. Mein Gastauftritt machte mir Spaß, und ich darf wohl auch sagen, dass er mir gut gelang; jedenfalls bekam ich viel positives Feedback aus dem Publikum. Am schönsten fand ich die Reaktion der Schulfreundin meiner Tochter, denn die wollte ein Autogramm von mir!
Nachdem ich noch einige Einkäufe fürs Wochenende erledigt hatte, machten wir uns am mittleren Nachmittag auf den Weg zum Ernst-Thälmann-Park, wo wir wie gesagt zu einer Grillparty eingeladen waren. In gewissem Sinne war das wohl – ähnlich wie die Einladung zur Sommerfrische in Werder die Folge einer Begegnung bei einem Geburtstagspicknick im Tiergarten war – eine durch eine Begegnung bei "Suppe & Mucke" veranlasste "Folgeeinladung"; in beiden Fällen handelte es sich um die Wiederauffrischung einer in den letzten Jahren etwas vernachlässigten "alten Bekanntschaft". Was das Grillen im Thälmannpark angeht, waren wir bei diesem Veranstaltungsformat schon einmal vor drei Jahren gewesen; den Gastgeber, der traditionell seinen Geburtstag auf diese Weise nachfeiert, kenne ich aber ursprünglich aus einer Kneipe, in der wir beide mal Stammgäste waren. In einem unvollendeten Entwurf für eine Kurzgeschichte, den ich kürzlich wiedergefunden habe, habe ich diese Kneipe – unter dem fiktiven, aber, wie ich finde, ziemlich stimmigen Namen Exil – wie folgt beschrieben:
"Das Exil ist keine reinrassige Punk-Kneipe wie etwa das gute alte Pilsparadies, auch wenn dort häufig die entsprechende Musik läuft und ein nicht geringer Teil der Mitarbeiter und regelmäßigen Gäste entsprechende Kleidung trägt. Ich glaube, man wird ihrem Selbstverständnis eher gerecht, wenn man sagt, es sei eine linke Kneipe. Dies aber auch in einem recht weiten und undogmatischen Sinne. Man muss sich nicht erst einer Gesinnungskontrolle unterziehen, um an der Theke ein Bier zu bekommen. Das Publikum ist dementsprechend recht bunt gemischt, und gerade das macht diesen Laden so spannend. Diverse Polit-Sekten – Anarchisten, Maoisten, Trotzkisten –, die sich auf offener Straße wahrscheinlich mit Steinen bewerfen würden, halten hier friedlich ihre Stammtische ab, und es kann passieren, dass man am Tresen einen ehemaligen Stasi-Offizier einträchtig neben einem ehemaligen Hausbesetzer sitzen sieht."
Ganz so undogmatisch-tolerant geht es dort heute allerdings nicht mehr zu; dazu habe ich schon im Creative Minority Report Nr. 26 ein paar Zeilen geschrieben. Mein alter Freund und ich sind dort jedenfalls aus unterschiedlichen Gründen keine gern gesehenen Gäste mehr: Mir wurde so um 2015/16 herum wegen meines Engagements in Sachen Lebensschutz Auftrittsverbot auf der hauseigenen Kleinkunstbühne erteilt, als Gast war ich seitdem noch ein paarmal da, aber das ist nun auch schon einige Jahre her; und gegen meinen Freund, der dort, wie er selbst sagt, inzwischen als "rechtsoffener Wagen-Knecht" gilt, wurde zwar kein formelles Hausverbot erteilt, aber er wird dort schlichtweg nicht mehr bedient.
Soweit ich mich an die Grillparty von vor drei Jahren erinnere, würde ich nicht unbedingt sagen, dass die Veranstaltung im Vergleich zu "damals" diesmal insgesamt schwächer besucht gewesen wäre, aber ich hatte trotzdem das Gefühl, dass einige Leute fehlten – und zwar gerade aus dem Kreis derer, die ich "von früher her" kannte. Ähnlich ging's mir, wie man sich erinnern wird, schon bei der "Fiesta Kreutziga" und bei "Suppe & Mucke"; und hier wie dort gilt: Einige Leute sind vielleicht gestorben, andere vielleicht weggezogen, aber ich frage mich schon, ob da nicht auch ideologische Verwerfungen innerhalb der linken Szene eine gewisse Rolle spielen.
À propos: Einigen Gästen, die mich nicht schon "von früher her" kannten, stellte der Gastgeber mich als "katholischen Dissidenten" vor; auf seine Frage, ob ich mich damit zutreffend beschrieben fühlte, erwiderte ich: "Ob jemand ein Dissident ist oder nicht, das weißt du selber, hängt immer davon ab, welchen Standpunkt man als normativ annimmt. Im Verhältnis zur Deutschen Bischofskonferenz bin ich sicherlich ein Dissident." – Ein guter Gesprächseinstieg war es allemal, als "katholischer Dissident" vorgestellt zu werden; es ergaben sich einige angeregte Diskussionen daraus, die bei aller Unterschiedlichkeit der Standpunkte (ich hatte es vorrangig mit Gesprächspartnern zu tun, deren Sicht auf Religion vom Dialektischen Materialismus geprägt war) in durchweg freundlicher und respektvoller Atmosphäre geführt wurden.
Unser Tochterkind freundete sich derweil schönstens mit den beiden Enkelinnen des Gastgebers, 9 und 5 Jahre alt, an und tollte mit ihnen übers Gelände, und meist machte auch unser Jüngster dabei mit. Die Neunjährige lud uns sogar kurzerhand ein, auch zur Weihnachtsfeier bei ihrem Opa zu kommen ("Da gucken wir Hase und Wolf"). Als ich ihm von dieser Einladung berichtete, reagierte er sehr amüsiert. Na, schauen wir mal, ob wir da wirklich hingehen.
Livemusik gab's übrigens auch hier: Als es allmählich Abend wurde, packte eine etwas "gothic" aussehende Frau schwer bestimmenden Alters – trotz grauer Strähnen im Haar hatte sie eine fast jugendliche Ausstrahlung – ein Akkordeon und eine Geige aus (die sie natürlich nicht beide auf einmal spielte, sondern mal das eine, mal das andere Instrument, überwiegend aber Akkordeon) und präsentierte ein Programm aus Filmmelodien, Folkklassikern wie "Dirty Old Town" und "Danny Boy", aber auch "Mull of Kintyre", "Lambada" (!) und "Auf der Reeperbahn nachts um halb Eins".
Meine Liebste schrieb derweil spontan eine Kurzgeschichte; ob diese in Kürze auch auf unserer gemeinsamen Patreon-Seite erscheinen wird, ist derzeit noch in der Schwebe...
Insgesamt blieben wir bei dieser Party, bis es anfing dunkel zu werden; als das Bier alle war, gab es Wodka, aber wir tranken davon nur wenig, schließlich mussten wir nicht nur uns selbst, sondern auch die Kinder sicher nach Hause bringen. Lecker war er aber, der Wodka. Und insgesamt war es so ein schöner, entspannter Sommerabend, dass ich ihn mir am liebsten einnahmen und übers Bett hängen würde.
(Was natürlich einmal mehr die Frage aufwirft: Wieso kriegt man so eine Stimmung eigentlich bei kirchlichen Veranstaltungen nie hin? – Was das angeht, wird die Versuchsreihe wohl spätestens Anfang September beim Gemeindefest in St. Stephanus Haselhorst fortgesetzt...)
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