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Donnerstag, 14. Februar 2013

Single-Selbstmord am Valentinstag

Aus kalendarischem Anlass möchte ich hier wieder einmal einen Lesebühnentext von mir veröffentlichen. Geschrieben habe ich ihn anno 2010 anlässlich einer "Horror-Lesung" an Halloween - auch so ein importierter, kommerzieller Pseudo-Feiertag, daher rührte wohl die Assoziation... (Aber keine Sorge: Der Horror-Aspekt des Texts ist nicht allzu ausgeprägt.)


Single-Selbstmord am Valentinstag

Früher hatte Anton sich nie viel aus dem Valentinstag gemacht. Aber das war gewesen, bevor er mit Monika zusammen war. Monika hatte immer großen Wert darauf gelegt, diesen Tag ausgiebig zu zelebrieren; und nachdem Anton immerhin fünf Valentinstage mit Monika verlebt hatte, war er schlechterdings nicht mehr in der Lage, dieses Datum zu ignorieren. Obendrein arbeitete sein Nachbar Jörg – der einzige andere Mieter im Haus, zu dem Anton einigermaßen regelmäßigen Kontakt hatte – bei Fleurop, und Jörg sprach schon seit Wochen vom ‚V-Day‘, stets begleitet von der entsprechenden Geste. Der andere Großkampftag der Branche war ‚M-Day‘, Muttertag. „Natürlich halte ich diese Tage in Ehren“, pflegte Jörg, selbst Single, zu sagen. „Valentinstag und Muttertag sind von der Floristenbranche und zu Nutz und Frommen der Floristenbranche erfunden worden – was wäre denn das für eine Berufsauffassung, wenn ich diese Tage nicht würdigen wollte? – Aber vor allem“, pflegte Jörg hinzuzufügen und dabei sein Bierglas zu erheben, „machen diese Tage einen Haufen Arbeit.“

Anton graute vor dem diesjährigen Valentinstag, dem ersten seit seiner Trennung von Monika – oder, genauer gesagt: Monikas Trennung von ihm. Er hatte gedacht, Monika wäre die Frau seines Lebens. Er hatte sie heiraten wollen, hatte gedacht, sie würden Kinder bekommen und in Zukunft auch den ‚M-Day‘ zusammen feiern. Und dann, vor gut einem halben Jahr, war alles vorbei gewesen, ganz plötzlich. Nun gut: ganz so plötzlich wohl nicht. Jede Trennung hat ihre Vorgeschichte, dessen war Anton sich durchaus bewusst, auch ohne die klugen Sprüche seiner Psychotherapeutin. Aber Vorgeschichte hin oder her, letztlich traf einen so etwas wohl doch immer unvorbereitet.

Je näher der Valentinstag rückte, umso mehr Sorgen machte Anton sich, wie er diesen Tag überstehen sollte. Weihnachten war schon schlimm genug gewesen – auch so ein ‚Fest der Liebe‘, aber doch in einem allgemeineren und nicht so auf Paarbeziehungen eingeengten Sinne. Der Valentinstag war der Tag der Liebenden, und das war schlimm. Für ihn jedenfalls. Das Gefühl, dass ihm eine Hälfte dazu fehlte, ein Ganzes zu sein, und dass Monika diese Hälfte war – ein Gefühl, das ihn im letzten halben Jahr nie gänzlich losgelassen hatte –, musste an diesem Tag zwangsläufig eine schmerzhafte Deutlichkeit annehmen. Noch dazu fiel der Valentinstag in diesem Jahr ausgerechnet auf einen Samstag, was bedeutete, dass er nicht zur Arbeit gehen musste. Nicht zur Arbeit gehen konnte, nicht zur Arbeit gehen durfte. Das hätte ihn vielleicht abgelenkt.

Wenigstens waren die Geschäfte geöffnet, also beschloss Anton, an diesem Tag – und nicht, wie sonst, am Freitag – die Einkäufe für die kommende Woche zu erledigen. Er hoffte, diese prosaische Tätigkeit würde ihn davon abhalten, zu viel und über die falschen Dinge nachzudenken. Tapfer ignorierte er die grellen Werbetafeln voller knutschender Pärchen und pinkfarbener Herzchen, an denen er auf seinem Weg zum Supermarkt vorbeikam, die Blumenverkäufer auf dem Vorplatz des Supermarkts und die aufdringlich ausgestellten Pralinenpackungen im Supermarkt und lud mit eiserner Konsequenz und Konzentration nichts als ganz prosaische Lebensmittel in unaufdringlichen, absolut valentinstagsfreien Verpackungen in seinen Einkaufswagen. Zum Abschluss seines Einkaufs ging er zur Backwarentheke, bestellte ein halbes großes Graubrot und ließ es sich in Scheiben schneiden. Mit einem Schmunzeln dachte er daran, dass es, als er gerade nach Ostberlin gezogen war – kurz nach der Wende –, absolut unmöglich gewesen war, sich an der Backwarentheke im Supermarkt (oder in der „Kaufhalle“, wie einige Alteingesessene bis heute sagten) einen Laib Brot in Scheiben schneiden zu lassen. Bei seinem ersten Versuch hatte ihn die Verkäuferin angeschnauzt, wenn er geschnittenes Brot haben wolle, solle er das abgepackte aus dem Regal nehmen. Das war in einem Edeka-Markt gewesen, der mitten auf dem Gelände der ehemaligen Stasi-Zentrale in Lichtenberg lag und den er fortan nur noch die „Stasi-Kaufhalle“ genannt hatte. Inzwischen war er längst aus Lichtenberg weggezogen, erst nach Mitte, dann nach Prenzlauer Berg, und er hatte keine Ahnung, ob es die Stasi-Kaufhalle noch gab; aber wenn ja, dann war er sich sicher, dass es selbst dort mittlerweile völlig normal war, dass ein Kunde sich einen Laib Brot in Scheiben schneiden lassen konnte. Bei diesem Gedanken fühlte Anton sich als Pionier des Brotschneidenlassens in Ostberlin, ach was, in der gesamten Ex-DDR, und war nicht wenig stolz auf sich.

Antons Erwachen aus diesem kurzen Tagtraum fiel unsanft aus. Vor lauter Stolz auf seine kulturelle Pionierleistung hatte er nicht aufgepasst, was für einen Brotlaib die Verkäuferin in die Schneidemaschine geschoben hatte – und jetzt, als sie ihm einen Klarsichtbeutel voll geschnitten Brot auf die Theke legte, sah er, dass es ein herzförmiger Laib gewesen war, nunmehr feinsäuberlichst in herzförmige Scheiben geschnitten. „Was ist das denn?“ herrschte Anton die Verkäuferin entgeistert an. – „Das ist unser Valentinstags-Special“, erwiderte die Verkäuferin zuckersüß. „Valentins-Brot. In Herzform.“ – „Ich will Ihr Scheiß-Valentins-Brot nicht!“ protestierte Anton und knallte die Tüte wutentbrannt auf den Tresen. „Ich hatte ein stinknormales halbes großes Graubrot bestellt!“ – „Das ist ein normales Graubrot“, beharrte die Verkäuferin, ohne sich aus der Ruhe bringen zu lassen. „Nur eben in Herzform.“
Bemüht, seine Fassung wiederzufinden, schüttelte Anton den Kopf und sagte: „Das will ich nicht. Nehmen Sie es zurück.“
Spürbar indigniert, aber ohne den Firnis professioneller Freundlichkeit gänzlich abzustreifen, erwiderte die Verkäuferin: „Entschuldigung, aber jetzt habe ich es für Sie geschnitten – jetzt müssen Sie es auch kaufen.“
Verärgert knallte Anton ihr das Geld auf den Tresen, nahm den Brotbeutel und verließ den Supermarkt.

Auf dem Heimweg klatschten die Werbetafeln Anton ihre aufdringlichen Romantik-Botschaften gnadenlos ins Gesicht. Hin und wieder fiel sein Blick auf den Klarsichtbeutel voll herzförmiger Brotscheiben, den er in der Hand trug, weil er ihn nicht mit seinen anderen Einkäufen in dieselbe Tüte hatte packen wollen. Am liebsten hätte er ihn in den nächsten Mülleimer geworfen und sich irgendwo ein anständiges Brot gekauft; aber Brot wegwerfen, das tat man einfach nicht, das war eine Sünde, eine unverzeihliche Sünde wie Selbstmord. À propos Selbstmord, dachte Anton. Möchte doch mal wissen, ob es eine Statistik über Single-Selbstmorde am Valentinstag gibt. Gibt’s bestimmt. Muss ich mal im Internet recherchieren, wenn ich nach Hause komme. Vielleicht muntert mich das ein bisschen auf.

Als er jedoch nach Hause kam und die eingekauften Lebensmittel in die Küche bringen wollte, da stand in seiner Küche ein dicklicher nackter Knabe mit lockigem Haar und zwei lächerlich mickrigen goldenen Flügelchen an den Schulterblättern, zwischen denen ein Bogen und ein Köcher mit Pfeilen hingen – Pfeile mit herzförmigen Spitzen. Einen davon hielt das kleine Dickerchen eben in der Hand, um die Spitze zu schärfen – und zwar am Sägeblatt von Antons Brotschneidemaschine.

Anton erkannte den kleinen Schelm sofort, obwohl der sich schon lange nicht mehr bei ihm hatte blicken lassen. „Amor!“ fuhr er ihn an. „Was machst du hier?“
Ohne auf die Frage einzugehen, entgegnete Amor: „Sieh mal an, Anton, du hast ja eine Brotschneidemaschine! Und trotzdem musst du bei jeder Gelegenheit arme, überarbeitete Bäckereifachverkäuferinnen behelligen?“
Genervt schmiss Anton die Brottüte auf den Küchentisch. „Es geht überhaupt nicht darum, dass ich mir mein Brot auch selbst schneiden könnte. Es geht um Service, um Kundenfreundlichkeit. Das ist einfach eine Stilfrage! Und übrigens“ – er bemerkte, dass seine Stimme schrill wurde, konnte es aber nicht ändern. „Die Brotschneidemaschine hab‘ ich mir in den Neunzigern gekauft, als es hier unmöglich war, Brot geschnitten zu bekommen; und behalten habe ich sie für den Fall, dass der Sozialismus zurückkommt!“
Amor ließ von der Schnitzerei an seinem Pfeil ab und wandte sich zu Anton um. „Sieh an, deinen Humor hast du also noch nicht ganz verloren“, bemerkte er spöttisch. „Schön für dich. Aber ich kann es nicht tolerieren, dass du meinen Feiertag boykottierst – bloß weil du einmal Pech in der Liebe hattest…“
Anton fuhr auf und wollte heftig protestieren, aber Amor schnitt ihm mit einer herrischen Geste das Wort ab. „Findest du nicht, du hast allmählich lange genug deine Wunden geleckt? Wie willst du eigentlich jemals eine neue Frau finden, wenn du nichts anderes tust als arbeiten, einkaufen und mit deinem Nachbarn Jörg am Tresen in der Eckkneipe versumpfen, und ansonsten miesepetrig in deiner Wohnung hockst? – Na gut, vielleicht brauchst du ein paar Anregungen. Ich hab‘ dir ein Buch mitgebracht. Liegt da drüben.“

Er deutete auf den Küchentisch, und da lag ein Taschenbuch: About A Boy von Nick Hornby. Anton lachte bitter auf. „Du willst mir jetzt aber nicht erzählen, ich soll mir ein Kind ausleihen, um mich als alleinerziehender Vater auszugeben, nein?“
„Ach“, erwiderte Amor überrascht, „du kennst das Buch?“
„Ich hab‘ den Film gesehen“, brummte Anton knapp.
„Den Film gesehen“, höhnte Amor. „Na klar. Ich sag‘ dir, lies das Buch. Das ist sehr lehrreich.“

Allmählich hatte Anton genug von diesem Gespräch. „Jetzt hör‘ mal zu“, polterte er los, „ich glaube wirklich nicht, dass ich es nötig habe, mir von einem kleinen Fettsack mit Flügeln und einem winzigen Schniedel kluge Ratschläge –“
 Weiter kam er nicht: Blitzschnell war Amor herumgewirbelt und hatte einen Pfeil auf ihn abgeschossen, und das war keiner mit herzförmiger Spitze. Er zauberte Anton auch keine Schmetterlinge in den Bauch, sondern nagelte ihn umstandslos an die gepolsterte Rückenlehne seines Küchenstuhls.
Das letzte, was Anton sah, war, wie Amors pausbäckiges Kindergesicht sich in eine dämonische Fratze verwandelte. „Dich werd‘ ich lehren, die wahre Bedeutung des Valentinstags zu begreifen“, zischte er. „Dich werden heute drei Geister besuchen. Erwarte den ersten zur Mittagszeit!“

„Lass mich doch in Ruhe mit diesem Charles-Dickens-Scheiß“, murmelte Anton kraftlos; dann schwanden ihm die Sinne...

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