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Donnerstag, 31. Dezember 2015

Lemmy und die Jungfrauengeburt

Lemmy Kilmister, einstiger Bassist der Space-Rock-Gruppe Hawkwind und dann und vor allem Kopf und Herz der Heavy-Metal-Band Motörhead, ist tot. Das musste ja so kommen, könnte man da sagen, oder auch: Eigentlich ein Wunder, dass er überhaupt so alt geworden ist. Immerhin 70 nämlich. Seit 15 Jahren litt er an Diabetes, seit über zweieinhalb Jahren trug er wegen Herzproblemen einen implantierbaren Defibrillator. Geschafft hat ihn schließlich eine erst wenige Tage vor seinem Tod diagnostizierte Krebserkrankung. Die Apotheken-Umschau widmete ihm einen wirklich reizenden Nachruf auf Twitter
"Lemmy Kilmister ist tot. Er hat immer genau das Gegenteil von dem gemacht, was die Apotheken-Umschau empfohlen hat. Dafür liebten wir ihn!" 
In meinem persönlichen Social-Media-Umfeld löste die Nachricht von Lemmys Tod viel Betroffenheit und Trauer aus, andererseits aber auch Reaktionen wie "Jetzt kriegt euch mal wieder ein" oder sogar "Wer ist eigentlich dieser Lemmy, von dem hier alle reden?" 

Nun gut, letztere Frage haben wir oben im Grunde schon geklärt; nicht aber die Frage, warum er so vielen Menschen so viel bedeutet hat, dass sein Tod so intensiv betrauert wurde. Was war das Besondere an Lemmy? Ich glaube, das Beste, was ich tun kann, um dies begreiflich zu machen, ist, aus der eMail eines guten alten Freundes zu zitieren, die ich heute morgen erhielt: 
"Was Lemmy so einzigartig machte, ist, dass er Jenes, was man mit dem etwas pubertären, unangepassten Image von Rock'n'Roll verbindet, auf derartige Weise in sich vereint, dass es fast an Parodie grenzt - wenn es nicht vollkommen echt gewesen wäre.

Es gibt da - in Manchen mehr, in Manchen weniger - etwas, sagen wir mal, Animalisches in uns, das uns auch dann und wann mal richtig auf die Kacke hauen lassen möchte. Alles auf die Kante geben.

Das ist kindisch und natürlich völlig unerwachsen. Unvernünftig. Und überhaupt: Wie sähe das denn aus?

Lemmy hat das gemacht. Ganz echt. In unser aller Namen. Ohne Auftrag (Lemmy braucht keinen fucking Auftrag from bloody nobody), aber mit unserer heimlichen Zustimmung. Hat er das gemacht.

Und wir haben das genossen. Da ist einer, da draußen, der macht das. Der hält die Fahne hoch, und beide - er und die Fahne - werden dabei schmutzig und schäbig und sind schlicht und echt."
Soweit verständlich? Nun ja, sicher für den Einen mehr, den Anderen weniger. Für manch Einen vielleicht auch gar nicht, aber das Schöne ist: Das wäre Lemmy egal gewesen. 

Anlässlich seines Todes kursierten in den Sozialen Netzwerken neben Nachrufen sämtlicher namhafter Presseorgane nicht nur diverse Videos von Hawkwind- und Motörhead-Performances, sondern auch allerlei Lemmy-Zitate, die zumeist Interviews entnommen waren. Beträchtlicher Beliebtheit erfreute sich dabei Lemmys Antwort auf eine Frage des SPIEGEL: "Sind Sie religiös?": 
"Dünne Geschichte, die christliche Religion. Jungfrau wird schwanger von einem Geist, bleibt aber Jungfrau. Sagt zu ihrem Mann, ich bin schwanger, Darling, aber mach dir keine Sorgen, ich bin ja immer noch Jungfrau. Menschen, die sich so benehmen, verdienen es, in einem Stall übernachten zu müssen." 
Nun ja. Seien wir ehrlich: Das hat bestenfalls mittelprächtiges Witzbuchniveau. Aber jemandem, der sein Leben so kompromisslos der Trias Sex, Drugs & Rock'n'Roll geweiht hat, wollen wir mal nicht verübeln, dass er mit dem Konzept der Jungfräulichkeit eher wenig anfangen kann. Zudem kann man sich gut vorstellen, dass er selbst mehr als einmal in einem Stall hat schlafen müssen. Vor allem aber sollte man berücksichtigen, dass die Sache mit der Jungfrauengeburt auch ganz Andere nicht kapieren. Diese eine Pastorin aus Bremen zum Beispiel. 

In meinem vor-vorigen Artikel "Wir schaffen Weihnachten!" hatte ich mich darauf beschränkt, die Ausführungen von Pastorin Isabel Klaus über das Weihnachtsevangelium als "Glaubensmärchen" (sic!) lediglich zu zitieren, ohne näher darauf einzugehen; einerseits, um den Artikel nicht zu sehr ausufern zu lassen (ein bisschen was habe ich eben doch von Klaus Kelle gelernt), andererseits aber auch, weil ich fand, dieser Schwachsinn sei gar nicht kommentarwürdig. Es lohnt sich aber, das Doppel-Interview des Bremer Weser-Kuriers mit der Pastorin der evangelischen Remberti-Kirche und dem russisch-orthodoxen Erzpriester Alexander Bertash in Gänze zu lesen. Es hat durchaus eine gewisse Komik, zu beobachten, wie die beiden Geistlichen im Verlauf des Gesprächs mehr und mehr befremdet voneinander sind. Was meine Einschätzung betrifft, ein Kommentar zu Frau Klaus' Einlassungen erübrige sich, musste ich mich allerdings eines Besseren belehren lassen. Ein geschätzter Freund und regelmäßiger Huhn meets Ei-Leser, seines Zeichens evangelischer Christ, schrieb mir, er könne "nicht verstehen", was ich an der zitierten Aussage "Dabei weiß jedes Kind, dass Maria keine Jungfrau war und der Heilige Geist nicht für ihre Schwangerschaft verantwortlich ist" auszusetzen hätte. Er argumentierte: 
"Die Jungfrauengeburt ist ein typisches Narrativ der Antike, damit wurden besonders herausgehobene Personen noch besonderer gemacht. Im Altertum wurde die Jungfrauengeburt über Alexander den Großen behauptet und über Julius Cäsar [...]. Für die Griechenchristen war das also wichtig.

Die Judenchristen dagegen haben mehr Wert auf die direkte Abstammung von König David gelegt, die ebenfalls im Evangelium steht, aber genauso wenig ernstzunehmen ist wie die Jungfrauengeburt. Auch sie kennzeichnet Jesus als besonderen Menschen.

Die historisch-kritische Forschung weiß das seit langem. Diese Details zu kennen und zu benennen schmälert die Heilsgeschichte Jesu Christi meines Erachtens überhaupt nicht, nimmt aber den Feinden der christlichen Religion, die sich genau an solchen Details immer wieder hochzuziehen, den Wind aus den Segeln." 
Nun finde ich es vom Ansatz her problematisch, zu behaupten, dass die historisch-kritische Forschung etwas "weiß". Wobei, ganz so kann man das wohl nicht sagen. Die historisch-kritische Forschung kann durchaus wissen, dass es Mythen über die jungfräuliche Geburt von Heroen schon in vorchristlicher Zeit in verschiedenen Kulturkreisen gegeben hat. Das ist auch gar keine besonders originelle Erkenntnis; auch Joseph Ratzinger, der heutige emeritierte Papst Benedikt XVI., spricht in seiner "Einführung in das Christentum", S. 257, davon. Daraus aber den Schluss zu ziehen, das frühe Christentum habe die Idee der Jungfrauengeburt aus dem Hellenismus übernommen und auf Jesus Christus übertragen, um dessen göttliche Sendung für ein hellenistisch geprägtes Publikum plausibel zu machen, ist weder "historisch" noch gar "kritisch", sondern schlicht spekulativ. Oder, wie Professor Ratzinger es schon 1968 formulierte, "für den historisch Denkenden ein absurdes Gemälde, auch wenn es heute scharenweise seine Gläubigen findet" (S. 202). - Ich will gar nicht bestreiten, dass die historisch-kritische Methode viel Wertvolles zu einem vertieften Verständnis biblischer Texte beitragen kann (oder könnte); leider sieht sie jedoch ihre Aufgabe nur allzu oft darin, die biblischen Texte zu dekonstruieren, sie ihrer inneren Stimmigkeit und Wahrheit zu berauben. Das passiert, wenn Theologen nicht im Glauben verwurzelt sind, könnte man seufzend oder achselzuckend hinzufügen. Aber es ist nicht nur das. Wenn eine Pastorin Isabel Klaus vollmundig verkündet "Wir [...] wissen, was an dieser Geschichte wahr ist und was nicht", dann ist das, unabhängig davon, wie man zum christlichen Glauben steht, auch aus wissenschaftlicher Perspektive vor allem arrogant und dumm. 

Im weiteren Verlauf der Diskussion verschärfte mein Freund den Ton etwas:
"Die Angst, die theologische Dimension und Tiefe zu verlieren, wenn man nicht an antiken Narrativen und mittelalterlichem Brauchtum festhält, kann ich nicht nachvollziehen. Jesus Christus ist Gottes Sohn und am Kreuz für die Sünden der Menschen gestorben. Durch ihn kommt das Heil in die Welt. Wenn ich daran festhalte, brauche ich keine Jungfrauengeburt und keine Marienwunder, keine Männer in bunten Gewändern und keinen Weihrauch in der Kirche, der zu früheren Zeiten verwendet wurde, um den Gestank zu überdecken. Solus Christus, sola fide, sola scriptura - mehr braucht es nicht, und was es nicht braucht, ist in Glaubensdingen schädlich." 
Nun gut - die Polemik gegen bestimmte, als "mittelalterliche[s] Brauchtum" belächelte Charakteristika des Römischen Ritus lasse ich meinem evangelischen Freund durchgehen, auch wenn ich sie in diesem Kontext etwas deplatziert finde. Viel entscheidender finde ich es an dieser Stelle, dass die Frage, ob der Glaube an die Jungfrauengeburt notwendig sei, völlig an der Frage vorbeigeht, ob er wahr ist. Um nochmals Professor Ratzinger zu zitieren: 
"Es sollte eigentlich keiner eigenen Erwähnung bedürfen, dass all diese Aussagen [über die Jungfrauengeburt] Bedeutung nur haben unter der Voraussetzung, dass das Geschehen sich wirklich zugetragen hat, dessen Sinn ans Licht zu heben sie sich mühen. Sie sind Deutung eines Ereignisses; nimmt man dies weg, so werden sie zu leerem Gerede, das man dann nicht nur als unernst, sondern auch als unehrlich bezeichnen müsste." (S. 262) 
Dass es die jungfräuliche Geburt nicht bräuchte, um Jesus Christus als den Sohn Gottes zu legitimieren, räumt auch Professor Ratzinger ein (vgl. S. 258). Wenn es Gott aber nun einmal gefallen hat, Seinen Sohn auf diese Weise zur Welt kommen zu lassen - als "Neuschöpfung" (ebd.), "nicht aus dem Eigenen der Menschheit kommend, sondern aus Gottes Geist" (S. 262) -, dann kann man alle Einwände dagegen im Grunde nur noch mit den Worten Jesu an Simon Petrus aus Johannes 21,22 beantworten: "Was geht's dich an?" 

Und warum bereitet von allen christlichen Glaubensaussagen gerade die Jungfrauengeburt dem modernen Menschen solche Schwierigkeiten, ja, solches Unbehagen? Weil sie biologisch gesehen unmöglich ist? - Ich will mich hier gar nicht damit aufhalten, darüber zu debattieren, ob die Naturwissenschaft Recht hat mit der Annahme, dass Parthenogenese beim Menschen, anders als bei manchen Tier- und Pflanzenarten, beim Menschen nicht möglich sei bzw. dass durch Parthenogenese lediglich ein genetischer Klon der Mutter, nicht aber ein andersgeschlechtliches Kind entstehen könne. Sagen wir getrost: Der Sinn, die Bedeutung der jungfräulichen Geburt erschließt sich nur, wenn man sie nicht als natürliches, sondern als übernatürliches Ereignis versteht - als Wunder. (Vgl. Ratzinger, S. 260: "Es kann einen freilich etwas betrübt stimmen, dass man eigens sagen muss, dass die Ebene der Metaphysik nicht diejenige der Biologie ist.") Ohne den Glauben an Übernatürliches, an Wunder aber wird der christliche Glaube rissig bis ins Fundament hinein. Mein evangelischer Freund bekennt sich ausdrücklich dazu, dass "Jesus Christus [...] Gottes Sohn und am Kreuz für die Sünden der Menschen gestorben" sei: "Durch ihn kommt das Heil in die Welt." Wer im Stande ist, das zu glauben - sollte der nicht auch glauben können, dass "durch Gottes ew'gen Rat" - wie es im Weihnachtslied "Es ist ein Ros entsprungen" heißt - eine Jungfrau ein Kind gebären konnte? Interessant auch, dass mein Freund sich im gleichen Atemzug, in dem er ein durch zwei Evangelien explizit bezeugtes Ereignis leugnet, auf den urprotestantischen Grundsatz sola scriptura beruft. Wenn man alle diejenigen Aussagen der Bibel verwirft, an die man "als aufgeklärter Mensch" nicht glauben zu können meint - was bleibt dann vom sola-scriptura-Prinzip noch übrig? - Schlag nach bei Thomas Jefferson.

Was aber machen wir mit dem Argument, Glaubenssätze wie jener von der Jungfrauengeburt machten es "den Feinden der christlichen Religion" allzu leicht, den christlichen Glauben als naiv, versponnen und vernunftwidrig zu verlachen? Das oben zitierte SPIEGEL-Interview unseres Freundes Lemmy scheint ja in der Tat ein schlagender Beleg für diese These zu sein. Doch selbst ganz abgesehen davon, dass solche Erwägungen kein allzu großes Gewicht haben können bzw. dürfen, wenn man davon ausgeht, dass dieser Glaubenssatz schlicht wahr ist: Das Phänomen, dass Christen für ihren Glauben verlacht und für dumm gehalten werden, ist so alt wie das Christentum selbst. Deshalb Glaubenssätze aufzugeben, um bei der nichtgläubigen Welt weniger Anstoß zu erregen, widerspräche jedoch allem, was Jesus Christus selbst und Seine Apostel gelehrt haben. "Wenn die Welt euch hasst, dann wisst, dass sie mich schon vor euch gehasst hat", erinnert Jesus Seine Jünger in Johannes 15,18, und in Matthäus 11,25 betet Er: "Ich preise Dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, weil Du all das den Weisen und Klugen verborgen, den Unmündigen aber offenbart hast". Im 1. Brief an die Korinther (1,23) sagt der Apostel Paulus von dem zentralen christlichen Glaubenssatz, der Erlösung der Menschen durch den Kreuzestod Christi, dieser sei "für Juden ein empörendes Ärgernis, für Heiden eine Torheit"; und im selben Brief (4,10) sagt er über sich und die anderen Apostel: "Wir stehen als Toren da um Christi willen".

Lemmy, das alte Rock'n'Roll-Kampfschwein, hat, wie wir oben gesehen haben, zeitlebens nie zu den "Weisen und Klugen" gehört; dennoch spiegelt seine flapsige Bemerkung über die Jungfrauengeburt das wider, was die "Weisen und Klugen", die modernen Theologen nämlich, aus diesem Glaubenssatz gemacht haben. Nichts gibt einen Glaubensinhalt mehr der Lächerlichkeit preis, als wenn selbst die Theologen ihn nicht mehr für wert halten, ernst genommen zu werden - wenn sie so lange an ihm heruminterpretieren und ihn zu "minimalisieren", "ins Symbolische ab[zu]schieben" suchen (Ratzinger, S. 257), bis nur noch eine Karikatur von ihm übrig bleibt - eine Vogelscheuche, die beim ersten Windstoß umkippt. Schon im 1968 verfassten Vorwort seiner Einführung in das Christentum (S. 27f.) verglich der spätere Papst Benedikt XVI. "die theologische Bewegung des letzten Jahrzehnts" mit der "alte[n] Geschichte vom 'Hans im Glück'":
"Hat unsere Theologie in den letzten Jahren sich nicht vielfach auf einen ähnlichen Weg begeben? Hat sie nicht den Anspruch des Glaubens, den man allzu drückend empfand, stufenweise herunterinterpretiert, immer nur so wenig, dass nichts Wichtiges verloren schien, und doch immer so viel, dass man bald darauf den nächsten Schritt wagen konnte? Und wird der arme Hans, der Christ, der vertrauensvoll sich von Tausch zu Tausch, von Interpretation zu Interpretation führen ließ, nicht wirklich bald statt des Goldes, mit dem er begann, nur noch einen Schleifstein in Händen halten, den wegzuwerfen man ihm getrost zuraten darf?" (ebd.)
Und diese Geschichte passt ja, finde ich, irgendwie ganz gut zu Lemmy. Das Leben so leben, dass von dem Goldklumpen, den man einmal besessen hat, am Ende nur ein Schleifstein übrig bleibt - und den dann auch noch wegzuwerfen - das ist Rock'n'Roll.

Rock on, Lemmy. Und möge die Allerseligste Jungfrau dich behüten.


 


2 Kommentare:

  1. Der schönste Nachruf auf Lemmy, den man sich denken kann. Super Artikel!

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  2. Die Frage ist doch, was wir Gott eigentlich zutrauen:
    Ist Er wirklich der Schöpfer des Universums mit den uns bekannten aber auch den noch nicht bekannten (Natur)Gesetzmäßigkeiten?
    Wenn ja - dann stehen Ihm auch Möglichkeiten zu einer Jungfrauengeburt offen.
    Wenn nein - wäre es nicht der Gott, den wir doch im Glaubensbekenntnis bezeugen.

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