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Freitag, 30. November 2012

Was glaubst denn du??

Hurra: Trotz erheblicher Computerprobleme (4 Abstürze!) ist es mir geradezu in letzter Minute gelungen, meinen zweiten Beitrag zum Gemeinschaftsblog Das Ja des Glaubens fertigzustellen und hochzuladen, bevor ein neuer Monat und damit ein neues Oberthema im Gemeinschaftsblog beginnt. Der Beitrag rägt den Titel

"Glauben ist kein Ponyhof"

und ist hier zu finden.

Ich räume ein, dass ich - nicht nur des Zeitdrucks wegen - längst nicht alle Gedanken, die ich in diesem Artikel angeschnitten habe, auch nur halbwegs erschöpfend habe ausführen können. Wie der alte Lessing sagen würde, es handelt sich eher um fermenta cognitionis als um eine systematische Abhandlung. Gerade deshalb möchte ich diesen Text aber auch und nicht zuletzt meinen nicht- und andersgläubigen Lesern ans Herz legen -- durchaus nicht in der Hofnung, sie damit überzeugen oder gar "bekehren" zu können, aber als Gesprächsgrundlage, wenn es mal wieder zu Diskussionen über Glaubensfragen kommt.

Übrigens ist mir bewusst, dass ich meinen Stammlesern noch eine hoffentlich unterhaltsame Buchbesprechung schulde. Ich arbeite dran...

Donnerstag, 29. November 2012

Das Märchen von der traurigen Traurigkeit

Vorgestern Abend traf ich einen langjährigen Bekannten - den ich ehrlich gesagt ziemlich regelmäßig sehe, aber bei den meisten dieser Gelegenheiten kommen wir, aus unterschiedlichen Gründen, kaum dazu, mehr als das Alleroberflächlichste miteinander zu reden. das war diesmal anders; wir unterhielten uns ausführlich über verschiedenste Themen, und mittendrin fragte er auf einmal:

"Det Märchen vonner Traurigkeit kennste?"

Ich hatte zwar das vage Gefühl, von einem solchen Märchen schon einmal etwas gehört zu haben, aber ganz sicher war ich mir nicht. Und den Text, den mein bekannter mir daraufhin präsentierte, kannte ich tatsächlich nicht. Aber er bewegte mich ganz außerordentlich; ich bekam beim lesen Gänsehaut, vor allem gegen Schluss.

"Ist das von dir?" fragte ich beeindruckt.

"Nee", wehrte er ab, "nich' so wirklich. Det ha'ick ma allet so hier un' da zusamm'jeklaut."

"Aber in dieser Form", insistierte ich, "in dieser Textgestalt ist es von dir?"

"Schonn. Aba da sinn keene Rechte druff. Kannzte ruhich verwend'n."

Das hatte ich ja nur hören wollen; somit fühle ich mich ermächtigt, diesen, wie ich finde, sehr anrührenden Text mit meinen Bloglesern zu teilen. Mit einem herzlichen Dankeschön an meinen ungenannt bleibenden Bekannten, der nicht der Autor sein will, es aber ja wohl irgendwie doch ist.

Das Märchen von der traurigen Traurigkeit
Es war eine kleine Frau, die den staubigen Feldweg entlang kam. Sie war wohl schon recht alt, doch ihr Gang war leicht, und ihr Lächeln hatte den frischen Glanz eines unbekümmerten Mädchens.
Bei der zusammengekauerten Gestalt blieb sie stehen und sah hinunter. Sie konnte nicht viel erkennen.
Das Wesen, das da im Staub des Weges saß, schien fast körperlos. Es erinnerte an eine graue Flanelldecke mit menschlichen Konturen. Die kleine Frau bückte sich ein wenig und fragte:
"Wer bist du?"
Zwei fast leblose Augen blickten müde auf.
"Ich? Ich bin die Traurigkeit", flüsterte die Stimme stockend und so leise, dass sie kaum zu hören war.
"Ach, die Traurigkeit!" rief die kleine Frau erfreut aus, als würde sie eine alte Bekannte begrüßen.
"Du kennst mich?" fragte die Traurigkeit misstrauisch.
"Natürlich kenne ich dich! Immer wieder einmal hast du mich ein Stück des Weges begleitet."
"Ja, aber...", argwöhnte die Traurigkeit, "warum flüchtest du dann nicht vor mir? Hast du denn keine Angst?"
"Warum sollte ich vor dir davonlaufen, meine Liebe? Du weißt doch selbst nur zu gut, dass du jeden Flüchtigen einholst. - Aber, was ich dich fragen will: Warum siehst du so mutlos aus?"

"Ich.....ich bin traurig", antwortete die graue Gestalt mit brüchiger Stimme.
Die kleine, alte Frau setzte sich zu ihr. "Traurig bist du also", sagte sie und nickte verständnisvoll mit dem Kopf. "Erzähl mir doch, was dich so bedrückt."
Die Traurigkeit seufzte tief. Sollte ihr diesmal wirklich jemand zuhören wollen? Wie oft hatte sie sich das schon gewünscht!
"Ach, weißt du", begann sie zögernd und äußerst verwundert, "es ist so, dass mich einfach niemand mag. Es ist nun mal meine Bestimmung, unter die Menschen zu gehen und für eine gewisse Zeit bei ihnen zu verweilen. Aber wenn ich zu ihnen komme, schrecken sie zurück. Sie fürchten sich vor mir und meiden mich wie die Pest." Die Traurigkeit schluckte schwer. "Sie haben Sätze erfunden, mit denen sie mich bannen wollen. Sie sagen: Papperlapapp, das Leben ist heiter. Und ihr falsches Lachen führt zu Magenkrämpfen und Atemnot. Sie sagen: "Gelobt sei, was hart macht. Und dann bekommen sie Herzschmerzen. Sie sagen: Man muss sich nur zusammenreißen.Und sie spüren das Reißen in den Schultern und im Rücken.Sie sagen: Nur Schwächlinge weinen. Und die aufgestauten Tränen sprengen fast ihre Köpfe. Oder aber sie betäuben sich mit Alkohol und Drogen, damit sie mich nicht fühlen müssen."
"Oh ja", bestätigte die alte Frau, "solche Menschen sind mir schon oft begegnet."
Die Traurigkeit sank noch ein wenig mehr in sich zusammen.
"Und dabei will ich den Menschen doch nur helfen. Wenn ich ganz nah bei ihnen bin, können sie sich selbst begegnen. Ich helfe ihnen, ein Nest zu bauen, um ihre Wunden zu pflegen. Wer traurig ist, hat eine besonders dünne Haut. Manches Leid bricht wieder auf wie eine schlecht verheilte Wunde, und das tut sehr weh. Aber nur, wer die Trauer zulässt und all die ungeweinten Tränen weint, kann seine Wunden wirklich heilen. Doch die Menschen wollen gar nicht, dass ich ihnen dabei helfe. Statt dessen schminken sie sich ein grelles Lachen über ihre Narben. Oder sie legen sich einen dicken Panzer aus Bitterkeit zu."
Die Traurigkeit schwieg. Ihr Weinen war erst schwach, dann stärker und schließlich ganz verzweifelt. Die kleine, alte Frau nahm die zusammengesunkene Gestalt tröstend in ihre Arme. Wie weich und sanft sie sich anfühlt, dachte sie und streichelte zärtlich das zitternde Bündel.

"Weine nur, Traurigkeit", flüsterte sie liebevoll, "ruh dich aus, damit du wieder Kraft sammeln kannst. Du sollst von nun an nicht mehr alleine wandern. Ich werde dich begleiten, damit die Mutlosigkeit nicht noch mehr an Macht gewinnt."
Die Traurigkeit hörte auf zu weinen. Sie richtete sich auf und betrachtete erstaunt ihre neue Gefährtin: "Aber...aber - wer bist eigentlich du?"

"Ich?" sagte die kleine, alte Frau schmunzelnd, und dann lächelte sie wieder so unbekümmert wie ein kleines Mädchen. "Ich bin die Hoffnung!"

Donnerstag, 22. November 2012

Von der Grünen Insel: Kann Abtreibung Leben retten?

Eigentlich hatte ich ja vorgehabt, nach meinem letzten Beitrag erst einmal von aktuellen Aufreger-Themen Abstand zu nehmen und mal wieder etwas Entspannendes zu schreiben, eine Buchkritik zu einem Roman aus meiner Klobibliothek zum Beispiel. Die wird nun warten müssen, denn erstmals in meiner noch jungen Blogger-Karriere hat mich ein Leserkommentar auf ein Thema aufmerksam gemacht, das mir ansonsten womöglich entgangen wäre. Zwar handelte es sich bei dem Kommentator offenbar eher um eine Art Troll, den man bekanntlich nicht füttern soll; aber das von ihm angeschnittene Thema verdient dennoch eine Stellungnahme, und ich denke mir, die ist in einem eigenständigen Beitrag besser aufgehoben als im Kommentarbereich eines Texts, der damit, wenn überhaupt, nur ganzganz am Rande etwas zu tun hat. Die Pimpfe, die ebenfalls Besuch vom Troll hatten, haben sich bereits kurz und pointiert zur Sache geäußert; bei mir wird's, so kennen mich meine Leser, wohl eher etwas ausführlicher geraten.

Also: Worum geht's? - Am Montagabend erreichte mich ein anonymer Kommentar zu meinem letzten Blogpost, in dem es unter Bezugnahme auf das in meiner Überschrift etwas dreist verballhornten Paul-Celan-Zitat hieß: "Und im Moment dürfte der Tod ein Meister aus Irland sein, der Muttertod zumindest." Zunächst konnte ich damit nichts anfangen, und auch eine Google-Recherche zu den Begriffen "Irland + Muttertod" half nicht viel weiter: Zwar fand Google so allerlei, von einer angeblich keltischen mythologischen Getstalt namens Mutter Tod bis hin zu einem Artikel über die Kelly Family ("Der Muttertod ist der erste schwere Schlag in der Kinderwelt von Kellys"), aber nichts davon erklärte mir den anonymen Kommentar. Als richtungsweisend erwies sich schließlich meine vage Vermutung, der Kommentar habe womöglich irgend etwas mit Abtreibung zu tun. So stieß ich auf folgende, von mir hier kurz paraphrasierte Meldung:
Savita Halappanavar, eine 31jährige in Irland lebende Inderin, war in der 17. Woche schwanger, als sie mit schweren Rückenschmerzen in die Universitätsklinik Galway eingeliefert wurde. Es wurde eine beginnende Fehlgeburt diagnostiziert; als der Zustand der Patientin sich verschlimmerte, bat sie um eine Abtreibung, die die Ärzte jedoch verweigerten, da Abtreibung in Irland illegal sei. Als drei Tage nach der Einlieferung der Tod des Fötus festgestellt wurde, wurde dieser aus Savita Halappanavars Gebärmutter entfernt; inzwischen hatte sie sich jedoch eine Blutvergiftung zugezogen, an der sie vier Tage später starb.

Wir haben es also erneut, wie im Fall Jens Pascal, mit einer hochsensiblen,. hoch emotionalen Materie zu tun. Das faktische Ergebnis der Vorgänge im Klinikum von Galway ist katastrophal: Mutter und Kind sind tot. Es ist nur allzu menschlich, dass bei solchen Tragödien ein Schuldiger gesucht wird. Wenn ein zumindest dem äußeren Anschein nach kurz zuvor noch völlig gesunder Mensch im Krankenhaus stirbt, wird die Schuld meist - ob zu Recht oder zu Unrecht - bei den Ärzten gesucht. Im vorliegenden Fall gehen die öffentlichen Reaktionen aber weit darüber hinaus: Da die behandelnden Ärzte - laut Aussage von Savita Halappanavars Ehemann - eine Abtreibung mit der Begründung "Dies ist ein katholisches Land" abgelehnt haben, wird die Schuld am Tod der Frau nicht allein ihnen zugewiesen, sondern dem in Irland geltenden strikten Abtreibungsverbot und in letzter Konsequenz der Katholischen Kirche. Auf diese Weise wird der tragische Todesfall in einer Vielzahl von öffentlichen Stellungnahmen dazu instrumentalisiert, für ein liberaleres Abtreibungsrecht zu agitieren und all jene zu attackieren, die sich für den Schutz des ungeborenen Lebens einsetzen.

Exemplarisch für diese Strategie ist, wen sollte es überraschen, ein am 15.11. erschienener SPIEGEL online-Artikel mit dem Titel "Tod einer Schwangeren - Irland streitet über Abtreibungsgesetz", verfasst von Carsten Volkery. Dem aufmerksamen Leser teilt dieser Artikel eine Reihe bemerkenswerter Fakten mit: so etwa, dass die Müttersterblichkeit auf der Grünen Insel ausgesprochen gering ist; dass die Gesetzeslage in Irland es Ärzten sehr wohl erlaubt, operative Eingriffe an schwangeren Frauen durchzuführen, die faktisch eine Abtreibung der Leibesfrucht bedingen, sofern diese Eingriffe notwendig sind, um das Leben der Mutter zu retten; und schließlich auch, dass es keinesfalls sicher ist, ob ein solcher Eingriff Savita Halappanavars Leben hätte retten können bzw. ob das Unterbleiben des Eingriffs für ihren Tod verantwortlich ist. Zusammenfassend kann man sagen, die puren Fakten des Falles lassen die Behauptung, das auf dem Menschenbild und der Morallehre der Katholischen Kirche aufbauende irische Abtreibungsstrafrecht habe Savita Halappanavar getötet, gegenstandslos erscheinen. Das stört den SPIEGEL aber nicht im Geringsten. Mit frappierender Offenheit argumentiert der Artikel vielmehr, die allgemeine Trauer, Wut und Empörung über diesen Todesfall biete einen guten Anlass, endlich mal gegen das lästige und anachronistische Abtreibungsverbot vorzugehen. (Auch der Hinweis, die Gelegenheit sei auch deshalb günstig, weil die Katholische Kirche in Irland durch den Missbrauchsskandal viel an moralischer Autorität verloren habe, fehlt nicht.) Verräterisch ist hier nicht zuletzt der Satz: "Schwangere Irinnen müssen ins benachbarte Großbritannien reisen, um abzutreiben." Dieser Sachverhalt, den man in Deutschland auch aus eigener Erfahrung kennt - so lange ist es noch nicht her, dass deutsche Frauen Abtreibungen, die nach damaligem deutschen Recht strafbar waren, in den Niederlanden vornehmen ließen -, wird hier so lapidar dargestellt, als gehe es um ein Dorf ohne Supermarkt, desse Einwohner zum Einkaufen in die 16 Kilometer entfernte Kreisstadt fahren müssen. Abtreibung, so wird hier suggeriert, ist etwas ebenso Selbstverständliches und Alltägliches wie Shoppen - wenn man es zu Hause nicht tun kann, geht man eben woanders hin, aber bequemer wäre es allemal, man müsste dafür nicht so weit fahren.

Mit dem traurigen Schicksal von Savita Halappanavar hat all das erkannbar wenig zu tun. Sie und ihr Mann wollten ihr Kind schließlich, haben sich darauf gefreut, und nur die Angst um ihr eigenes Leben hat die Mutter veranlasst, einen Schwangerschaftsabbruch zu verlangen. Komplikationen in der Schwangerschaft, die für die Mutter lebensbedrohlich sind, kommen in unseren Breiten glücklicherweise selten vor, aber sie kommen vor, und wenn den Ärzten nur die Wahl bleibt, entweder das Leben der Mutter oder das des Kindes zu retten, werden sie sich in der Regel für das der Mutter entscheiden. Ein moralisches Dilemma bleibt es allemal. In dem hier in Frage stehenden Fall haben die Ärzte anders entschieden und haben schließlich weder die Mutter noch das Kind retten können. Ob es sich medizinisch gesehen um eine objektive Fehlentscheidung gehandelt hat, für die die Ärzte zur Verantwortung zu ziehen wären, kann und will ich nicht beurteilen; Fakt ist so oder so, dass es keiner Legalisierung von Abtreibung bedarf, um das Leben schwangerer Frauen in Konfliktfällen wie diesem zu schützen.

Der zitierte SPIEGEL online-Artikel klärt seine Leser dankenswwerterweise darüber auf, dass es in Irland seit 1983 einen Verfassungszusatz gibt, der klarstellt, dass jedem Menschen ab dem Moment der Zeugung - also auch schon als Embryo und später als Fötus - die vollen Menschenrechte zustehen. Unter diesen steht das Recht auf Leben, als Voraussetzung für alle anderen Rechte, logischerweise an erster Stelle. Dass der Mensch vom Moment der Zeugung an ein vollwertiger Mensch ist, entspricht durchaus nicht nur der Lehre der Katholischen Kirche; es ergibt sich auch schlicht und ergreifend aus den biologischen Fakten, denn wenngleich ein Fötus frühestens einige Wochen vor dem "normalen" Geburtszeitpunkt in der Lage ist, außerhalb des Mutterleibs zu überleben, steht es doch außer Zweifel, dass er auch schon im Embryonalstadium ein von der Mutter verschiedenes Lebewesen ist, und zwar eines, das der Spezies "Mensch" angehört. Da diese simple Tatsache aber weithin nicht anerkannt wird, wäre ein Verfassungszusatz wie in Irland auch andernorts, z.B. auch in Deutschland, ein begrüßenswerter Fortschritt. Die im deutschen Abtreibungsrecht gültige Fristenregelung, die jährlich rund 100.000 Abtreibungen ermöglicht, wäre dann allerdings wohl kaum mehr aufrecht zu erhalten...

(Weitere Stellungnahmen zum Thema gibt es hier, hier und hier.)

Sonntag, 18. November 2012

Der Tod ist Deutscher Meister [*]

Eins vorweg: Ich bin kein Fußballfan, bin nie einer gewesen und werde wohl auch keiner mehr werden. Das heißt nicht, dass ich mich nicht für Fußball interessiere. Ich schaue mir durchaus gern mal Spiele im Fernsehen an (allerdings nicht allzu oft, zumal ich keinen eigenen Fernseher besitze), und bei einem spannenden Spielverlauf bin ich auch sehr wohl fähig, "mitzufiebern" - wobei ich zumeist spontan entscheide, welcher Mannschaft meine Sympathie gilt. Es ist also nicht der Fußball an sich, der mir suspekt ist, sondern das "Fan-Sein".

"Fan" kommt von "Fanatiker", und tatsächlich löst der Profifußball bei vielen Zuschauern einen Fanatismus aus, den ich befremdlich und oft erschreckend finde. Natürlich muss man hier differenzieren. Ich kenne so einige Menschen, die leidenschaftliche Anhänger eines bestimmten Fußballvereins sind, Dauerkarten fürs Stadion besitzen, in der kalten Jahreszeit Schals und Mützen in den Vereinsfarben und im Sommer Vereinstrikots, gern mit dem Namen und der Rückennummer ihres Lieblingsspielers geschmückt, tragen und für die es am jeweiligen Spieltag und eventuell auch noch einen Tag später kein wichtigeres oder auch nur annähernd so wichtiges Gesprächsthema gibt als bzw. wie Fußball - die aber davon abgesehen durchaus vernünftige und angenehme Menschen sind. Gut, sie haben ein Hobby, das mir in dieser Form und Ausprägung fremd und unverständlich erscheint. Aber sicherlich habe ich auch Eigenarten, die in ihren Augen genauso sonderbar sind. Das ist kein Grund, sich nicht gegenseitig zu respektieren und eventuell sogar anzufreunden.

Mein Verständnis und meine Sympathie für Fußballfans wächst, wenn es sich um Menschen handelt, die einen besonderen Bezug zu "ihrem" Verein haben. Ich habe da z.B. einen schon recht bejahrten Arbeitskollegen, der aus Dortmund stammt und in seiner Jugend selbst mal für die Borussia gespielt hat, bis er seine Träume von einer Profikarriere infolge einer Knieverletzung begraben musste. Dass der nun glühender BVB-Anhänger ist und jeden Montagmorgen erst mal einen Kollegen beiseite nehmen muss, um mit ihm den zurückliegenden Bundesliga-Spieltag durchzudiskutieren, das kann ich vollkommen verstehen.

Letztendlich ist das Fußballfansein ja ein Hobby wie andere Hobbys auch. Es gibt schließlich auch leidenschaftliche Briefmarken- oder Streichholzbriefchensammler, ganz zu schweigen von Menschen, die ein enormes Maß an Zeit, Geld und Energie darauf verwenden, historische Schiffsmodelle zu basteln oder ihre Kellerräume in gigantische, von Modelleisenbahnstrecken durchpflügte Berg-und-Tal-Landschaften zu verwandeln. Gegen all das ist grundsätzlich nicht viel einzuwenden, allerdings fände ich es in allen diesen Fällen alarmierend, wenn das Hobby zum hauptsächlichen, ja zum annähernd einzigen Lebensinhalt wird.

Im Gegensatz zu den genannten, weithin als eigenbrötlerisch und verschroben belächelten Hobbys wird die Fußballbegeisterung allerdings in hohem Maße öffentlich zelebriert. Kaum jemand scheint sich darüber zu wundern oder Anstoß daran zu nehmen, was für einen großen Stellenwert der Profifußball in den Medien beansprucht, nicht nur in speziellen Formaten für Fans, sondern auch in ganz regulären, als seriös geltenden Nachrichtensendungen und Tageszeitungen. Und wenn man sieht oder liest, dass eine Politikerin, weil sie sich abfällig über den FC Bayern München geäußert hat, mit Rücktrittsforderungen aus dem bayerischen Landesverband ihrer eigenenen Partei konfrontiert wird, dann bekommt man eine Ahnung davon, welchen gesellschaftlichen Einfluss Fußballfans haben. Mehr noch: Fußball ist nicht nur Politik, Fußball ist - für ganz ganz hartgesottene Fans, von denen es aber gar nicht so wenige gibt - auch Religion. Nicht umsonst ist so oft vom "Fußballgott" die Rede. Man muss hinzufügen, dass es sich um eine Religion handelt, die in einem Maße zu Intoleranz und (in den meisten Fällen glücklicherweise "nur" verbaler) Aggressivität neigt, wie man sie an echten Religionsgemeinschaften zu Recht scharf tadeln würde.

Der (pseudo-)religiöse Charakter des Fußballfan-Wesens wird besonders deutlich, wenn man sieht, dass manchen Fans ihre Fußballleidenschaft noch im Angesicht des Todes wichtiger zu sein scheint als alles andere. Wenn ein eingefleischter Fan etwa testamentarisch verfügt, dass er in seiner Vereinskluft beerdigt werden will, dass bei seiner Beerdigung Stadionhymnen (etwa "Steh auf, wenn du ein Schalker bist"...) gesungen werden sollen oder dass man ihm einen Grabstein mit dem Logo "seines" Vereins setzen soll. An anderer Stelle schrieb ich einmal, ohne den Glauben an irgendeine Form von "Leben nach dem Tod" seien jegliche Begräbnisrituale sinnlos; im Umkehrschluss lasse die Art der Begräbnisrituale aber eben auch Rückschlüsse auf die Art der Jenseitsvorstellungen zu. Wenn sich nun jemand in Trikot und Fußballschuhen beerdigen lässt und womöglich noch einen Ball mit in den Sarg bekommt, dann erinnert das vage an die Grabbeigaben ägyptischer Pharaonen. Glaubt der Betreffende aber wirklich, er komme nach dem Tod in ein gigantisches Fußballstadion, und seine Grabbeigaben würden sicherstellen, dass er Zugang zum richtigen Fanblock erhält? - Wahrscheinlich eher nicht. Aber er tut so, als würde er das glauben. Man könnte sich erdreisten zu sagen, er macht sich einen Jux mit dem Tod. Wenn das ein erwachsener Mensch tut, stellt er damit zwar seiner geistigen Reife ein schlechtes Zeugnis aus, aber okay, er ist erwachsen und wird schon wissen, was er tut. Was aber, wenn es sich um ein neunjähriges Kind handelt?

Wie die Debatten um den letzten Wunsch des an Krebs gestorbenen Jens Pascal aus Dortmund gezeigt haben, scheint der Umstand, dass es sich um ein Kind handelt, für viele Betrachter von vornherein jegliche Kritik auszuschließen. Traurig genug, dass ein Kind so jung sterben muss - wer wird da so grausam sein, ihm die Erfüllung seines letzten Wunsches zu verweigern? Nun haben wir es im Fall Jens Pascal aber nicht mit einem Kind zu tun, das vom Auto angefahren wurde oder unglücklich mit dem Fahrrad gestürzt ist und gerade noch genug Zeit hatte, einen spontanen letzten Wunsch zu äußern; der Junge hatte, wie gesagt, Krebs, er ist, wenn man das so formulieren darf, über einen längeren Zeitraum hinweg gestorben. Man hätte Zeit gehabt, ihn ernsthaft und besonnen auf seinen Tod vorzubereiten. Wenn sein letzter Wunsch dennoch darin bestanden hat, einen Grabstein mit BVB-Logo zu bekommen, dann zweifle ich daran, dass ihm jemals wirklich bewusst geworden ist, was für eine ernste Angelegenheit der Tod ist. Mancher wird nun sagen, genau das könne man einem Kind gar nicht zumuten - ich schrieb schon einmal etwas dazu und habe dort, wie ich glaube, hinlänglich dargelegt, dass und warum ich das anders sehe. Eine besondere Pointe der öffentlichen Debatte über den Fall Jens Pascal liegt für mich darin, dass sie ausgerechnet in die Wochen zwischen Allerseelen und Totensonntag fiel und sich auch mit der ARD-Themenwoche "Leben mit dem Tod" überschnitt. Dieser Umstand hätte durchaus dazu anregen können, darüber zu diskutieren, ob es nicht sinnvollere Arten gibt, einen Menschen, auch ein Kind, auf den Tod vorzubereiten, als die Mannschaft des BV Borussia Dortmund einschließlich als Weihnachtsmann verkleidetem Trainer am Krankenbett aufmarschieren zu lassen.

(Ich muss zwischendurch mal die Klarstellung einschieben, dass es mir hier nicht darum geht, die Eltern zu kritisieren. Die haben es schon schwer genug. Mir geht es vielmehr um das in meinen Augen arg einseitige und unreflektierte Echo, das dieser traurige Fall in der Öffentlichkeit gefunden hat.)

Die Einstellung gegenüber dem Tod, die sich darin äußert, dass man es dem sterbenskranken Kind möglichst "leicht" machen will, indem man ihm allerlei bizarre Wünsche erfüllt, mag man persönlich gutheißen oder auch nicht; offensichtlich ist, dass sie mit einer christlichen Jenseitshoffnung wenig zu tun hat. Nun gehören die Eltern des verstorbenen Jens Pascal auch tatsächlich keiner christlichen Religionsgemeinschaft an, der Junge war auch nicht getauft; dennoch wollten die Eltern ihn auf einem katholischen Friedhof bestatten lassen. Über die Gründe dafür kann man nur spekulieren: Gefiel ihnen dieser Friedhof einfach besonders gut, unabhängig von seinem kirchlichen Charakter - oder steckte doch so etwas dahinter wie der Gedanke, ein Begräbnis in geweihter Erde könne, auch wenn man nicht so richtig an die christliche Botschaft glaubt, zumindest "nicht schaden"? Wie dem auch sei, die zuständige Kirchengemeinde hatte gegen eine Bestattung des konfessionslosen Jens Pascal auf ihrem Friedhof nichts einzuwenden, und das finde ich ausgesprochen respektabel und richtig. Sehr wohl hatte die Friedhofsverwaltung aber etwas dagegen, dass der Junge, seinem letzten Wunsch entsprechend, einen Grabstein mit BVB-Logo bekommen sollte. Das sei dem christlichen Charakter des Friedhofs nicht angemessen. Welche Reaktionen diese Haltung der Friedhofsverwaltung in der Öffentlichkeit ausgelöst hat, ist allgemein bekannt und wurde auch schon ausgiebig kommentiert (siehe z.B. hier, hier und hier). Mittlerweile ist der Streit um die Gestaltung des Grabsteins durch einen Kompromiss beigelegt worden, aber ich bin wohl nicht der Einzige, bei dem das Ganze einen faden Nachgeschmack hinterlassen hat. Mir jedenfalls hat noch niemand überzeugend darlegen können, warum eine Kirchengemeinde auf ihrem Friedhof (wo es in Dortmund, wie auch in anderen großen Städten, doch genug nicht-kirchliche Friedhöfe gibt) partout ein Grabmal tolerieren muss, das in offenem Widerspruch zum christlichen Todes- und Jenseitsverständnis steht; ja, warum es geradezu ein Erfordernis "christlicher Nächstenliebe" sein soll, diese Huldigung an den oben erwähnten Fußballgott auf einem katholischen Friedhof zu dulden. Über die Lawine bösartigster antikirchlicher, antikatholischer und allgemein antichristlicher Polemik, die die causa Jens Pascal in den einschlägigen sozialen Netzwerken und Diskussionsforen losgetreten hat, will ich hier lieber gar nicht erst reden. Wenn jetzt noch jemand kommt, der argumentiert, gerade weil solche Reaktionen vorhersehbar gewesen seien, hätte die Kirchengemeinde von vornherein kompromissbereiter sein sollen, um Schaden vom öffentlichen Ansehen der Kirche abzuwenden, dann erhält er von mir bestenfalls ein entgeistertes Kopfschütteln zur Antwort.

Letztlich läuft die ganze Debatte in meinen Augen - wieder einmal - darauf hinaus, dass die Kirche froh und zufrieden sein dürfe, wenn man sie als nostalgischen Farbtupfer in ansonsten gründlich durchsäkularisierter Umgebung toleriert und von Fall zu Fall sogar als "Anbieter von Spiritualität" (diese grausige Formulierung habe ich mir nicht ausgedacht, ich musste sie mir schon verschiedentlich in einschlägigen Diskussionen anhören) in Anspruch nimmt, beispielsweise für Trauungen oder eben Beerdigungen; sie solle sich aber bloß nicht anmaßen, Ansprüche an die Menschen zu stellen und ihre eigenen Lehren ernster und wichtiger zu nehmen als die Befindlichkeiten Einzelner.

Wie schließe ich diesen Text ab? Vielleicht am besten mit dem Eingeständnis, dass die hier behandelten Vorgänge mich tagelang extrem gallig gestimmt haben und ich intensiv darum ringen musste, darüber schreiben zu können, ohne mich im Ton zu vergreifen. Ich hoffe, dass mir das nun halbwegs gelungen ist. Für den kleinen Jens Pascal tut mir das Ganze sehr leid. Ich denke, das Beste, was man jetzt noch tun kann, ist, für ihn und für seine Eltern zu beten. Und das tue ich.


[* Ich entschuldige mich vorsorglich bei allen, die diese Überschrift als geschmacklos empfinden mögen, und betone, dass damit keine Veralberung des großen Dichters Paul Celan, keine Relativierung des Holocausts oder Herabwürdigung der Opfer desselben beabsichtigt ist.]


Update (22.11.12):
In den Tagen seit dem Erscheinen dieses Beitrags bin ich von aufmerksamen Lesern auf ein paar sachliche Fehler und Ungenauigkeiten in meinem Text hingewiesen worden, die ich, wie ich zu meiner Entschuldigung vorbringen möchte, aus den von mir herangezogenen Quellen übernommen hatte. So wurde mir mitgeteilt, es stimme nicht, dass die Eltern von Jens Pascal "keiner christlichen Religionsgemeinschaft" angehören: Die Mutter sei evangelisch, der Vater neuapostolisch. Zudem habe die Friedhofsverwaltung ein BVB-Logo auf dem Grabstein nicht grundsätzlich abgelehnt, sondern lediglich das Fehlen eines christlichen Bezugs bemängelt; dem entspricht ja auch der nun gefundene Kompromiss, das Design des Grabsteins um ein christliches Motiv zu ergänzen.

Davon abgesehen möchte ich nochmals unterstreichen, was in meinem ursprünglichen Text vielleicht nicht deutlich genug geworden ist: dass es mir keinesfalls darum geht, ein Urteil über Jens Pascals Eltern zu fällen - sei es über die Art ihres Umgangs mit der tödlichen Krankheit ihres Sohnes oder über ihren Kampf um die Erfüllung seines letzten Wunsches. So ein Urteil stünde mir als Außenstehendem auch gar nicht zu, und selbst wenn dies der Fall wäre, wären Vorwürfe sicherlich das Letzte, was Eltern, die um ihr Kind trauern, brauchen können. Was mich an dieser ganzen Geschichte beschäftigt und mich dazu veranlasst hat, darüber zu schreiben, ist - wenn man das so sagen kann - nicht das Spezifische dieses Falles, sondern das, was an ihm, so, wie er sich in der öffentlichen Debatte dargestellt hat bzw. dargestellt wurde, exemplarisch ist: exemplarisch für den quasi- bzw. pseudoreligiösen Kult, der um profane Dinge wie Fußball getrieben wird, für die letztlich rat- und hilflose Haltung des "modernen Menschen" gegenüber dem Tod und nicht zuletzt für eine Einstellung gegenüber der Kirche, die diese nur als Dienstleister sehen will und von ihr erwartet, den Menschen das zu geben, was sie wollen - und möglichst noch froh zu sein, dass sie überhaupt noch etwas von ihr wollen. In dieser Hinsicht habe ich von meinen Ausführungen, unbeschadet der obigen Richtigstellungen, nichts zurückzunehmen.

Til Schweiger, ich will deine Organe nicht

Da ich in letzter Zeit wieder verstärkte Diskussionen über das Thema Organspende aufgeschnappt habe und man ja nun wohl verpflichtet werden soll, bei seiner Krankenkasse anzugeben, ob man im Todesfalle bereit ist, Organe zu spenden, habe ich einen kleinen Text ausgegraben, den ich anno 2010 zum Vortrag auf Lesebühnen geschrieben habe, und möchte ihn nun auch meinen Bloglesern vorstellen. An die Werbekampagne, die seinerzeit den Anlass zu diesem Text gab, wird sich wohl noch Mancher erinnern. Aus heutiger Sicht würde ich sagen, dass auf der inhaltlichen Seite noch Manches zu ergänzen oder zu differenzieren wäre - so bin ich z.B. nicht auf die Problematik des Hirntodkriteriums eingegangen -, aber der Text ist ohnehin eher satirisch angelegt, und für sachliche Ergänzungen steht ja das Kommentarfeld weit offen... Also, Vorhang auf für:

Til Schweiger, ich will deine Organe nicht

Darf ich Sie mal etwas Persönliches fragen? – Was halten Sie eigentlich von Organspende? Oder, präziser gefragt: von der aktuell laufenden Werbekampagne zu diesem Thema? Ich muss gestehen, ich finde die ziemlich penetrant. Ich kann ja kaum zwei Stationen mit der U-Bahn fahren, ohne dass irgendein B-Prominenter via Bildschirm oder Plakat Anspruch auf meine Organe anmeldet. Außerdem hasse ich es, wenn Werbung mir ein schlechtes Gewissen einzureden versucht. „Schau dich um: Nur jedem Siebten hier ist dein Leben nicht egal.“ Das ist eine sonderbare Aussage. Wenn von den Menschen, die zufällig mit mir in der U-Bahn sitzen (oder stehen), tatsächlich jeder Siebte an meinem persönlichen Wohl und Wehe Anteil nähme, erschiene mir das schon sehr viel. Aber so ist es ja gar nicht gemeint. Gemeint ist vielmehr: Wer nicht im Besitz eines Organspenderausweises ist, beweist damit, dass seine Mitmenschen ihm scheißegal sind. Im Umkehrschluss wird damit unterstellt, die rund 14 Prozent der Bevölkerung, die einen Organspenderausweis haben, hätten tatsächlich ein genuines persönliches Interesse an mir. Eine irritierende Vorstellung, insbesondere wenn zu diesen 14 Prozent solche Knallchargen wie Til Schweiger gehören.

Davon, dass ein allzu ausgeprägtes Interesse am Leben derAnderen ja auch seine totalitären und/oder psychopathischen Züge haben kann, will ich hier gar nicht erst anfangen – schließlich geht es hier in Wirklichkeit weniger um das Leben als vielmehr um die Leber der Anderen. In den 70er und 80er Jahren gab es mal den Slogan „Mein Bauch gehört mir“ – womit gebärunwillige Frauen proklamierten: Wenn so ein kleines Wesen meint, es könnte sich ohne meine Einwilligung neun Monate lang mietfrei bei mir einquartieren, drohe ich mit Eigenbedarfskündigung. Das galt damals als fortschrittlich. Wer hingegen heute darauf besteht, seine Innereien für sich zu behalten und gegebenenfalls mit ins Grab zu nehmen, muss sich als reaktionär verschreien lassen. Unser Bauch gehört nicht mehr uns: Leber, Herz, Nieren – alles nur geliehen, gemietet, geleast. Von wem? – Von der „Allgemeinheit“. Das mag schwammig klingen, aber konkreter geht es nicht. Noch so ein Spruch aus den 80ern: „Wir haben die Erde nur von unseren Kindern geliehen.“ Das fand ich schon als Kind bescheuert. Wieso von unseren Kindern? Wie können die uns etwas leihen, noch dazu etwas, was ihnen ja nun wohl auch bzw. erst recht nicht gehört? Ich hatte schon damals den Verdacht, diese Metapher mit den „Kindern“ sei nur ein Ausweichmanöver, um nicht von Gott sprechen zu müssen. Selbst der evangelischen Kirche scheint es ja heutzutage peinlich zu sein, von Gott zu sprechen. Aber ich schweife ab.

Zurück zum Thema: Ein ganz eigenes Dilemma bei der Organspende ist ja, dass man, um ein geeigneter Spender zu sein, möglichst gesund sterben müsste. Und wer will schon gesund sterben? Eine tödliche Krankheit ist vielleicht nicht sehr schön, aber gesund sterben erscheint so sinnlos: Solange man gesund ist, könnte man doch auch am Leben bleiben. - „Na, für dich ist es vielleicht sinnlos, wenn du gesund stirbst“, höre ich den Chor der Organspende-Propagandisten rufen, „aber nicht für die Allgemeinheit!“ Da ist sie wieder: meine alte Freundin, die Allgemeinheit.
Man könnte ja fast vermuten, die Organspende-Lobby stecke auch hinter dem Rauchverbot. Wann sehen wir die erste Zigarettenschachtel mit dem Aufdruck „Rauchen fügt Ihnen und späteren Nutzern Ihrer Organe erheblichen Schaden zu“? Auch bei alkoholischen Getränken wäre so ein Warnhinweis nicht schlecht: „Schonen Sie Ihre Leber – sie wird noch gebraucht!“
Zum Beispiel, womöglich, von Til Schweiger. Aber der ist dafür ja auch bereit, seine eigenen Organe auf den Markt zu werfen, wenn ihm die Stunde schlägt. Anders als viele andere: „Obwohl die meisten Menschen im Falle eines Falles ein Spenderorgan akzeptieren würden“, heißt es in der Kampagne, „ist nur jeder Siebte bereit, nach seinem Tod selbst Organspender zu sein.“ Na gut: Es wäre ja durchaus diskutabel, eine Regelung einzuführen, dass Menschen, die selbst Organspender sind, bei der Zuteilung lebenswichtiger Spenderorgane bevorzugt behandelt werden. Das hätte dann auch den Vorteil, dass man ein und dasselbe Organ mehrmals hintereinander transplantieren könnte. Wie viele Menschen können wohl nacheinander dasselbe Organ benutzen, ehe es kaputt geht? Drei, vier, fünf? Da gewinnt der Begriff „Wanderniere“ eine ganz neue Bedeutung!

Was ich mich jedoch frage: Kann ich auch irgendwo unterschreiben, dass ich im Ernstfall keinesfalls ein Organ von Til Schweiger eingepflanzt bekommen möchte? Ich fürchte nämlich, das würde heftige Abstoßungsreaktionen meines restlichen Körpers auslösen. Und wenn nicht – wenn, umgekehrt, das Schweiger-Organ sich durchsetzt und meinen gesamten Organismus unterwandert? Fange ich dann an zu nuscheln und nur noch zwei verschiedene Gesichtsausdrücke zu beherrschen?

Noch etwas, was mich an dieser Kampagne ärgert, ist ihr Name: „Pro“. Einfach nur „Pro“, ohne Zusätze. „Pro“ irgendwas will ja heutzutage jeder sein. In den USA lautet der Slogan der Abtreibungsbefürworter „Pro Choice“, derjenige der Abtreibungsgegner „Pro Life“. In Berlin gab’s vor ein paart Jahren „Pro Reli“, und die Gegenkampagne nannte sich nicht etwa „Anti Reli“, was sachlich korrekt gewesen wäre, aber einen schlechten Eindruck gemacht hätte, sondern „Pro Ethik“. So ist das heutzutage: Wer mit seinem Anliegen ernst genommen werden will, muss nicht gegen etwas sein, sondern für etwas. Ist man nicht für das eine, dann ist man für das andere. Indem die Organspende-Befürworter sich aber einfach nur „Pro“ nennen, lassen sie ihren Gegnern nur die Möglichkeit, einfach nur „Anti“ zu sein.

Aber sehen wir den Tatsachen ins Auge: Da ist was Wahres dran. Es gibt keine Argumente gegen Organspende. Sogar der Papst befürwortet sie, was mir jede Möglichkeit nimmt, zu behaupten, ich wäre aus religiösen Gründen dagegen. Da müsste ich schon Zeuge Jehovas werden, und davon möchte ich ja nun doch lieber absehen. Nein, wirklich: Organspende rettet Leben und schadet niemandem. Dagegen zu sein, ist tatsächlich eine reine Anti-Haltung. Mit anderen Worten: Gegen Organspende zu sein, ist Punk. Die pure Negation, ohne positive Alternativen zu bieten. Eine stolze, eine schöne Haltung, wenn auch vielleicht ein wenig asozial. Ich sollte Johnny Rotten anrufen und ihn fragen, ob er einen Organspenderausweis besitzt. Und wenn er „Ja“ sagt, verstehe ich die Welt nicht mehr.