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Mittwoch, 31. August 2016

Du bist Frodo und ich bin Sam (Aus meinem Pilgertagebuch, Teil 2)



Der Knabe lebt, das Pferd ist tot: So fühlt man sich nach einer Pyrenäenüberquerung...


Tag 1: Freitag, 22.07.2016. Von St. Jean Pied-de-Port nach Roncesvalles. 

Gegen 6 Uhr früh pellen wir uns aus unseren Betten und frühstücken in unserer Herberge. Das im Übernachtungspreis enthaltene Frühstück ist schlicht - Brot, Butter, Marmelade, that's it -, aber reichlich und gut. Der einzige Minuspunkt besteht darin, dass es Kaffee nur aus dem Automaten gibt und dass er folglich extra kostet.




Für alle Fälle steht im Frühstücksraum auch eine Gitarre bereit - ein Anblick, der mir in den folgenden Tagen noch sehr vertraut werden soll. Ich nenne sie die "Notfallklampfe".




Gegen 7 Uhr brechen wir dann auf zur Pyrenäenüberquereung. Die ersten Kilometer geht es stramm bergauf. Es ist bewölkt und einigermaßen kühl - nicht das schlechteste Wetter zum Bergwandern. Nach etwa sechs Kilometern beginnt es sehr neblig zu werden - genauer gesagt wandert man durch die Wolken. Ein wenig feucht ist das natürlich auch: Winzige Wassertropfen sammeln sich an den Armhaaren, aber im Grunde fühlt sich das sogar ganz angenehm an.

Nach acht Kilometern sieht man dann überhaupt nichts mehr. Glücklicherweise ist an dieser Stelle aber auch die erste sinnvolle Pausenstation auf dieser Etappe erreicht: die Auberge Orisson



Izarra - une specialité Basque. 

Vor dem Weiterwandern nicht vergessen: Trinkwasser auffüllen!
Natürlich ist die Herberge voll mit Pilgern - und schon hier zeigt sich das Phänomen, dass man auf dem Jakobsweg jeden, den man schon mal gesehen hat (z.B. morgens beim Frühstück oder beim Aufbruch, am Vortag in der Bahn oder beim Abendessen), intuitiv als Freund betrachtet und sich über das Wiedersehen freut.


Nach rund einstündiger Pause geht es weiter bergauf - durch einen so dichten Nebel, dass man sich vorkommt wie in einem Traum. 



Ab und zu verzog sich der Nebel ein bisschen, und man stellte fest, dass man quasi mitten in einer Herde baskischer Bergziegen stand.

Oder da stand plötzlich ein Pferd am Weg.

Oder eine Herde Pferde. 

Die Allerseligste Jungfrau war auch schon mal hier und hat ihre Visitenkarte hinterlassen.
Der höchste Punkt der Etappe, der Collado Lepoeder, liegt bereits auf der spanischen Seite der Grenze und misst 1.428 Meter über dem Meeresspiegel; aber schon ab etwa 1.100 Höhenmetern wird die Landschaft zunehmend rauer und Herr-der-Ringe-mäßiger. Gleichzeitig machen sich die Folgen von Suses gut ein Jahr zurückliegender Fußverletzung mehr und mehr bemerkbar - wozu neben einer gewissen Störrigkeit des Gelenks an sich auch eine durch die lange Unbeweglichkeit geschwächte Kondition gehört. Was mich selbst betrifft, bin ich eigentlich positiv überrascht, dass ich - als eiserner Nichtsportler - den Aufstieg ganz gut schaffe. Das versetzt mich in die eher ungewohnte Rolle, derjenige von uns beiden zu sein, der Optimismus verbreiten und die Stimmung hochhalten muss. Normalerweise ist das bei uns eher umgekehrt. So bin ich auf dem Weg zu unserem persönlichen Schicksalsberg gewissermaßen Sam, der Frodo  alle paar hundert Meter beschwören muss, nicht aufzugeben. "Wir müssen weiter, Meister!"  




Ein sehr motivierender Meilenstein.

Jedenfalls gewinnt der Tourismus-Werbespruch "Freu dich, du bist in Spanien" für uns einen ganz besonderen Sinn, denn auf der spanischen Seite wird der Weg - zunächst - erheblich leichter, und außerdem bedeutete das Erreichen der Grenze, dass wir schon 17 Kilometer geschafft und nur noch rund acht vor uns haben. Wobei nicht unerwähnt bleiben soll, dass wir eigentlich nicht Spanien betreten, sondern das Königreich Navarra - das zwar faktisch seit 1512 und seit 1841 auch formell zu Spanien gehört, aber nach wie vor den Titel eines eigenständigen Königreichs trägt. 


Und dann taucht aus dem Nebel plötzlich eine Berghütte vor uns auf. Willkommene Gelegenheit für eine Pause. Als ich nach einer Weile wieder aus der Hütte heraustrete, meinen Blick über die zugenebelte Umgebung schweifen lasse und dann urplötzlich eine andere einsame Pilgerin, der wie unterwegs schon mehrfach begegnet sind, vor mir auftaucht, fühle ich mich wie Luke Skywalker in der Schlussszene von Star Wars VII


Übrigens wird mir schon während dieser ersten Etappe ein Umstand sehr deutlich, der das Pilgern - auch für Menschen, die damit keine im eigentlichen Sinne religiöse Motivation verbinden - so attraktiv macht: Das Leben erscheint plötzlich unheimlich einfach (nicht unbedingt im Sinne von "leicht", aber im Sinne von "schlicht"), wenn man den ganzen Tag nichts Anderes zu tun hat als zu gehen. Wenn man an nichts anderes denken muss als daran, sein Etappenziel zu erreichen. Einen Fuß vor den anderen setzen, immer wieder, nicht aufhören, bis man da ist. Alles Andere, was einen im Leben sonst so beschäftigt, ist da plötzlich ganz weit weg. Der Nebel mag dazu durchaus seinen Teil beitragen.

Nach dem langen Aufstieg geht es ziemlich plötzlich sehr steil bergab. Und das ist, anders als man vielleicht hätte denken können, keine gute Nachricht. Bisher hatte ich, trotz aller Warnungen vor der "schwierigen" Pyrenäenetappe, den Weg zwar als anstrengend, aber nicht in dem Sinne als schwierig empfunden, dass ich daran gezweifelt hätte, ihn bewältigen zu können. Das ändert sich nun radikal. Der Abstieg nach Roncesvalles, auf schmalen Pfaden voll mit losem Geröll und knorrigen Baumwurzeln, ist stellenweise wirklich halsbrecherisch, und erstmals bekomme ich richtige Angst - vor allem um Suse, der ihr Fuß mehr und mehr Probleme bereitet. Bemerkenswert angstfrei scheint hingegen ein Mountainbiker zu sein, der auf seinem Gefährt an uns vorbei den steilen Waldpfad  hinabschießt. "Ich würde ja lieber sterben, als hier mit dem Fahrrad zu fahren", merkt Suse an - worauf ich erwidere: "Och, das lässt sich bestimmt gut beides miteinander kombinieren."

Und dann dieser düstere, undurchdringlich scheinende Wald! Es wundert mich überhaupt nicht, dass die Basken sich anno 778 ausgerechnet das Tal von Roncesvalles dazu aussuchten, die Nachhut des Heeres Karls des Großen niederzumachen. Nachdem ich bisher, Nebel hin oder her, von der Landschaft ausgesprochen begeistert gewesen bin, empfinde ich diesen Wald bald als bedrückend und feindselig.  





Und dieser Wald scheint einfach kein Ende zu nehmen! Die letzten zwei Kilometer ziehen sich ins Unermessliche, und ich bemerke, dass der Wald mich paranoid und aggressiv macht. Was, wie sich im Nachhinein herausstellt, kein Wunder ist: Eine Infotafel in Roncesvalles belehrt mich, dass wir soeben den Bosque de Basajaunberro durchquert haben, in dem laut heidnischem baskischem Volksglauben Basajaun, der "Herr des Waldes" - ein ungeschlachter haariger Riese - sein Unwesen treibt. Wir sind jedenfalls heilfroh, als wir endlich - gegen 18:30 Uhr - das aus dem 12. Jh. stammende ehemalige Kloster von Roncesvalles vor uns sehen.


Die Abtei von Roncesvalles diente von jeher hauptsächlich der Betreuung von Pilgern auf dem Jakobsweg und beherbergt auch heute (noch oder wieder) eine große und gut ausgestattete Pilgerherberge - und das ist auch gut so, denn wer sich über die Pyrenäen gequält hat, wird vermutlich wenig Lust haben, am selben Tag noch weiter zu gehen als bis hierher, auch wenn der nächste Ort am Weg, Burguete, nur rund drei Kilometer entfernt ist. Wir wären nun wohl gut beraten gewesen, uns möglichst umgehend um unsere Unterbringung für die Nacht zu kümmern, dann vielleicht noch in die Pilgermesse um 20 Uhr und dann ab in die Heia, aber halbtot wie wir waren, schleppten wir uns erst einmal in die Bar des (ebenfalls von der Bruderschaft der Jakobspilger betriebenen) Hotels La Posada, wo ich ein großes Bier und ein Sandwich bestellte, Suse ihren strapazierten Fuß hochlegte und ebenfalls etwas aß und trank. In der Bar lief ein Fernseher, und in den Nachrichten wurde von einem Anschlag oder Amoklauf in einem Einkaufszentrum in München berichtet; aber unsere Spanischkenntnisse reichten nicht aus, um wirklich schlau daraus zu werden.

Kurz vor 20 Uhr waren wir dann in der Herberge. An der Rezeption herrschte eine ziemliche Massenabfertigung: Unmittelbar vor uns war ein Bus mit Pilgern aus Pamplona angekommen! Aber die Herberge hatte trotzdem noch zwei Betten für uns - sogar nebeneinander! -, die Schlafplätze waren mit abschließbaren Schränken und Steckdosen ausgestattet, die Matratzen waren gut, die Duschen auch. Also gute Nacht!


(Fortsetzung folgt!)