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Freitag, 13. Januar 2012

Wie selig sind die geistig Kinderarmen?

In Diskussionen über die "Generation von '68" im Vergleich zur heutigen - wie immer man die definieren möchte - lasse ich immer mal wieder gern den Satz fallen: "1968 war das Jahr, in dem meine Eltern geheiratet haben. Kirchlich, übrigens." Es wird nicht immer jedem deutlich, worauf ich mit dieser Aussage hinaus will, und manchmal ist es sogar mir selbst nicht ganz klar. Jedenfalls war meine Mutter damals 19 und hatte eine abgeschlossene Berufsausbildung, zu der sie von ihren Eltern gedrängt worden war - sie wäre gern aufs Gymnasium gegangen, wäre von ihren schulischen Leistungen her auch dazu qualifiziert gewesen, aber die Eltern waren dagegen. Nach der Heirat hängte meine Mutter ihren ohnehin eher unfreiwillig ergriffenen Beruf an den Nagel und konzentrierte sich ganz auf ihre neue Aufgabe als Ehefrau, Hausfrau und bald darauf auch als Mutter. Später, als meine Geschwister und ich längst erwachsen waren, versicherte sie mir, sie habe diese Tätigkeit als ausgesprochen befriedigend empfunden: als anspruchsvoll, vielseitig, verantwortungsvoll und niemals langweilig.

Als vor knapp fünf Jahren die scharfe Polemik des damaligen Augsburger Bischofs Mixa gegen den Ausbau der staatlichen Kinderbetreuung die Gemüter der Nation erhitzte, überraschte meine Mutter mich mit der Aussage, sie finde, Mixa habe Recht. Nun hat Monsignore Mixa sich seitdem ja derart gründlich diskreditiert, dass es durchaus etwas Peinliches hat, sich auf ihn zu berufen; aber trotz "Watschen" und dubioser Finanztransaktionen ist es ja nicht von vornherein auszuschließen, dass er irgendwann mit irgendwas auch mal Recht gehabt haben könnte.

Was also hat er damals eigentlich gesagt oder gemeint? -Seine Kritik an der damaligen Familienministerin Ursula von der Leyen entzündete sich an deren Plänen, die Zahl der Kinderkrippenplätze in Deutschland zu verdreifachen und im Gegenzug andere Familienleistungen zu kürzen. In einer Audienz für den Vorstand des Familienbundes der Katholiken in seiner Diözese erklärte Mixa: "Die Familienpolitik von Frau von der Leyen dient nicht in erster Linie dem Kindeswohl oder der Stärkung der Familie, sondern ist vorrangig darauf ausgerichtet, junge Frauen als Arbeitskräfte-Reserve für die Industrie zu rekrutieren." Diese Pläne seien "schädlich für Kinder und Familien und einseitig auf eine aktive Förderung der Erwerbstätigkeit von Müttern mit Kleinkindern fixiert"; die "Denkmuster des Familienministeriums" erinnerten "in beklemmender Weise" an die "Ideologie der staatlichen Fremdbetreuung von Kindern in der untergegangenen DDR". Wer mit staatlicher Förderung Mütter dazu verleite, ihre Kinder bereits kurz nach der Geburt in staatliche Obhut zu geben, degradiere die Frau zur "Gebärmaschine".

Ausgesprochen starker Tobak, zweifellos - zumal der Begriff "Gebärmaschine" zuvor von ganz anderer Seite als Schlagwort eingeführt worden war: nämlich vom linken Flügel der Frauenbewegung, insbesondere im Kontext der Forderung nach einem Recht auf Abtreibung. Dass nun ein Kirchenmann dieses Schlagwort in einem ganz entgegengesetzten Sinn zu besetzen wagte, verursachte womöglich mehr Aufregung als die inhaltliche Seite seiner Stellungnahme.

Nicht jedoch bei meiner Mutter. Sie begründete ihre Zustimmung zu Monsignore Mixas Thesen damit, dass sie als junge Hausfrau und Mutter häufig eine gewisse Geringschätzung gespürt habe, weil sie nicht berufstätig war - man denke nur an den seinerzeit in Mode gekommenen Begriff "Nurhausfrau". Mit anderen Worten, es sei ein erheblicher Druck auf Frauen ausgeübt worden, eine Erwerbstätigkeit auszuüben, wenn sie als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft und nicht als rückschrittlich und "unemanzipiert" gelten wollten. Aus dieser Erfahrung heraus verstand meine Mutter die kämpferischen Worte des Bischofs in erster Linie als Plädoyer für jene Frauen, die ihre Arbeitskraft voll und ganz der Familie widmen, und dankte ihm dies.

Dass ich mich heute an dieses Gespräch mit meiner Mutter erinnere, ist der jüngst laut gewordenen Kritik der führenden Wirtschaftsverbände am von der Bundesregierung für 2013 beschlossenen Betreuungsgeld zu verdanken. Tatsächlich lesen sich die Pläne der Regierung, Eltern, die ihre Kinder nicht in eine Krippe schicken wollen oder können, eine Art Erziehungsgehalt zu zahlen, wie eine verspätete Erfüllung der seinerzeitigen Forderung Monsignore Mixas, "der Staat müsse sich bemühen, mehr Mütter für die zeitlich überwiegende oder ausschließliche häusliche Erziehung ihrer Kinder in den ersten drei Lebensjahren zu gewinnen und dies auch finanziell zu fördern". Und siehe, das Geschrei ist groß in Babylon. So warnt der RWI-Präsident und "Wirtschaftsweise" Christoph M. Schmidt, es dürfe keine Anreize dafür geben, "dass Mütter keine Erwerbstätigkeit aufnehmen" - meine Mutter und Monsignore Mixa werden sich ihren Teil denken. HWWI-Direktor Thomas Straubhaar sekundiert, das Betreuungsgeld hebele "den mühsam errungenen Verdienst des Elterngeldes aus, Mütter zu einer etwas zügigeren Rückkehr in das Erwerbsleben zu bewegen". Noch schlichter drückt es der DIW-Vorstandsvorsitzende Gert Wagner aus: "Es ist heutzutage schwer nachzuvollziehen, warum der Staat Eltern dafür Geld geben soll, damit sie zu Hause bleiben und ihre Kinder erziehen."

Lassen wir diese Sätze ein paar Atemzüge lang auf uns wirken und erinnern uns dann an eine weiter oben schon zitierte Äußerung Monsignore Mixas, die ich hier der Einfachheit halber - sinngemäß angepasst - wiederhole:
"[Der Ausbau von Krippenplätzen] dient nicht in erster Linie dem Kindeswohl oder der Stärkung der Familie, sondern ist vorrangig darauf ausgerichtet, junge Frauen als Arbeitskräfte-Reserve für die Industrie zu rekrutieren."
Ob das nun gut oder schlecht ist, darüber kann man selbstverständlich unterschiedlicher Ansicht sein; aber in der Feststellung des Sachverhalts hatte der damalige Augsburger Oberhirte, wie die Stellungnahmen der Wirtschaftsvertreter zum Betreuungsgeld in aller wünschenswerten Deutlichkeit zeigen, einfach mal nichts als RECHT!
Aus volkswirtschaftlicher Sicht sollen Frauen zwar Kinder gebären, denn die werden gebraucht - als zukünftige Arbeitskräfte und Rentenbeitragszahler und nicht zuletzt (sondern eigentlich sogar zuerst, nämlich auch schon bevor sie arbeiten und Rentenbeiträge zahlen) als Konsumenten; aber sobald die Kindern erst mal auf der Welt sind, sollen die Mütter möglichst sofort wieder dem Arbeitsmarkt voll zur Verfügung stehen. Das nennt man dann "Vereinbarkeit von Familie und Beruf"; gemeint ist aber in Wirklichkeit die Unterordnung der Familie unter den Beruf, wenn nicht gar die Aushöhlung der Institution Familie zugunsten der möglichst umfassenden Einbindung der Bevölkerung ins Berufsleben.
Für die Wirtschaftsverbände ist das natürlich eine rein pragmatische Frage; eine ideologische ist es hingegen für die Linke (und damit meine ich nicht nur, aber natürlich auch die Partei Die Linke), die der Institution Familie traditionell keine besonders tiefe Sympathie entgegenbringt. Folgerichtig regt sich auch auf dieser Seite des politischen Spektrums Kritik am Betreuungsgeld:

Von einer "Familienpolitik aus der Mottenkiste" spricht etwa Diana Golze, kinder- und jugendpolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag; Grünen-Chefin Claudia Roth griff ihrerseits tief in die Mottenkiste feministischer Kampfbegriffe und nannte die Pläne zum Betreuungsgeld einen "spät-patriarchalen Reflex der CSU-Männer" -- wer hier was für Reflexe hat, sei indes mal dahingestellt. Ganz ähnlich äußerte sich allerdings die Vorsitzende des "Zukunftsforums Familie", Christiane Reckmann: "Das Betreuungsgeld ist ein ideologisches Zugeständnis an die CSU, das bildungs-, geschlechter- und integrationspolitischen Zielsetzungen zuwiderläuft". Dem letzten Teil des Satzes würde man wohl kaum widersprechen mögen, wenn Frau Reckmann nur etwas deutlicher gesagt hätte, wessen Zielsetzungen das sind und wie die konkret aussehen.

Denn dass hier wie selbstverständlich vorausgesetzt wird, es wäre auch für die Kinder besser, in die Krippe zu gehen, statt in engem Kontakt zu den eigenen Eltern aufzuwachsen, wäre dann doch die eine oder andere Nachfrage wert. Zur Orientierung mag hier das - aus begreiflichen Gründen heiß umstrittene - Buch Die Helden der Familie (2006) des Kommunikationswissenschaftlers und häufigen Talkshowgasts Norbert Bolz beitragen.
Es liegt auf der Hand, dass Menschen, die in ihrer Kindheit keine enge familiäre Bindung kennen lernen, später kaum von sich aus eine solche aufbauen werden. Wer also schon früh an im Wesentlichen funktional bestimmte und somit tendenziell austauschbare Beziehungen statt an enge persönliche Bindungen gewöhnt wird, der wird sich später umso leichter in eine (Arbeits-)Gesellschaft einpassen, die mit ihren Forderungen nach größtmöglicher räumlicher und zeitlicher Flexibilität enge persönliche Bindungen im Grunde ausschließt, zumindest erschwert. Anders ausgedrückt: Er (oder sie) wird sich umso leichter die totaler Unterwerfung unter die neoliberale Kontrollgesellschaft (Deleuze) als angebliche "Selbstverwirklichung" verkaufen lassen. Dass das "gut" für die Kinder sei, kann man je nach Standpunkt durchaus plausibel finden.

An dieser Stelle noch ein notwendiger Exkurs: Zweifellos gibt es Familien bzw. Elternhäuser, denen man die Kindererziehung guten Gewissens nicht überlassen möchte, schon gar nicht allein. Es wäre aber durchaus diskutabel, ob nicht viele dieser defekten Familien bereits das Produkt jener gesellschaftlichen Tendenz sind, die das Familienleben zugunsten des Erwerbslebens benachteiligt. Dies einmal unterstellt, wäre es schlechterdings perfide, den Familien vorzuhalten, sie könnten ihre Kinder nicht erziehen, nachdem man es ihnen zuvor nach Kräften erschwert hat, genau dies zu tun. -- Ende des Exkurses.

Dass die Linken und die Wirtschaftsverbände, die einander ansonsten doch alles andere als grün sind, plötzlich Seit' an Seit' schreiten, wenn es gegen das Betreuungsgeld geht, mag man ironisch finden, aber genau besehen verweist es auf eine bemerkenswerte Gemeinsamkeit zwischen kapitalistischer - oder sagen wir, mit einem zugleich vornehmer und moderner klingenden Begriff: "marktliberaler" - und sozialistischer Weltanschauung hin: Beide betrachten den Menschen in erster Linie, wenn nicht ausschließlich, unter ökonomischen Gesichtspunkten. Was der Marxist Bertolt Brecht in seinem Lehrstück Die Maßnahme einem Kapitalisten in den Mund legt:

Weiß ich, was ein Mensch ist?
Weiß ich, wer das weiß!
Ich weiß nicht, was ein Mensch ist
Ich kenne nur seinen Preis.

- gilt im Grunde ebensosehr für die Marxisten selbst; oder wie es in einem alten Witz heißt: "Im Kapitalismus beutet der Mensch den Menschen aus. Im Sozialismus ist es umgekehrt." - Darauf wird bei späterer Gelegenheit womöglich noch zurückzukommen sein; an dieser Stelle würde es ein wenig zu weit führen.


Festzuhalten ist jedenfalls: Die Auffassung, die Institution Familie sei ein Hemmschuh für die ökonomische und soziale Entwicklung und gehöre eigentlich abgeschafft, erfreut sich großer und wachsender Akzeptanz; wenn da nur das Grundgesetz nicht wäre, das unter Artikel 6 Absatz 1 "Ehe und Familie" dem "besonderen Schutze der staatlichen Ordnung" anempfiehlt und unter Absatz 2 fortfährt: "Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht."
Ohne Zweifel gehören diese Sätze zu den gar nicht so wenigen Passagen unserer Verfassung, die von einem christlichen Menschenbild geprägt sind - das sich in der aktuellen Politik allerdings (sogar bei der CDU, die es sich gleichwohl immer noch gern auf die Fahnen schreibt) weitgehend verflüchtigt hat. Dass die betreffenden Passagen als nicht mehr zeitgemäß kurzerhand aus der Verfassung gestrichen werden, ist gleichwohl bis auf Weiteres kaum zu befürchten; in welchem Maße diese Grundgesetzartikel in konkrete Politik umgesetzt werden, ist freilich - wie bei allen jenen Artikeln, die eher moralische Appelle als konkrete Handlunganweisungen an die politisch Verantwortlichen enthalten - eine andere Frage.

Dass konkrete gesetzliche Maßnahmen, die zur Stärkung der Familie beitragen und Eltern dabei unterstützen sollen, ihrem verfassungsgemäßen Erziehungsauftrag gerecht zu werden, auf eine so breite Front der Ablehung stoßen, macht da nicht gerade viel Hoffnung. Unterstützt werden die Pläne der Regierung zum Betreuungsgeld, soweit ich sehe, praktisch nur vom Forum Deutscher Katholiken; und Beifall aus dieser Richtung birgt leider stets gewisse Gefahren in sich. Manch einer wird darin eine Bestätigung der von Claudia Roth und anderen angedeuteten Auffassung sehen, hinter dem Betreuungsgeld stecke ein antiquiertes Geschlechterrollenverständnis, das den Wirkungskreis der Frauen am liebsten wieder auf die guten alten "drei K's" beschränken würde, nämlich Kinder, Küche und eben Kirche.

Übersehen wird dabei freilich, dass das Betreuungsgeld auch Vätern zugute kommen würde. Familien, in denen die Frau voll berufstätig ist, während der Mann sich um Haushalt und Kinder kümmert, sind in Deutschland vermutlich selten, zumal dieses Familienmodell in unserem Kulturkreis keine große Tradition hat; aber es gibt solche Familien zweifellos, und womöglich böte das Betreuungsgeld sogar gerade für dieses Modell Anreize. - Auch wieder nicht recht? Ich fürchte nein. Diejenigen Interessengruppen, die - aus unterschiedlichen Motiven, wie oben aufgezeigt - die staatliche Lufthoheit über den Kinderbetten fordern, dürften den Vätern die Kindererziehung noch weniger überlassen wollen als den Müttern...

1 Kommentar:

  1. Diese Aussagen der Industrie- und Wirtschaftsgranden sind wirklich unverschämt. Als gäbe es keine wichtigere Pflicht, als im Erwerbsleben eingenordet zu sein. Ich bin mir übrigens sicher, dass eine Recherche über Erwerbstätigkeit derer Ehefrauen interessante Ergebnisse bringen könnte - hochkarätige Wirtschaftsbosse sind relativ selten mit voll erwerbstätigen Frauen verheiratet, die neben ihrem Hauptberuf auch noch dazu beitragen, dass die deutsche Geburtenrate nicht weiter sinkt.

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