Gesamtzahl der Seitenaufrufe

Samstag, 16. Januar 2016

Das kam mir doch gleich so spanisch vor!

Ist ein Shitstorm einmal ausgebrochen, wird es schwer, ihn wieder einzufangen. Aber man kann - nein, muss! - es immerhin versuchen.
 
Inzwischen haben es ja vermutlich alle mitbekommen: Eine Welle der Empörung brandete in den letzten Tagen durch die Sozialen Netzwerke, weil irgendsoein geistig im Mittelalter stecken gebliebener Kirchenfürst Frauen geschla Gewalt gegen Frauen gutgeheißen hatte, jedenfalls dann, wenn die Frauen ihren Männern ungehorsam wären. Oder so ähnlich. Genauer gesagt handelte es sich um Braulio Rodríguez Plaza, den Erzbischof von Toledo in Spanien, und tatsächlich hatte er nichts dergleichen gesagt, sondern im Gegenteil häusliche Gewalt gegen Frauen scharf getadelt -- aber der Reihe nach.
 
Vorgestern, Donnerstag, kam mir erstmals auf Facebook ein Link zu einem Artikel unter, in dem behauptet wurde, Erzbischof Rodríguez habe in einer Predigt am 27. Dezember erklärt: "Frauen können verhindern, dass sie geschlagen werden, indem sie einfach das tun, was die Männer von ihnen verlangen". Aufgemerkt: Der 27. Dezember, das war das Hochfest der Heiligen Familie. Origineller Anlass, um den Frauen ins Stammbuch zu schreiben "Gehorcht euren Männern, oder es gibt was auf's Maul!" Okay, der Artikel stammte vom Humanistischen Pressedienst (hpd) - und, um einen schönen Satz zu zitieren, den ich im Zuge der darauf folgenden Debatten las: "Wenn der hpd nur 'Guten Morgen' sagt, hat er schon zweimal gelogen." Ähnliche, teilweise annähernd gleichlautende Berichte fand man jedoch auch in anderen Nachrichtenquellen; auch die Katholische Nachrichtenagentur KNA brachte eine entsprechende Meldung, die u.a. vom Kölner Domradio, aber auch von der WELT übernommen wurde. Bis zum Donnerstagabend war aus der angeblichen Äußerung des Erzbischofs von Toledo bereits ein Meme geworden, das sich auf Facebook, Twitter etc. fröhlich verbreitete.
 
So richtig konnte ich mir von Anfang an nicht vorstellen, dass der 2009 von Papst Benedikt XVI. zum Erzbischof von Toledo ernannte Rodríguez - der mir ansonsten übrigens vollkommen unbekannt war - den inkriminierten Satz tatsächlich gesagt haben sollte. Möglich, dass er etwas gesagt hatte, was man mit ausreichend bösem Willen in diese Richtung interpretieren konnte. Dass Ehefrauen ihren Männern gehorsam sein sollen, ist ja in der Tat Bestandteil der christlichen Ehelehre - der Apostel Paulus spricht z.B. im Epheserbrief davon. Und man weiß ja, wie mediale Berichterstattung über Kirchenthemen häufig funktioniert. Man nimmt eine möglicherweise missverständliche Äußerung, reißt sie aus dem Kontext, zitiert oder paraphrasiert sie ungenau und tendenziös, und fertig ist der Skandal. In Spanien ist häusliche Gewalt gegen Frauen, bis hin zu Mord, ein massives und aktuell intensiv diskutiertes Problem, da liegt es auf der Hand, dass es große Aufmerksamkeit erzeugt, wenn der Primas der Katholischen Kirche des Landes sich in einer Predigt zu diesem Thema äußert. Und dass die angebliche Äußerung des Erzbischofs von Toledo auch in Deutschland einschlug wie eine Bombe, darf man durchaus im Zusammenhang mit den Exzessen der Silvesternacht in Köln und anderen Städten sehen, die dafür gesorgt haben, dass Gewalt gegen Frauen - wenn auch nicht direkt häusliche Gewalt - auch hierzulande ein allgegenwärtiges Thema ist. Nicht wenige öffentliche Reaktionen auf die Vorfälle der Silvesternacht sehen das Hauptproblem der massenhaften sexuellen Übergriffe auf Frauen offenbar darin, dass sie der Fremden- und insbesondere der Islamfeindlichkeit im Lande Vorschub leisten könnten. Und man weiß ja: Nichts hilft so gut gegen Islamophobie wie die lautstark vorgetragene Behauptung, das Christentum - vorzugsweise in Gestalt der Katholischen Kirche - sei ja mindestens genauso schlimm. Also MINN-DESS-TENZ.
 
Gründe für die Vermutung, es handle sich bei dem angeblichen Zitat des Erzbischofs um einen inszenierten Skandal, gab es also zur Genüge, und bereits am Donnerstag gab es darüber allerlei Diskussionen unter Blogoezesanen und anderen engagierten Netzkatholiken. Dabei wurde u.a. festgestellt, dass die inkriminierte Predigt ja schon fast drei Wochen alt war - sollte es da nicht möglich sein, den Originaltext irgendwo online aufzufinden? Womöglich sogar auf der Website des Erzbistums Toledo? Ja, allerdings. Auf Spanisch natürlich, aber die Kenntnis der spanischen Sprache ist ja nun keine nur wenigen Auserwählten zugängliche Kunst. Ich selbst kann leider kein Spanisch, oder kaum; anders jedoch die Bloggerkolleginnen Heike Sander und Anna Diouf, die sich unabhängig voneinander unverzüglich daran machten, zu prüfen, was Erzbischof Rodríguez denn nun wirklich gesagt hatte. Ergebnis: Die Aussage der Predigt lief so ziemlich auf das Gegenteil dessen hinaus, was dem Erzbischof vorgeworfen wurde. 
 
In interessierten Kreisen verbreiteten sich Heikes und Annas Artikel schnell; ich las beide am frühen Freitagmorgen - allerdings hatte die Falschmeldung über die angeblichen frauenverachtenden Äußerungen des Kirchenmannes bis dahin bereits eine solche Breitenwirkung entfaltet, dass ich befürchtete, die solide Aufklärungsarbeit der beiden Bloggerkolleginnen werde dagegen nicht sonderlich viel ausrichten können. Ein auf einer Facebook-Seite mit dem Namen Die Atheisten gepostetes Foto des Erzbischofs mit dem berüchtigten, aber völlig frei erfundenen Zitat "Frauen können verhindern, dass sie geschlagen werden, indem sie einfach das tun, was die Männer von ihnen verlangen" war zu diesem Zeitpunkt schon fast 2.000mal geteilt worden. Das wird eine Sisyphosarbeit, sagte ich mir. Aber macht ja nichts, ich hab ja Zeit.
 
Also ließ ich mir diejenigen Facebook-Nutzer anzeigen, die das Bild öffentlich geteilt hatten. Und die Kommentare dazu. Diese reichten von hämischer Zustimmung über eine reiche Auswahl kotzender Smileys und Äußerungen à la "Was soll man von der Katholischen Kirche schon anderes erwarten?" bis hin zu massiven Beschimpfungen des Erzbischofs, unter denen die Bezeichnung "Arschloch" noch zu den eher maßvollen gehörte. Natürlich fehlte auch nicht der Klassiker, als katholischer Würdenträger sei Erzbischof Rodríguez doch bestimmt ein Kinderschänder. Hinzu kamen allerlei gegen den spanischen Primas gerichtete Gewaltphantasien, die von bloßem Verprügeln bis hin zur Kreuzigung reichten.
 
Einige der betreffenden Facebook-Nutzer hatten ihre Privatsphäre-Einstellungen so großzügig gestaltet, dass auch ich als völlig Fremder Kommentare zu ihren Beiträgen posten konnte. Also verlinkte ich bei schätzungsweise 30 bis 40 dieser Beiträge die Artikel von Heike und/oder Anna, mit dem Hinweis, man solle doch bitte mal zur Kenntnis nehmen, was der Erzbischof tatsächlich gesagt hatte - und was nicht. Einige meiner katholischen FB-Freunde beteiligten sich an meiner kleinen Kampagne. Und dann wartete ich auf Reaktionen.
 
Von den meisten Nutzern erfolgte überhaupt keine Reaktion. Die wenigen, die ich erhielt, liefen größtenteils nach demselben Schema ab. Stufe 1 bestand darin, die Glaubwürdigkeit der von mir verlinkten Artikel anzuzweifeln. Das seien doch keine seriösen Quellen. Ich wies darauf hin, dass in Annas Artikel sowohl der Originaltext der Predigt als auch eine von Anna selbst erstellte deutsche Übersetzung verlinkt seien. Ich meine, was für eine Quelle kann denn wohl glaubwürdiger sein als der Originaltext? Dennoch vollzog nur ein Teil derjenigen FB-Nutzer, die sich überhaupt auf eine Diskussion einließen, den Schritt zu Stufe 2: "Hätte aber ja sein können." Schließlich unterdrücke die Katholische Kirche Frauen seit 2000 Jahren, da passe so eine Äußerung einfach ins Bild, und wenn dieser eine Erzbischof diesen einen Satz tatsächlich gar nicht gesagt habe, dann mache das letztendlich doch gar keinen Unterschied: Immerhin hätte er es sagen können.
 
Diese Argumentation macht natürlich erst einmal etwas sprachlos. Fassen wir sie noch einmal zusammen: Einerseits beweist die Äußerung die Frauenfeindlichkeit der Katholischen Kirche, andererseits verleiht aber umgekehrt die ohnehin bekannte Frauenfeindlichkeit der Kirche dem Zitat seine inhärente Glaubwürdigkeit. Stellt sich heraus, dass die Aussage tatsächlich gar nicht getätigt wurde, ist das irrelevant, denn dass sie dennoch die wahre Einstellung der Kirchenoberen zu Frauenrechten widerspiegelt, steht so oder so fest. Da kommt man nicht mehr raus.
 
Kurz, die Bereitschaft, eine offensichtliche Falschaussage als falsch anzuerkennen und folglich zu revidieren, hält sich stark in Grenzen, wenn die Falschaussage so schön ins eigene Weltbild passt. Vielleicht ist dieses auffallend geringe Interesse an der Wahrheit aber  gar nicht so überraschend, wenn man bedenkt, dass derartige Reaktionen wohl überwiegend aus der vulgäratheistischen Ecke kamen. Da ist man versucht zu sagen: Schon klar, wären sie an der WAHRHEIT interessiert, dann wären sie ja auch interessiert an GOTT. -- Mir ist bewusst, dass diese Aussage in dieser pointierten Kürze polemisch und missverständlich wirken kann; ich habe hier und jetzt aber nicht den Raum und die Zeit, detailliert auszuführen, wie ich das meine (dazu habe ich schon seit geraumer Zeit einen eher theorielastigen Artikel in Planung - kommt hoffentlich bald). Daher vorläufig nur soviel: Wahrheit ist in letzter Konsequenz eine metaphysische Größe und kommt somit im Weltbild des New Atheism à la Richard Dawkins nicht vor, ja, nicht wenige New Atheists verbringen einen signifikanten Teil ihrer Arbeitszeit damit, der Welt zu erklären, dass es so etwas wie Wahrheit nicht gebe. Der New Atheism erkennt keine Wahrheit an, sondern nur Fakten. -- An dieser Stelle ein Hat Tip an Professor Ratzinger alias Papa Emeritus Benedikt XVI., dessen Einführung in das Christentum ich die Erkenntnis verdanke, dass factum das Partizip Perfekt von facere, machen, ist. Hätte ich kraft meines Latinums eigentlich auch selbst drauf kommen können. Aber man kommt halt nicht auf alles, worauf man kommen könnte. -- Fakten sind also dem Wortsinne nach etwas Gemachtes, und so gesehen ist ein Meme über einen Kirchenvertreter, der sagt, ungehorsame Frauen hätten Schläge verdient, ein Faktum. Ob die Behauptung, die dieses Meme aufstellt - also die Behauptung, der betreffende Kirchenvertreter habe dies tatsächlich gesagt - wahr ist, spielt demgegenüber fast schon keine Rolle mehr.
 
Unter den Reaktionen der Facebook-Nutzer, die ich auf Heikes und Annas Richtigstellungen hingewiesen hatte, sind allerdings ein paar rühmliche Ausnahmen zu nennen. Eine Nutzerin löschte ihren Beitrag umgehend (nachdem sie noch eine Antwort auf meinen Kommentar geschrieben hatte, die ich wegen der unmittelbar darauf folgenden Löschung des ganzen Beitrags nicht mehr lesen konnte); ein anderer Nutzer gestand freimütig, da sei er wohl einer Ente aufgesessen - und brachte zu seiner Verteidigung vor, er habe die Meldung für glaubwürdig gehalten, weil ja sogar die KNA darüber berichtet habe.
 
 
 

2 Kommentare:

  1. "Hermeneutik des Wohlwollens“ ist der Name für eine immer seltener werdende Tugend. Sie meint die Haltung, beim Hören oder Lesen einer Äußerung zunächst eine möglichst positive Absicht zu unterstellen.
    Dieses sind zitierte Sätze aus einem heute in der kathol. Zeitung "Die Tagespost" von Johannes Hartl, dem Leiter des Augsburger Gebetshauses, verfassten Artikel, die auch in dem von Ihnen hier vorgestellten Fall zutreffen.
    Meine Hochachtung für Sie und Ihre um Richtigstellung bemühten Bloggerkolleginnen, die hier Zeit und Energie für die Wahrheit aufgewendet haben.
    Vergelt's Ihnen Gott!

    AntwortenLöschen
  2. Ich habe die entsprechenden Passagen im WIKIPEDIA-Artikel https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Braulio_Rodr%C3%ADguez_Plaza&stable=0&shownotice=1&fromsection=Kontroversen korrigiert. Die letzten 4 Ergänzungen sind noch nicht gesichtet.

    AntwortenLöschen