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Samstag, 18. August 2012

"Famoses Land, dieses Sibirien, und allerliebste Verhältnisse!"

Anfangs war es nur ein Sommerloch-Thema unter vielen. Aber seit gestern werde ich von allen Seiten mit "Free Pussy Riot"-Solidaritätsbekundungen überschwemmt. Und zwar wirklich von ALLEN Seiten: Von meinen Freunden aus der linksautonom-veganen Volksküchen-Szene bis hin zu der alten Frau F., deren politischen Standpunkt man bei allerbestem Willen gerade noch als rechtspopulistisch bezeichnen kann -- überall herrscht lautstarke Empörung über Putin, die russische Justiz und nicht zuletzt die Russisch-Orthodoxe Kirche. Damit man mir nun nicht gleich die Freundschaft kündigt, sei es bei Facebook oder sogar im wirklichen Leben, will ich gleich vorausschicken, dass ich grundsätzlich große Sympathie für das Ansinnen empfinde, die künstlerische Freiheit gegen politische und/oder juristische Verfolgung zu verteidigen. Ich hege auch keinerlei feindselige Gefühle gegen die drei inhaftierten Pussy Riot-Musikerinnen Nadeschda Tolokonnikowa, Marija Aljochina und Jekaterina Samuzewitsch und will hier durchaus nicht dazu aufrufen, die Delinquentinnen in einem sibirischen Arbeitslager verrotten zu lassen. Und ich erkenne an, dass Punk nun mal von Provokation und Tabubruch lebt. Trotzdem habe ich den Eindruck, angesichts der überall zu hörenden Bekundungen, die Welt sei hier Zeuge eines Schauprozesses, mit dem das erzdiktatorische Putin-Regime seine Kritiker mundtot machen wolle, sind einige Klarstellungen durchaus am Platz.

Zunächst einmal: Angeklagt und verurteilt wurden die drei jungen Damen nicht dafür, dass sie gegen Putin demonstriert haben, sondern dafür, dass sie dies im Altarraum einer russisch-orthodoxen Kathedrale getan haben, was nach Auffassung des Gerichts den Straftatbestand des "Rowdytums aus religiösem Hass" erfüllt. Wer diese Begrifflichkeit als etwas abstrus empfindet und typisch russische Willkür in gleichermaßen zaristischer wie stalinistischer Tradition dahinter wittert, der sei darauf verwiesen, dass die als "Punk-Gebet" bezeichnete Pussy Riot-Aktion in der Christ-Erlöser-Kathedrale auch nach deutschem Strafrecht justiziabel gewesen wäre, nämlich nach §167 StGB (Störung der Religionsausübung) und §123 StGB (Hausfriedensbruch). Vor der gestrigen Urteils- und Strafmaßverkündung war vielfach Kritik an der langen Untersuchungshaft und an den Haftbedingungen geübt worden, und dieser Kritik will ich keinesfalls widersprechen. Gegen den Schuldspruch als solchen lässt sich aber kaum etwas einwenden; er entspricht ganz einfach der Gesetzeslage. Nun kann man es durchaus unverhältnismäßig finden, dass die jungen Punkrockerinnen eine nicht einmal eine Minute dauernde Performance mit zwei Jahren Haft büßen sollen; allerdings sieht auch das deutsche Strafrecht - vgl. den oben bereits angesprochenen § 167 StGB - für "Störung der Religionsausübung" bis zu drei Jahre Freiheitsstrafe vor; nach russischem Recht, das hier ja maßgeblich ist, wären sogar bis zu sieben Jahre möglich, sodass man behaupten kann, das Strafmaß sei vergleichsweise moderat ausgefallen. Hätte mit dem Prozess gegen die drei Pussy Riot-Sängerinnen ein Exempel gegen Putin-Kritiker statuiert werden sollen, hätte man mit einer härteren Strafe rechnen können; so erwartete die oben erwähnte Frau F. gar, die jungen Frauen würden zum Tode verurteilt werden - sie wusste offenbar nicht, dass es in Russland, anders als etwa in den USA, keine Todesstrafe gibt.

Ob Tolokonnikowa, Aljochina und Samuzewitsch nun wirklich für eineinhalb Jahre (die Untersuchungshaft wird auf die Gesamtstrafe angerechnet) ins Straflager müssen, ist angesichts der öffentlichen Reaktionen im In- und Ausland indes noch keinesfalls sicher. Einiges Gewicht dürfte in diesem Zusammenhang dem Umstand zukommen, dass nun auch die Russisch-Orthodoxe Kirche - die zuvor gefordert hatte, das Sakrileg in der Christ-Erlöser-Kathedrale streng zu ahnden - zu Gnade für die Verurteilten aufgerufen hat.

Einen sehr bündigen Kommentar zu dieser jüngsten Stellungnahme des Obersten Kirchenrates der Russisch-Orthodoxen Kirche las ich heute Mittag auf Twitter: "Heuchler!", donnerte @chrlenzen, seines Zeichens Pastor einer Freien evangelischen Gemeinde, mit biblischem Furor. Auf Kritik an dieser Äußerung reagierte er mit dem Hinweis, auch Jesus habe Heuchelei sehr entschieden beim Namen zu nennen gewusst. So richtig das ist: Man sollte denken, zwischen dem Sohn Gottes und dem Pastor einer Freien evangelischen Gemeinde gebe es noch gewisse Unterschiede, und letzterer täte womöglich ganz gut daran, Matthäus 7,1-5 ("Vom Richten") zu beherzigen - wo, wir registrieren es nicht ohne Verblüffung, ebenfalls von Heuchelei die Rede ist! Davon unbeirrt erklärte @chrlenzen jedoch: "Ich richte nicht, ich beurteile. Biblischer Unterschied. Es gibt die Gabe der Unterscheidung etc.". - In der Tat, die gibt es. Die Selbstgewissheit, mit der mein Diskussionspartner sich auf diese beruft, macht mich allerdings ein wenig sprachlos. Liegt vielleicht daran, dass ich kein Evangelikaler, sondern nur Katholik bin und trotz intensiver Bemühungen noch nicht einmal gelernt habe, übers Wasser zu gehen.

Aber davon einmal ganz abgesehen, worin besteht denn hier der Vorwurf an die Russisch-Orthodoxe Kirche? Vor dem Urteil gegen die drei Pussy Riot-Musikerinnen hat sie schlicht ihr Recht eingefordert, nämlich den Schutz des Gesetzes gegen Entweihung ihrer Gotteshäuser und Schmähung ihres Glaubens. Mit dem Schuldspruch gegen die Angeklagten ist der Kirche dieses Recht bestätigt worden, und somit hat sie ihr Ziel erreicht; wenn sie nun zeigt, dass sie an der tatsächlichen Bestrafung der Verurteilten nicht interessiert ist, und dazu aufruft, Gnade vor Recht (!) ergehen zu lassen, dann hat das - in meinen Augen - nichts mit Heuchelei zu tun; im Gegenteil empfinde ich dies als ausgesprochen christliche Handlungsweise: Nicht von ungefähr erinnert die Äußerung des Obersten Kirchenrates, er hoffe, dass die Gruppe  "künftig von blasphemischen Handlungen absehen" werde, an die Worte Jesu an die vor der Steinigung bewahrte Ehebrecherin: "Geh und sündige von jetzt an nicht mehr!" (Joh 8,11).

Aber wie es scheint, sind in der öffentlichen Wahrnehmung der Pussy Riot-Affäre die moralischen Gewichte allzu klar verteilt, als dass Kritik an den Punk-Rebellinnen und Verständnis für jene, die ihre Performance in der Christ-Erlöser-Kathedrale als Sakrileg ansehen, viel Gehör finden könnten. Selbst auf christlicher Seite nicht. Ein anderer Twitter-Nutzer, @HiramTemplar, äußerte gar, Pussy Riot hätten "mit ihrer Kirchen-Aktion mehr biblische Werte vertreten als die Russisch-Orthodoxe Kirche mit ihrer Reaktion darauf" (Rechtschreibung angepasst, ich weiß, macht man in Zitaten eigentlich nicht); was für biblische Werte das im Einzelnen sein sollen, wird allerdings wohl sein Geheimnis bleiben. - Angesichts der seltenen Einmütigkeit der öffentlichen Meinung in dieser Angelegenheit - die sich, wie eingangs angemerkt, auch auf meinen persönlichen Freundes- und Bekanntenkreis erstreckt - bin ich mir sehr bewusst, dass ich mich mit diesem Diskussionsbeitrag auf recht dünnes Eis begebe; aber ich baue einfach mal auf die Achtung vor der Meinungsfreiheit, um deren Verteidigung es bei den weltweiten Protesten gegen das Pussy Riot-Urteil dem Vernehmen nach ja in erster Linie gehen soll...

(P.S.: Der Titel dieses Beitrags ist ein Zitat aus Karl Mays Kolportageroman Deutsche Herzen, deutsche Helden - und gleichzeitg der Titel eines Aufsatzes von Ekkehard Koch über das Russlandbild dieses Romans.)

5 Kommentare:

  1. Die drei Punkerinnen haben gegen geltendes Recht verstoßen und sind aufgrund bestehender Gesetze verurteilt worden.
    So weit, so demokratisch.
    Aber da gibt es ja noch die Frage der Verhältnismäßigkeit. Und so bescheuert und peinlich ich die Aktion der drei finde, halte ich eine lange Haftstrafe hier für unverhältnismäßig und sinnlos. Ein Bußgeld oder eine moderate Geldstrafe oder einige Wochen Sozialarbeit hätte es ja auch getan - und es hilft wirklich niemandem, daß die drei jetzt in ein Straflager kommen. Eine der drei hat ein kleines Kind, und in ihrem Fall bin ich ganz besonders für "Gnade vor Recht".

    Ob die Verhältnisse in einem russischen Straflager irgendwo Ähnlichkeit mit menschenwürdigem Vollzug haben, wage ich ebenfalls zu bezweifeln, aber das ist noch einmal ein anderes Problem.

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    1. Da stimme ich zu, in allen Punkten.

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    2. Der Fall ist zwar anders gelagert, aber auch in Deutschland mußte mal Leute ins Gefängnis.
      http://www.berliner-zeitung.de/archiv/das-landgericht-mainz-bestaetigt-haftstrafe-gegen-kirchenstoerer-roy-und-seinen-komplizen-zur-busse-ins-gefaengnis,10810590,10216452.html
      Man sollte also nicht so tun, als sei eine Haftstrafe in Deutschland undenkbar.

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    3. Jürgen, keiner tut so.
      Roy war notorischer Kirchenstörer, nicht nur einmal, sondern fünfzigmal. Dazu kam schwere Sachbeschädigung.
      Aber in dem Fall "Pussy Riot" ist nichts kaputtgegangen, und die Frauen sind Ersttäterinnen.

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  2. Ich würde der kalliopenvorleserin hier doch milde widersprechen wollen. Zwei Jahre und so mag zu viel sein. Es aber abtun wie kurz falschparken, ist auch nix. Ich möchte das Prinzip "einen töten und alle abschrecken" beileibe nicht unterschreiben. Aber es ist schon ganz gut, wenn die drei mal einen aufs Popöchen bekommen.

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