Stell dir vor, o Leser: Ich habe gerade Briefwahlunterlagen für die bevorstehende Bundestags-Neuwahl beantragt. Das heißt, ich habe durchaus die Absicht, an dieser Wahl teilzunehmen – auch wenn ich mich dabei erneut, wie schon bei der Bundestagswahl 2021, "ein bisschen schmutzig und schuldig" fühle; "so ähnlich wie jemand, der heimlich eine rauchen geht, obwohl er sich das Rauchen eigentlich erfolgreich abgewöhnt hatte". So ziemlich alles, was ich in den ersten sechs Absätzen meines damaligen Blogartikels "Bezüglich der Wahlen" dazu geschrieben habe, dass und warum ich eigentlich gern "stolzer und überzeugter Nichtwähler" wäre, dieses eine Mal aber doch wieder schwach geworden bin, könnte ich mit Bezug auf die anstehende Wahl so ähnlich noch einmal schreiben. Für den Rest des Artikels gilt das allerdings nicht, denn die CDU wähle ich nicht noch einmal. (Die AfD allerdings auch nicht, falls mir das jemand unterstellen möchte.)
Wird der Winter unseres Missvergnügens glorreicher Sommer durch die Sonne des Merz? Es bleibt abzuwarten. (Ein Hat Tip für den Hinweis auf dieses schöne Video gebührt Stammleser Imrahil!)
Indes lege ich Wert auf die Feststellung, dass die Tatsache, dass meine Nichtteilnahme an der jüngsten Europawahl mir mehr und schärfere Kritik eingetragen hat als irgendetwas anderes, was ich in letzter Zeit auf meinem Blog geschrieben habe, durchaus nicht dazu beigetragen hat, meine grundsätzlichen Zweifel an der Sinnhaftigkeit und Ratsamkeit der Teilnahme am "Hochamt der Demokratie" zu besiegen. Ebensowenig übrigens eine Kampagne, über die ich auf Instagram gestolpert bin und die unter dem Motto "Kreuz setzen!" gezielt Christen dazu motivieren möchte, von ihrem Wahlrecht Gebrauch zu machen. Okay, ehrlicher und genauer gesagt: gezielt linke Christen, also links im rotgrünen Sinne (dazu, dass "links" auch etwas ganz anderes bedeuten könnte, später). Ich muss ja gestehen, wenn ich mir die auf Instagram veröffentlichten Statements im Rahmen dieser Kampagne, einschließlich der Konterfeis der Leute, die diese Statements abgegeben haben, so ansehe, dann denke ich unwillkürlich: Ja, so seht ihr auch aus. Huch, das war jetzt wohl nicht sehr "nett" von mir. #Sorrynotsorry. – Die mit Verweisen auf Bibelstellen ausgestatteten Argumente der Kampagne "Kreuz setzen!" dafür, aus christlicher Verantwortung wählen zu gehen, sind aus meiner Sicht übrigens durchweg ein Fall für Cat Stevens: "If they were right, I'd agree". Die genannten Beweggründe sind an und für sich gut und richtig, als Argumente fürs Wählen taugen sie aber nur insoweit, wie man voraussetzt, dass der einzelne Wähler mit seinem Kreuz auf dem Stimmzettel einen tatsächlichen Einfluss auf die Politik nehmen kann – und genau das bestreite ich eben.
Bestärkt werde ich in dieser Überzeugung ironischerweise durch ein Narrativ, das mir im aktuellen Wahlkampf so stark ins Auge sticht wie nie zuvor: Vertreter aller möglichen politischen Richtungen geben erstaunlich offen zu, dass im Prozess der Regierungsbildung nach der Wahl etwas ganz anderes herauskommen wird als das, was die Wähler gewollt haben. Die Linken (wie gesagt, im Sinne von "rotgrün") sagen, wer Merz wählt, bekommt die AfD; die Rechten hingegen sagen, wer Merz wählt, bekommt die Grünen. Die FDP wiederum meint, wer AfD wählt, bekommt die Grünen. Alles in allem scheint es darauf hinauszulaufen, dass jede Stimme für eine Partei einer ganz anderen Partei nützt, man weiß nur nicht so genau, welcher. Wenn das so ist, kann man das Wahlergebnis im Grunde genausogut gleich auswürfeln.
Im Zusammenhang mit dem Stichwort "linke (i.S.v. rotgrüne) Christen" sei übrigens erwähnt, dass Tagespost-Online-Redakteur Jakob Ranke sich die Wahlempfehlungen des sogenannten "Zentralkomitees der deutschen Katholiken" ("ZdK") angesehen hat – "ein 16-seitiges Dokument im Stil eines eigenen Wahlprogramms und Weisungen von A wie Abtreibung bis Z wie Zivilgesellschaft, das von den Gläubigen zur Formung ihrer Wahlentscheidung lediglich noch mit real existierenden Programmen abgeglichen werden muss" – und dabei zu dem Schluss gekommen ist: "Wie es aussieht, ist politischer Katholizismus tendenziell grün." Möglicherweise war es dieser Artikel – vielleicht aber auch andere, ähnliche Stellungnahmen –, der einen Vertreter der von mir auf Bluesky beobachteten progressiven Theologenbubble zu der Feststellung veranlasste, es gebe "[v]on rechts [...] einiges an Mimimi dazu, dass das oberste Laiengremium des deutschen Katholizismus mehr Überschneidungen mit den Grünen als mit der Union habe"; das liege "aber nicht am ZdK, sondern an der Entchristlichung der Union", urteilt der Ersteller des Postings – der übrigens auf seinem Profilbild so wirkt wie jemand, mit dem ich privat durchaus mal ein Bier trinken würde, wenn auch in seinem Fall vielleicht ein glutenfreies. Andererseits schreibt er auf Bluesky aber auch Sachen wie "2020 Covid Pandemie fühlt sich gerade wie Good Old Times an, zumindest politisch"; und ich finde, das lässt tief blicken.
Aber lassen wir das mal beiseite und fragen uns lieber: Wie steht es denn tatsächlich mit der "Entchristlichung der Union" und der Grünen-Nähe des "ZdK"? – Wenn es darum geht, der CDU vorzuwerfen, außer in ihrem Parteinamen sei bei ihr nicht sonderlich viel Christliches zu finden, bin ich gerne mit im Boot; aber zu unterstellen, das "ZdK" habe sich im Laufe der letzten Jahrzehnte politisch mehr und mehr von der CDU entfernt, weil diese immer weniger christlich geworden sei, ist offenkundiger Quatsch. – An dieser Stelle ein kleiner Blick zurück in die Geschichte der Bundesrepublik wie auch des bundesrepublikanischen Gremienkatholizismus: In welchem Maße das "ZdK" früher™️ – ich würde mal schätzen: bis in die 80er Jahre hinein – CDU-dominiert war, ist aus heutiger Sicht überhaupt nicht mehr vorstellbar. Ich habe ja, wie schon mal erwähnt, einiges an Zeit und Mühe darauf verwendet, den Dokumentationsband zum 82. Deutschen Katholikentag 1968 in Essen durchzuarbeiten; und wenn man da mal die Referenten und Podiumsteilnehmer der diversen "Forumsgespräche" nach ihrer Parteizugehörigkeit sortiert, ist das Ergebnis geradezu lächerlich: Man kann sagen, politische Diskussionen auf dem Katholikentag fanden im Wesentlichen nicht zwischen Vertretern verschiedener Parteien statt, sondern zwischen verschiedenen Flügeln der CDU/CSU. Ähnlich wie mein Freund Rod Dreher in der "Benedikt-Option" schreibt, allzu viele konservative Christen in den USA verstünden unter der Christenheit "die Republikanische Partei beim Gebet", könnte man sagen, der Katholikentag in der alten Bundesrepublik war "die CDU/CSU beim Gebet" – sofern auf dem Katholikentag überhaupt gebetet wurde. – Inzwischen ist nun aber die Neue Linke von 1968, deren parlamentarischer Arm nun mal vorrangig die Grünen sind, auf ihrem vielbeschworenen Langen Marsch durch die Institutionen eben auch im "ZdK" angekommen. Da nun aber zu argumentieren, das sei ja auch ganz richtig so, da die Grünen insgesamt mehr als die CDU für eine christliche Politik stünden, setzt allerdings eine ziemlich verzerrte Auffassung davon voraus, was "christlich" sei. Andererseits braucht man sich darüber bei der progressiven Theologenbubble wohl nicht zu wundern. (Dass deren Auffassungen nicht unbedingt repräsentativ für die Basis sind, kann man indes wohl u.a. daran ablesen, dass – wie Ranke in der Tagespost betont – noch bei der Europawahl 2024 üppige 43% der katholischen Wähler ihr Kreuz bei der CDU/CSU machten und nur 10% bei den Grünen.)
Ein lautstarker Unterstützer der Grünen ist übrigens, was vielleicht nicht sehr überraschend ist, auch Thomas Halagan von Horse & Hound: Ich meine mich zu erinnern, in einer seiner Instagram-Storys gelesen zu haben, er sei erst kürzlich und als Reaktion auf die aktuelle politische Lage Parteimitglied geworden – da könnte ich mich aber irren, und nachprüfen lässt es sich ja dank der Vergänglichkeit von Instagram-Stories nicht mehr; auf jeden Fall hat er sich in den letzten Monaten wiederholt deutlich zu seiner Zugehörigkeit zum #TeamRobert (Habeck) bekannt und Friedrich Merz zu seinem politischen Hauptfeind erkoren. Darf er ja gerne machen, keine Frage. Aber: Horse & Hound-Halagan hat auch der oben schon erwähnten Kampagne "Kreuz setzen!" sein zerknautschtes Gesicht geliehen, und da erklärt er, er nehme "nicht nur" an der Wahl teil, weil es zu seiner "Pflicht als Demokrat gehört" – was schon mal Quatsch ist: Wie ich nicht müde werde zu betonen, gibt es eine solche Pflicht nicht, weder rechtlich noch moralisch; nicht zu wählen ist in einer Demokratie eine ebenso legitime (und, arguably, auch ebenso wirkungsvolle) Form politischer Willensbekundung, wie es eben doch zu tun –, sondern auch, weil er dazu beitragen will, dass "christliche Prinzipien [...] sich in unserer Politik niederschlagen"; und zu diesen Prinzipien zählt er auch den "Drang zum Frieden". Und dann unterstützt er die Grünen, die größten Kriegstreiber in der aktuellen deutschen Parteienlandschaft. Genau mein Humor.
Nicht mehr bei den Grünen ist derweil "Porno-Rolf" Krüger: Der verkündete kurz vor Christkönig, er sei "grade bei den Grünen ausgetreten wegen mir-zu-träge-und-zu-sehr-Kleingärtnerverein"; stattdessen sei er "jetzt bei Volt eingetreten" – einer Partei, von der ich während des Wahlkampfs zur Europawahl den Eindruck hatte, ein guter Wahlwerbeslogan für sie wäre "Wie die Piraten. Nur in Lila." Krügers erste Eindrücke scheinen dies zu bestätigen: "Coole Leute, man kann sofort mitmachen, alles super digital und schnell, eine gute, pragmatische Politik für eine offene Gesellschaft und ein starkes Europa, und eine Frau als Spitzenkandidatin – ein gutes Gegengewicht in der aktuelle[n] testosterongeschwängerten Lage." Na, wer's mag. Zur Wahl zugelassen sind indes, laut Pressemitteilung der Bundeswahlleiterin vom 14. Januar, auch noch ganz andere Parteien, darunter die Gartenpartei, die Menschliche Welt, der Cannabis Social Club, Die LIEBE, die Partei für Verjüngungsforschung und die V-Partei³ – Partei für Veränderung, Vegetarier und Veganer. Ach ja, und die Piraten übrigens auch. Sollte also für jeden was dabei sein, der meint, Wählen sei in jedem Fall seliger denn Nichtwählen.
Um nun aber noch einmal auf die Aussage zurückzukommen, "links" könne auch noch etwas ganz anderes bedeuten als "rotgrün" – und vielleicht auch zur Einordnung der möglicherweise kontroversen Einschätzung, die Grünen seien die größten Kriegstreiber in der deutschen Parteienlandschaft –, möchte ich noch auf ein YouTube-Video hinweisen, das mir kürzlich zu Augen gekommen ist und dem man füglich die Überschrift "Zwei Altlinke diskutieren die aktuelle politische Lage" geben könnte. Der Herr in der rechten Bildhafte ist übrigens derjenige alte Freund von mir, bei dem wir an Weihnachten zum Gänseessen eingeladen waren; sein Gesprächspartner in diesem Video war auch da, den kenne ich aber nur oberflächlich. Aber persönliche Bekanntschaft hin oder her: Was ich an diesem Video so bemerkenswert finde, ist, dass hier politische Debatte auf einem Niveau stattfindet, das man heutzutage überhaupt nicht mehr gewohnt ist. Wenn man diese beiden Herren so diskutieren hört, könnte man den Eindruck haben, nicht nur der Wahlkampf, sondern die ganze Außendarstellung unserer Parteien und ihrer prominenten Köpfe, einschließlich der Themen und Positionen, für die sie vorgeblich stehen, sei letztlich nur eine Soap Opera, die aufgeführt wird, um von den tatsächlichen politischen Entscheidungsprozessen und deren Beweggründen abzulenken. Diesen Eindruck gilt es natürlich etwas zu relativieren: Die beiden Gesprächsteilnehmer betrachten das weltpolitische Geschehen aus dem Blickwinkel marxistischer Geschichtsphilosophie, und dazu gehört sehr wesentlich die Grundannahme, dass die internationale Politik von den Interessen des Großkapitals gelenkt wird. Dieser Grundannahme muss man nicht zustimmen, und wenn man es nicht tut, wird man auch vielen Schlussfolgerungen widersprechen wollen und können. Auch so bleibt es aber immerhin beeindruckend, wie kenntnisreich, scharfsichtig und völlig frei von wokem pearl-clutching diese Debatte geführt wird. Um's mal auf den Punkt zu bringen: Die Nüchternheit der Diskussion überrascht, und zwar umso mehr, als es sich im Prinzip um ein abgefilmtes Kneipengespräch handelt.
Jedenfalls habe ich für mich persönlich zwei Schlüsse aus diesem Video gezogen:
- Politische Richtungsentscheidungen hängen weniger davon ab, welche Parteien an der Regierung beteiligt sind, als davon, welche Flügel bzw. Strömungen innerhalb der Parteien jeweils gerade den Ton angeben; und:
- Die große Mehrheit derer, die hierzulande über Politik reden – und das beinhaltet einen nicht unwesentlichen Teil der vermeintlichen Spitzenpolitiker, und der Medien sowieso – versteht nicht einmal in den Grundbegriffen, was weltpolitisch tatsächlich abläuft (und das ist nicht im verschwörungstheoretischen Sinne gemeint).
Beide Gedanken sind natürlich nicht unbedingt dazu geeignet, die Motivation zum Wählen zu erhöhen. Warum tue ich es also trotzdem? Nun, sagen wir so: Täte ich's nicht, hätte ich doch irgendwie das Gefühl, etwas zu verpassen. Der Vergleich mit Fußballwelt- und Europameisterschaften, den ich in meinem Artikel von 2021 bemüht habe, erscheint mir immer noch recht treffend. Und auch wenn man davon ausgeht, dass der Großteil dessen, was einem hierzulande als "Politik" verkauft wird, eigentlich nur eine Soap Opera ist, muss man doch zugeben, dass diese seit dem Ende der bleiernen Merkel-Ära wieder spannender geworden ist. Das Scheitern der Ampelkoalition war aus meiner Sicht ein echtes Highlight; und die Vorstellung, die Bundestags-Neuwahl biete die Gelegenheit, selbst darüber mitzuentscheiden, wie es jetzt weitergeht, hat auch dann einen gewissen Reiz, wenn man sich bewusst ist, dass sie größtenteils illusorisch ist.
Und schließlich – um kurz vor Schluss nochmal etwas richtig Kontroverses zu sagen – ist es zu einem gewissen Grad wohl auch Donald Trump zu verdanken, dass mein Glaube daran, dass Wahlen tatsächlich etwas verändern können, wieder ein wenig Nahrung bekommen hat. Man verstehe mich nicht falsch: Mögen tue ich Trump immer noch nicht, und ich bin auch keineswegs überzeugt, dass seine Präsidentschaft unter dem Strich mehr Gutes als Schlechtes bewirken wird. Aber man muss doch zugeben, dass es, seit er im Amt ist, zumindest ab und zu auch mal gute Nachrichten gibt. Ob man hierzulande dasselbe wird sagen können, wenn nach dem Februar der Merz kommt, bezweifle ich noch (täte ich das nicht, würde ich mit zusammengebissenen Zähnen und zugehaltener Nase CDU wählen), aber warten wir's mal ab...
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