Gesamtzahl der Seitenaufrufe

Freitag, 24. April 2015

Vielfalt und Sünde

Dass die christlichen Kirchen - nicht nur die Katholische, diese aber in besonderem Maße - homophob bis ins Mark seien: das ist eine so verbreitete Auffassung, dass sie fast schon keiner Belege mehr zu bedürfen scheint. Dennoch werden einem immer mal wieder so Geschichten präsentiert, die noch einmal doppelt unterstreichen sollen, wie arg das ist mit der kirchlichen Homophobie. Zu meiner Kenntnis gelangt sind in jüngster Zeit drei solche Geschichten - eine aus Stuttgart, eine aus Paris und Rom und eine aus Bad Nenndorf. Wenn das mal keine bunte Mischung ist.

In Stuttgart wollte, wie die Stuttgarter Nachrichten berichteten, der seit Jahren in einer gleichgeschlechtlichen Beziehung lebende CDU-Kreisvorsitzende und Bundestagsabgeordnete Stefan Kaufmann seine Partnerschaft von der Katholischen Kirche segnen lassen. Eine entsprechende Feier sollte in der Stuttgarter Kirche St. Konrad unter Leitung von Pfarrer Anton Seeberger stattfinden, wurde aber vom zuständigen Diözesanbischof Gebhard Fürst unter Verweis auf das geltende Kirchenrecht untersagt.

Zwischen Paris und Rom ging es um die Ernennung eines neuen Botschafters der Republik Frankreich beim Heiligen Stuhl. Mehrere Zeitungen bzw. Nachrichtenseiten ließen verlauten, der Vatikan verweigere dem vom Elysée-Palast benannten Kandidaten Laurent Stefanini die Anerkennung - und zwar, weil er homosexuell sei. Es wurde gemunkelt, die Sprecherin der (von der Qualitätstageszeitung Die Welt als "offen  homofeindlich" bezeichneten) Bewegung La Manif pour tous, Ludovine de la Rochère, habe beim Vatikan gegen die Ernennung Stefaninis interveniert, obwohl der Pariser Erzbischof André Vingt-Trois und der Camerlengo Jean-Louis Kardinal Tauran sich für ihn ausgesprochen hätten. "Er wäre nicht der erste Schwule, der wohl von einer homophoben Lobby verhindert worden wäre", orakelte Die Welt.

Und in Bad Nenndorf sah eine 84-jährige Dame mit dem Vornamen Marie, Großmutter von zwei Homosexuellen, die NDR-Sendung Die Schwulenheiler 2, in der u.a. der evangelische Pastor Gero Cochlovius aus Hohnhorst, einem Nachbarort von Bad Nenndorf, seine Ansichten zum pastoralen Umgang mit Homosexuellen darlegte. Die Äußerungen dieses Pastors erzürnten die alte Dame derart, dass sie unter Protest ihren Austritt aus der evangelischen Kirche erklärte.

Alle diese Fälle erregten, wie man sich vorstellen kann, erhebliches Aufsehen. Schlagzeilen wie "Bischof lässt Schwule abblitzen" oder "Vatikan sabotiert schwulen Botschafter aus Frankreich" geisterten durch den Blätterwald, und in den Kommentarspalten tummelten sich all jene, die ja schon immer gewusst haben, wie "ewiggestrig", "mittelalterlich" und "menschenverachtend" die Kirche ist. Das größte und emotionalste Echo löste jedoch der Fall "Oma Marie" aus. Die Veröffentlichung ihrer Austrittserklärung auf Facebook erhielt Zehntausende "Likes" und wurde Hunderte von Malen geteilt.  "Oma Marie kämpft für schwule Enkel", jubelte die Süddeutsche Zeitung, und die Frauenzeitschrift Brigitte schrieb: "Jetzt betet Oma Marie nur noch zu Hause. Und wir verneigen uns vor ihr."

Wischt man sich aber mal kurz die Tränen der Rührung aus den Augen und betrachtet die drei Fälle ein wenig nüchterner, dann fällt einem auf, dass da so Einiges offensichtlich nicht stimmt. - An der Stuttgarter Geschichte fällt zunächst einmal auf, dass sie im Grunde ein ganz schön alter Hut ist: In der linksalternativen taz war schon vor einem Jahr von Stefan Kaufmanns Wunsch nach einem kirchlichen Segen für seine eingetragene Lebenspartnerschaft zu lesen. "Die Kirche segnet Panzer, Weizenfelder, Schulen. Warum nicht uns?", wurde der CDU-Politiker damals zitiert, und: "Und es ist auch Politik, wenn ich den Bischof bitte, unsere Segnung zu genehmigen." Angesichts der neu aufgeflammten Debatte erklärte Stefan Kaufmann persönlich auf Twitter, das Ansinnen einer katholischen Segnungsfeier sei bereits "seit Monaten vom Tisch"; vielmehr sei es zuletzt nur noch um einen "Dankgottesdienst" gegangen, aber auch zu diesem habe Bischof Fürst seine Zustimmung verweigert. Dass der Fall in den Medien überhaupt wieder aufgewärmt wurde, war offenbar dadurch ausgelöst worden, dass Kaufmanns Partner aus der Römisch-Katholischen Kirche aus- und in die Altkatholische Kirche eingetreten ist, um von dieser den gewünschten Segen zu erhalten. Der altkatholische Pfarrer Joachim Pfützner erklärte sich bereit, eine solche Segensfeier zu zelebrieren, stellte jedoch gegenüber den Stuttgarter Nachrichten klar, dass eine solche "Segnung ihres gemeinsamen Lebenswegs" keinesfalls mit einer kirchlichen Eheschließung zu vergleichen sei.

In der Affäre um den designierten französischen Vatikan-Botschafter Stefanini ließ die Website LifeSiteNews am 15. April eine Bombe platzen, indem sie den Wahrheitsgehalt der vorangegangenen Meldungen, Stefanini sei wegen seiner Homosexualität vom Vatikan abgelehnt worden, in allen Punkten radikal in Frage stellte. In Umlauf gebracht worden seien diese Meldungen ursprünglich von dem französischen Magazin Le Canard enchaîné - einer Satirezeitschrift. Stefanini, ein praktizierender Katholik (und damit im laizistischen Frankreich klar in der Minderheit), lebe durchaus nicht "offen homosexuell", sondern habe sich nie öffentlich zu seiner sexuellen Orientierung geäußert und sei auch nie als Verfechter von Rechten Homosexueller hervorgetreten; dass der Vatikan ihn bislang nicht als Botschafter bestätigt habe, könne zwar als unausgesprochene Ablehnung interpretiert werden, dies sei jedoch keinesfalls sicher; und für diese Ablehnung, wenn es denn überhaupt eine sei, bestimmte Gründe benennen zu wollen, sei vollends spekulativ. Zudem habe die Manif pour tous-Sprecherin Ludovine de la Rochère entschieden bestritten, in dieser Angelegenheit beim Vatikan interveniert zu haben.

Was nun "Oma Marie" aus Bad Nenndorf angeht, muss ich sagen, dass die ganze Angelegenheit für mich von vornherein ganz ganz stark nach Fake roch - und ich war auch nicht der Einzige, der das so sah. So schrieb etwa das evangelikale Nachrichtenportal idea.de noch am 15. April vom "angeblichen Kirchenaustritt einer 84-Jährigen" und wies darauf hin, dass bei Pfarrer Cochlovius kein entsprechender Brief eingegangen sei. Andere Beobachter wiesen darauf hin, dass der eigentliche Urheber des "Oma Marie"-Hypes auf Facebook ein Aktivist namens Kim Kamps von der Anti-Homophobie-Initiative "Enough is Enough" gewesen sei. Nach eigenem Bekunden ist Kim Kamps einer der beiden homosexuellen Enkel von Oma Marie. Falls das stimmt, bleibt immer noch ein schaler Beigeschmack bei dieser medienwirksamen Einspannung einer Seniorin für die Kampagnentätigkeit ihres Enkels.

Offensichtlich scheint es, dass alle diese drei Geschichten - soweit sie nicht von vornherein fiktiv sind - gezielt instrumentalisiert worden sind, mit dem erklärten Ziel, die Kirche(n) öffentlich unter Druck zu setzen, ihre Haltung zu praktizierter Homosexualität zu revidieren. Bezeichnend dafür ist auch, dass man sich in allen drei Fällen gewissermaßen "weiche Ziele" gesucht hat. Bischof Fürst von Rottenburg-Stuttgart wird wohl beim schlimmsten Willen niemand für einen Hardliner innerhalb der Katholischen Kirche halten; in der Berichterstattung über die Stefanini-Affäre wurde immer wieder gern darauf hingewiesen, dass Papst Franziskus doch mal im Flugzeug diesen "Wer bin ich, darüber zu urteilen"-Satz gesagt habe (dass er inhaltlich nichts Anderes zum Thema Homosexualität gesagt hat als seine Vorgänger, wird dabei gern verkannt oder ausgeblendet); und in der EKD ist eine "wertschätzende" Haltung gegenüber "sexueller Vielfalt" schon lange Mainstream. Selbst die inkriminierten Äußerungen des Pastor Cochlovius kann man im Grunde nur als moderat bezeichnen - schließlich sprach er ausdrücklich von solchen Homosexuellen, die unter ihrer Veranlagung leiden und Hilfe suchen.

Und in zwei der drei Fälle zeigte der mediale Druck ja auch umgehend Wirkung. Bischof Fürsts Stellungnahme zur Causa Kaufmann fiel butterweich aus - und wurde auch so verstanden: "Versöhnliche Töne zur Segnung von Schwulen" erkannten etwa die Stuttgarter Nachrichten in des Bischofs Beteuerung, die "Verweigerung eines gottesdientlichen Segens für gleichgeschlechtliche Partnerschaften" stelle "keine Herabwürdigung dieser Lebensform dar" und "jeder Lebensgemeinschaft, deren Zusammenleben auf christlichen Werten beruhe", stehe "Respekt und Anerkennung" zu. Darüber hinaus verwies Bischof Fürst in seiner Stellungnahme auf die kommende "Bischofssynode in Rom" und erklärte es für "derzeit offen", ob "eine kirchliche Segnung homosexueller Paare künftig möglich" sein werde.

Dem Portal queer.de - das man mit einigem Recht als das kreuz.net der LGBT-Szene bezeichnen kann - war das freilich noch nicht genug: Als nur "vermeintlich versöhnlich" bewertete man Bischof Fürsts Aussagen dort, und ein Kommentator des Artikels bot eine freie Übersetzung der bischöflichen Stellungnahme an:
"wenn ihr lieb seid und keine übertriebenen forderungen stellt (z.b. wie richtige menschen behandelt zu werden), dann denken wir uns vielleicht, später, irgendwann, eventuell, möglicherweise mal irgendeinen minderwertigen firlefanz für euch aus." 
(Man fragt sich hier ein bisschen, warum Menschen eigentlich so verbissen darum kämpfen, dass die Kirche sie anerkennen solle, wenn sie die Kirche so sehr verachten. Aber das nur am Rande.)

Auf evangelischer Seite überschlug man sich erwartungsgemäß noch deutlich mehr, um jeglichen Verdacht auf Homophobie von sich abzuschütteln. In Oma Maries Heimatgemeinde St. Godehardi Bad Nenndorf trat am 15. April der Kirchenvorstand zusammen und verabschiedete einstimmig eine Resolution, in der er erklärte, Pastor Cochlovius' Aussage, "ausgelebte Homosexualität" sei "Sünde", "mit Entsetzen zur Kennntnis genommen" zu haben. "Homosexualität ist nach unserem Verständnis keine Sünde. Sie ist ein Teil der Vielfalt der Schöpfung und kann und darf gelebt werden." Das Portal evangelisch.de veröffentlichte unter dem Motto "Komm zurück, Oma Marie!" einen offenen Brief an die streitbare Seniorin, in dem es u.a. hieß: "Wir teilen Ihre Meinung, dass Homosexualität weder eine Sünde noch eine Krankheit ist, die man heilen sollte. Darum begrüßen wir es, dass Sie sich klar und eindeutig hinter Ihre schwulen Enkel stellen. Das erwarten wir von jedem, der den christlichen Glauben und das Vorbild Jesu ernst nimmt." Zudem erschien auf evangelisch.de ein Leitartikel mit dem Titel "Oma Marie, wir brauchen dich!". Und schließlich schrieb auch noch der zuständige - Hannoveranische - Landesbischof Ralf Meister einen offenen Brief an Oma Marie, in dem auch er betonte: "Homosexualität ist aus Sicht der Landeskirche weder Sünde noch muss sie geheilt werden". Trotz dieser klaren inhaltlichen Positionierung trug es Landesbischof Meister schließlich sogar noch Kritik ein, dass er "anderen Meinungen eine Daseinsberechtigung zuspricht", indem er anmerkte, man müsse "akzeptieren, dass einzelne Pastorinnen und Pastoren die Bibel anders interpretieren und deshalb zur Homosexualität eine andere Meinung haben", und damit den inkriminierten Pastor Cochlovius implizit in Schutz nahm.

(Bei alledem beachte man, dass im Jahr 2012 - für 2013 und 2014 liegen mir noch keine Zahlen vor - stolze 138.195 Personen aus der EKD ausgetreten sind. Man kann wohl davon ausgehen, dass die meisten von ihnen keinen Brief geschrieben haben, um die Gründe für ihren Austritt ausführlich darzulegen; einige aber ganz sicher. Hat auch nur eine einzige dieser Austrittserklärungen ein annähernd so großes Echo gefunden wie die von "Oma Marie"? Offenbar nicht. Was für eine erbärmliche Feigheit.)

Nun aber mal Butter bei die Fische: Wie homophob ist oder sind die Kirche(n) denn nun wirklich? Oder, anders gefragt - da ich den Begriff "Homophobie" (aus Gründen, die ich auf Nachfrage gern erläutere) eigentlich von vornherein blödsinnig finde -: Was sagt die kirchliche Lehre denn nun wirklich zum Thema Homosexualität? -- Nun, auf evangelischer Seite ergibt sich da, wie man wohl schon gesehen hat, ein ziemlich wirres Bild; aber die Katholische Kirche hat ja glücklicherweise ein verbindliches Lehramt. Mithin kann da ein Blick in den Katechismus Klarheit schaffen; fündig wird man in den Artikeln 2357-2359. Hier ist zunächst einmal zu konstatieren, dass der Katechismus strikt zwischen der Beurteilung homosexuell empfindender Menschen und der Beurteilung homosexueller Handlungen unterscheidet. Für erstere findet Art. 2358 ausgesprochen freundliche Worte: Homosexuell empfindenden Menschen sei
"mit Achtung, Mitleid und Takt zu begegnen. Man hüte sich, sie in irgend einer Weise ungerecht zurückzusetzen. Auch diese Menschen sind berufen, in ihrem Leben den Willen Gottes zu erfüllen". 
Hingegen zitiert Art. 2357 in Hinblick auf homosexuelle Handlungen die Erklärung Persona humana der Kongregation für die Glaubenslehre von 1975, in der es heißt, dass
"die homosexuellen Handlungen in sich nicht in Ordnung sind und keinesfalls in irgendeiner Weise gutgeheißen werden können".
Weiterhin weist der Katechismus darauf hin, dass auch die Bibel homosexuelle Praktiken "als schlimme Abirrung bezeichnet", und führt als Belege die Schriftstellen Genesis 19,1-21, Römer 1,24-27, 1. Korinther 6,10 und 1. Timotheus 1,10 an. Man könnte meinen, an diesen Bibelstellen kämen die evangelischen Kirchen mit ihrem Grundsatz sola scriptura auch bzw. erst recht nicht vorbei; und tatsächlich sehen das ja, wie Landesbischof Meister sich ausdrückt, "einzelne Pastorinnen und Pastoren", darunter Gero Cochlovius aus Hohnhorst bei Hannover, genau so. Andere hingegen, wie etwa der badische Landesbischof Jochen Cornelius-Bundschuh, schlagen abenteuerliche argumentative Salti, um aus der Bibel das herauslesen zu können, von dem sie gerne hätten, dass es drin stünde - nämlich die "Anerkennung sexueller Vielfalt".

Aber bleiben wir erst einmal bei der Katholischen Kirche. Wertschätzung für homosexuell empfindende Menschen mit der Ablehnung homosexueller Handlungen unter einen Hut zu bringen, mag in der Praxis ein ganz schöner Spagat sein, aber es hat ja auch nie jemand behauptet, dass Christsein einfach wäre. Jedenfalls lässt sich aus den oben zitierten Passagen des Katechismus unschwer begreiflich machen, dass die Katholische Kirche zwar homosexuell empfindenden Menschen einen persönlichen Segen spenden kann, nicht aber eine homosexuelle Lebenspartnerschaft segnen. Es wäre schlichtweg nicht ehrlich. Denn es würde ja bedeuten, eine Beziehung unter den Schutz Gottes zu stellen, von der man gleichzeitig überzeugt ist, dass sie Gottes Willen widerspricht. Dasselbe gilt auch für andere Beziehungsformen, die laut kirchlicher Lehre irregulär und darum abzulehnen sind: polygame Beziehungen, inzestuöse Beziehungen, ja letztlich alle nicht-ehelichen Lebensgemeinschaften - und nicht zuletzt Wiederverheiratungen von zivilrechtlich Geschiedenen. Um es sicherheitshalber noch einmal zu betonen: Es geht nicht darum, den Menschen, die in solchen Beziehungen leben, Wertschätzung und Achtung zu verweigern oder ihnen die Kirchentür vor der Nase zuzuschlagen. Aber den Beziehungen als solchen kann die Kirche ihren Segen nicht geben.

Für Homosexuelle, die gleichzeitig gläubige Katholiken sind, ergibt sich nun natürlich die Schwierigkeit, dass es für sie, anders als für Heterosexuelle, schlechterdings keine Möglichkeit gibt, ihre Sexualität auf eine Weise auszuleben, die von der Kirche gutgeheißen würde. Das kann man ungerecht finden oder sogar "menschenverachtend", besonders wenn man jenem Dogma der modernen Gesellschaft anhängt, demzufolge ein leben ohne Sex nicht lebenswert sei. Prinzipiell steht es natürlich Jedem frei, der Meinung zu sein, die Kirche habe hier einfach Unrecht, aber für gläubige Katholiken ergibt sich ein Dilemma, wenn sie im Credo bekennen "Ich glaube an... die heilige Katholische Kirche" und im Stillen hinzufügen "aber in diesem und jenem und dann vielleicht noch in soundsoviel anderen Punkten finde ich trotzdem falsch, was sie lehrt". Dieses Dilemma jedoch auflösen zu wollen, indem man von der Kirche fordert, sie solle ihre Lehre an das anpassen, was man selber für richtig hält, ist dann wohl doch ein wenig kindisch. Wenn nicht Schlimmeres.

In der öffentlichen Diskussion begnügt man sich jedoch schon lange nicht mehr damit, einfach anderer Meinung zu sein als die Kirche; nein, im Grunde möchte man der Kirche am liebsten das Recht absprechen, sich überhaupt zu ethischen Fragen zu äußern. Den Menschen vorschreiben zu wollen, was moralisch richtig oder falsch sei, das sei anmaßend, wenn nicht (Achtung, jetzt wird's bizarr) sogar "unchristlich". Solche Auffassungen finden sich zunehmend sogar innerhalb der Kirche(n) - so etwa bei dem oben erwähnten badischen Landesbischof Cornelius-Bundschuh, der jüngst erklärte, "die Kirche" habe "nicht zu sagen, welche Form von Sexualität gut oder schlecht sei". Derweil gab im "Kirchenblog" der Stuttgarter Nachrichten der Journalist und promovierte Theologe Markus Brauer ein in seiner Radikalität frappierendes Bekenntnis zum moralischen Relativismus ab:
"Tatsächlich verstößt hier niemand gegen göttliche Gebote - allenfalls gegen menschliche Gesetze und Moralvorstellungen. Moral ist nichts anderes als die subjektive Neigung, bestimmte Maximen und Normen, die man als richtig erkannt hat, zu befolgen. Auch wenn diese Normen als objektiv oder göttlich offenbarte Wahrheit " gelten, sind sie doch nichts anderes als Handlungsmuster und Konventionen". 
Wenn "Oma Marie" in ihrer berühmt gewordenen Austrittserklärung schreibt, es sei "unverantwortlich", "Homosexuelle als Sünder zu bezeichnen", spricht sie, wie die Reaktionen zeigen, offenbar vielen Menschen aus der Seele. Und dabei geht es nicht nur um das Thema Homosexualität - sondern viel allgemeiner darum, die Begriffe "Sünde" und "Sünder" aus dem Diskurs zu verbannen. Von Sünde und Sündern zu sprechen, gilt als "unbarmherzig" - ein logischer Fehler, denn Barmherzigkeit setzt  das Vorhandensein von Sünde voraus. Sonst wäre sie ja unnötig.

Für die Verkündigung des Glaubens in der säkularisierten Gesellschaft stellt diese verbreitete Weigerung, sich mit dem Begriff "Sünde" auseinanderzusetzen, geschweige denn, ihn auf sich selbst bzw. sein eigenes Handeln zu beziehen, ein schwerwiegendes Problem dar. Die Menschen wollen, im wahrsten Sinne des Wortes, von Sünde nichts wissen. Sie haben nur die diffuse Ahnung, dass Sünde etwas sei, wofür man in die Hölle kommt. Da wollen sie natürlich nicht hin, deshalb kommt es gar nicht in Frage, sich selbst als Sünder zu betrachten oder bezeichnen zu lassen. Vielfach scheint es, dass sich die Kirchen tatsächlich kaum noch trauen, von Sünde zu sprechen, um die Leute nur ja nicht vor den Kopf zu stoßen.

Aber natürlich ist das keine Lösung. Im Gegenteil, die Kirche(n) sollte(n) nicht weniger, sondern eher mehr über Sünde sprechen. Zum Beispiel darüber, dass der Begriff Sünde zunächst einmal eine Störung des Verhältnisses zwischen Mensch und Gott bezeichnet. Einerseits verursacht der einzelne Mensch diese Störung selbst, wenn er entgegen dem Willen Gottes handelt; andererseits ist der Mensch aber eben nicht nur ein Einzelner, sondern lebt in einem vielfältigen Beziehungsgeflecht und ist damit mehr oder minder zwangsläufig in Sünde verstrickt - ja, er wird sogar in diesen unheilen Zustand hineingeboren, weshalb die Katholische Kirche von Erbsünde spricht. Sünde ist also ein Thema, das uns alle betrifft, nicht nur bestimmte Personengruppen (wie z.B. Homosexuelle). Deshalb ist es auch keine Hetze, Schmähung oder Herabwürdigung, jemanden als Sünder zu bezeichnen, sondern lediglich die Beschreibung einer anthropologischen Realität. Der gern und oft zitierte Ausspruch Jesu "Wer ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein" (Johannes 8,7) macht es sehr deutlich: Das Bewusstsein der eigenen Sünde kann bzw. sollte den Menschen davon abhalten, andere Sünder zu verdammen; aber das bedeutet gerade nicht, Sünde nicht als Sünde zu benennen. Im Gegenteil. Man kann sagen, die Weigerung, sich selbst als Sünder zu erkennen und zu bekennen - zu meinen, man habe keine Umkehr und keine Vergebung nötig, weil man so, wie man sei, schon okay sei - sei die denkbar unchristlichste Haltung, die ein Mensch einnehmen kann; er verschließt sich damit der Gnade Gottes, die ihn heil machen will. Im Gleichnis vom verlorenen Schaf sagt Jesus Christus, im Himmel werde "mehr Freude herrschen über einen einzigen Sünder, der umkehrt, als über neunundneunzig Gerechte, die es nicht nötig haben umzukehren" (Lukas 15,7); über Diejenigen jedoch, die meinen, sie hätten es nicht nötig, umzukehren, dürfte im Himmel am wenigsten Freude herrschen...


Dienstag, 21. April 2015

Und die Pforten der Hölle sollen sie nicht überwältigen

Es ist vielleicht gar kein so origineller Gedanke, aber die Evangelientexte der Karwoche und dann die Lesungen aus der Apostelgeschichte in der Osteroktav haben mich veranlasst, darüber zu sinnieren, dass die Geschichte des Christentums aus nicht-gläubiger Sicht doch eigentlich ziemlich unbegreiflich erscheinen muss. Wie kann es sein, dass aus einer kleinen Gruppe von Juden, die in einem gewissen Jesus aus Nazaret den von ihrem Volk sehnsüchtig erwarteten Messias erkannt zu haben glaubten, die größte Religionsgemeinschaft der Welt werden konnte, der heute, fast 2000 Jahre nach ihrer Entstehung, über zwei Milliarden Menschen auf der ganzen Welt angehören?

Es ist kennzeichnend für den christlichen Glauben, dass er nicht in erster Linie ein weltanschauliches System oder ein ethisches Programm ist, sondern zuallererst der Glaube an eine konkrete Person: Jesus Christus. Weitergabe des Glaubens bedeutete daher für die ersten Christen nicht zuletzt Weitergabe der Erinnerung an das Leben und Wirken Jesu. Über die genaue Entstehungszeit der Schriften des Neuen Testaments gibt es in der Forschung zwar z.T. recht unterschiedliche Einschätzungen, aber man kann wohl mit einiger Gewissheit davon ausgehen, dass ein bedeutender Teil dieser Texte bereits innerhalb von 20 bis 40 Jahren nach dem Tod Jesu entstanden ist. Das bedeutet - man halte sich fest! -, dass es nur wenige Persönlichkeiten der Antike gibt, über deren Leben und Wirken wir so umfangreiche und so zeitnahe Quellen besitzen, wie es ausgerechnet bei diesem Jesus aus Nazaret der Fall ist.

Als Argument gegen die historische Glaubwürdigkeit der neutestamentarischen Texte wird immer wieder gern angeführt, sie enthielten schließlich Glaubensaussagen. Das ist einerseits zweifellos richtig, aber andererseits erheben die Evangelien und die Apostelgeschichte auch immer wieder sehr betont den Anspruch auf faktische Wahrheit des Geschilderten; es werden Augenzeugen benannt, Orts- und Zeitangaben sind z.T. so präzise, dass sie zumindest für Zeitgenossen unschwer überprüfbar gewesen sein müssten.

Den Versuch, Glaubensaussagen und historische Tatsachenberichte in den Texten des Neuen Testaments auseinanderzudröseln und so hinter dem "Christus des Glaubens" einen "historischen Jesus" sichtbar zu machen, hat zwar schon Albert Schweitzer in seiner Geschichte der Leben-Jesu-Forschung (1906) für gescheitert erklärt, aber natürlich wird dieser Versuch trotzdem immer wieder gern unternommen. Was also bleibt, abzüglich aller offenkundigen Glaubensaussagen, übrig von diesem Jesus aus Nazaret?
-- Ein Zimmermann aus Galiläa, der in einer notorischen Unruheprovinz am Rande des Römischen Imperiums ein paar Jahre lang als Wanderprediger mit messianischem Anspruch umherzog und schließlich als Verbrecher hingerichtet wurde. Mit seinem Tod am Kreuz hätte die Geschichte des Christentums eigentlich schon wieder vorbei sein können. Tatsächlich ging sie damit aber erst an.

Warum?
Weil sich unter den Anhängern Jesu - die seinen Tod zunächst zweifellos als Scheitern ihrer Hoffnungen betrachteten und auch um ihr eigenes Leben fürchteten - die Überzeugung durchsetzte, Jesus sei auferstanden und habe damit den Tod besiegt. Somit erschien die Kreuzigung nicht mehr als Niederlage, sondern vielmehr als Erfüllung der Prophezeiungen Jesajas vom leidenden Gottesknecht, der durch sein Leiden und seinen Tod das Volk erlöst. Und diesen Glauben begannen die Jünger furchtlos zu verkünden, nicht nur unter den Juden, sondern auch unter anderen Völkern. Sie setzten sich dabei massiven Anfeindungen aus, wurden ins Gefängnis geworfen und/oder getötet, aber trotz aller Widerstände verbreitete sich der Glaube an Jesus Christus innerhalb weniger Jahrzehnte über weite Teile des Römischen Reiches - und darüber hinaus, nach Armenien, nach Persien, ja bis nach Indien.

Im Römischen Reich konnten die christlichen Gemeinden schon bald nur noch aus der Illegalität heraus agieren. Zwar waren die Römer im Allgemeinen sehr tolerant gegenüber fremden Religionen - aber nur unter der Bedingung, dass deren Anhänger ihrerseits auch die römische Staatsreligion akzeptierten und sich am staatlichen Kultus beteiligten. Da Christen dies verweigerten, wurde das bloße Bekenntnis zum christlichen Glauben schon um die Wende zum 2. Jh. zu einem Staatsverbrechen erklärt, auf das die Todesstrafe stand. Namentlich unter den Kaisern Decius (249-251), Valerian (253-260) und Diokletian (303-311) kam es zu massiven und systematischen staatlichen Christenverfolgungen, in deren Zuge zahllose Bekenner des christlichen Glaubens grausam gefoltert und hingerichtet wurden. Schon um das Jahr 200 schrieb der Apologet Tertullian:
"Wenn der Tiber bis in die Stadtmauern steigt, wenn der Nil nicht bis über die Feldfluren steigt, wenn die Witterung nicht umschlagen will, wenn die Erde bebt, wenn es eine Hungersnot, wenn es eine Seuche gibt, sogleich wird das Geschrei gehört: Die Christen vor die Löwen!"
Derselbe Tertullian prägte aber auch den Satz "Sanguis martyrum est semen christianorum" - "Das Blut der Märtyrer ist der Samen der Christen". Tatsächlich gelang es den Kaisern nämlich mit aller Gewalt nicht, die Ausbreitung des Christentums in ihrem Reich aufzuhalten; im Gegenteil, das Zeugnis von Menschen, die lieber ihr Leben ließen, als ihren Glauben zu verleugnen, machte die junge Kirche letztlich nur stärker. So stark, dass sich schließlich Kaiser Konstantin und seine Söhne und Nachfolger selbst dieser noch kurz zuvor mit aller Gewalt unterdrückten Religion zuwandten. Im Jahr 313 wurde das Christentum im Römischen Reich durch die Mailänder Vereinbarung, die allgemeine Religionsfreiheit versprach, legalisiert; 380 erhob Kaiser Theodosius I. es gar zur Staatsreligion.

Halten wir das einmal fest: Innerhalb von rund 300 Jahren massiver Unterdrückung und Verfolgung war eine der diversen konkurrierenden Glaubensrichtungen des Judentums zur führenden Religion einen Weltreichs aufgestiegen. Alles nur, weil das kleine Häuflein der Anhänger eines schmählich hingerichteten Wanderpredigers sich eingebildet oder eingeredet hatte, ihr Herr und Meister sei auferstanden? Ich kann mir nicht helfen: Die Annahme, die - wenn man so will - "Erfolgsgeschichte" des Christentums in diesen ersten drei Jahrhunderten seines Bestehens basiere auf Irrtum oder Lüge, übersteigt mein Vorstellungsvermögen. Nicht von ungefähr erinnert in der Apostelgeschichte (5,34-39) der weise Gamaliel den Hohen Rat an andere messianische Bewegungen im Judentum, die nach dem Tod ihres jeweiligen Anführers zusammengebrochen waren, und erklärt mit Blick auf die Anhänger Jesu:
"Wenn dieses Vorhaben oder dieses Werk von Menschen stammt, wird es zerstört werden; stammt es aber von Gott, so könnt ihr sie nicht vernichten". 
Sicherlich kann man sagen, ab dem Zeitpunkt, an dem das Christentum im Römischen Reich Staatsreligion wurde, sei die weitere Ausbreitung des Christentums in Europa, Nordafrika und Vorderasien weit weniger erstaunlich als alles Vorangegangene. Dabei sollte man aber nicht übersehen, dass mit dem Wegfall staatlicher Repressionen auch neue Gefährdungen für die Kirche entstanden - etwa die Gefahr politischer Einflussnahme durch die Kaiser. Zudem musste sich der christliche Glaube gegen Häresien und Synkretismen wie den Arianismus und den Manichäismus behaupten. Und dann kam auch schon die Völkerwanderung und ließ das Römische Reich zusammenbrechen. Aber anders als frühere Staatsreligionen früherer Imperien überlebte das Christentum diesen Zusammenbruch, ja, es verbreitete sich nun sogar auch unter den Völkern, die in das Römische Reich einfielen.

Auch in späterer Zeit fehlte es in verschiedensten Teilen der Welt nicht an Versuchen, das Christentum zu unterdrücken, zurückzudrängen oder seine Ausübung zu unterbinden. Es ist auf lange Sicht niemandem gelungen, nicht den Jakobinern der Französischen Revolution, nicht den Nazis und auch nicht den Kommunisten. Von Napoléon Bonaparte ist die Anekdote überliefert, dass er im Jahre 1801, damals noch Erster Konsul der Französischen Republik, bei den Verhandlungen über ein Konkordat mit dem Heiligen Stuhl den Kardinalstaatssekretär Consalvi fragte: "Ist Ihnen klar, Eminenz, dass ich Ihre Kirche jederzeit zerstören kann?" Kardinal Consalvi antwortete trocken: "Das haben nicht einmal wir geschafft."

Und heute? Heute bekennt sich ungefähr ein Drittel der Weltbevölkerung zum Christentum; gleichzeitig werden Christen, global gesehen, stärker verfolgt als je zuvor. Durchschnittlich wird weltweit alle fünf Minuten ein Christ wegen seines Glaubens getötet. In den vom "Islamischen Staat" terrorisierten Gebieten des Irak, Syriens und Libyens, im Norden Nigerias, im Süden Somalias und angrenzenden Gebieten hat die Gewalt gegen Christen längst apokalyptische Ausmaße angenommen. Und trotzdem bleiben die davon betroffenen Christen in ihrem Glauben standhaft. Auch das muss aus nichtgläubiger Perspektive befremdlich erscheinen: Wie kann es sein, dass Menschen, die so viel Leid erdulden müssen, nicht an ihrem Glauben (ver)zweifeln? -- Christen jedoch wissen, dass dieses Leid ihnen vorausgesagt wurde. dass es so zu sagen in den Allgemeinen Geschäftsbedingungen steht, die sie unterschrieben haben. In der Bergpredigt, wohl einem der bekanntesten Abschnitte des Neuen Testaments, heißt es:
"Selig seid ihr, wenn ihr um meinetwillen beschimpft und verfolgt und auf alle mögliche Weise verleumdet werdet. Freut euch und jubelt: Euer Lohn im Himmel wird groß sein. Denn so wurden schon vor euch die Propheten verfolgt." (Matthäus 5,11f.) 
Und an anderer Stelle sagt Jesus Christus:
"Wenn die Welt euch hasst, dann wisst, dass sie mich schon vor euch gehasst hat. Wenn ihr von der Welt stammen würdet, würde die Welt euch als ihr Eigentum lieben. Aber weil ihr nicht von der Welt stammt, sondern weil ich euch aus der Welt erwählt habe, darum hasst euch die Welt." (Johannes 15,18f.) 
Schwach und kränklich wirkt die Kirche vielmehr dort, wo sie nicht verfolgt wird. Wo sie es sich in der Welt bequem eingerichtet hat und es vermeidet, anzuecken. Da verliert sie jährlich Hunderttausende Mitglieder, da verliert sie an Ansehen und Einfluss oder, wie es im Pastoral-Neusprech heißt, an "gesellschaftlicher Relevanz", da wird sie womöglich nur deshalb nur vergleichsweise wenig angefeindet, weil sie als Gegnerin nicht ernst genommen wird. Eingefleischte Atheisten und Anhänger eines "evolutionären Humanismus" warten daher schon lange darauf, dass das Christentum, wenn schon nicht weltweit, so doch zumindest hierzulande in absehbarer Zeit sang- und klanglos verschwindet. Spätestens in 30 Jahren soll es soweit sein, wobei ich glaube, dass man das vor 30 Jahren auch schon gesagt hat. Solche Prognosen sind einerseits nur allzu leicht als Wunschdenken durchschaubar, andererseits kranken sie daran, dass ihnen das Verständnis für die enorme, im wahrsten Sinne des Wortes übermenschliche Kraft fehlt, die aus dem Glauben an Jesus Christus fließt. Und wie die Geschichte lehrt, macht sich diese Kraft immer besonders dann  geltend, wenn es nach weltlichen Maßstäben ausgesprochen schlecht um das Christentum steht. Die Gemeinschaft der Gläubigen mag - hierzulande und an anderen Orten - kleiner werden, ärmer und gesellschaftlich isolierter; aber untergehen wird sie nicht. Das lehrt, wie oben ausgeführt, schon die historische Erfahrung; aber mehr noch als auf alles menschliche Wissen können Christen auf die Zusage Jesu Christi an Petrus bauen, die ich hier ausnahmsweise einmal in der kernigen Sprache Martin Luthers zitieren möchte:
"Du bist Petrus, und auf diesem Felsen will ich meine Gemeinde bauen, und die Pforten der Hölle sollen sie nicht überwältigen." (Matthäus 16,18) 

Montag, 20. April 2015

Erstkommunion - und andere Neuigkeiten aus St. Willehad

Wie regelmäßige Leser meines Blogs wissen werden, hat mein Interesse bzw. meine Anteilnahme am Wohl und Wehe der katholischen Kirchengemeinde meines Heimatortes in jüngster Zeit erheblich zugenommen. Ich wohne zwar schon seit über 18 Jahren nicht mehr dort und war in den letzten Jahren immer nur für ein paar Tage über Weihnachten am Ort; aber Heimat bleibt eben Heimat, und die liegt in erster Linie im Herzen. Natürlich hat mein neu erwachtes Interesse auch nicht zuletzt damit zu tun, dass "da oben", seit die beiden langjährigen Ortspfarrer in den verdienten Ruhestand verabschiedet worden sind, so Einiges in Bewegung geraten zu sein scheint - nachdem ich lange Zeit, unterschwellig zumindest, davon ausgegangen war, "da oben" würde sich nie irgend etwas ändern. Wenigstens nicht zum Besseren. 

Nachdem die letzten Neuigkeiten aus der Pfarrei St. Willehad, von denen ich Kenntnis erhalten hatte, doch recht dramatisch daherkamen, freue ich mich umso mehr, heute Erfreulicheres zu Protokoll geben zu können. -- Zunächst einmal: In Nordenham war an diesem Sonntag Erstkommunion. Mit sage und schreibe 30 Kindern. Acht weitere Kinder feiern ihre erste Heilige Kommunion am nächsten Sonntag in der Filialkirche Herz Mariae in Burhave. 38 Erstkommunionkinder in einer Pfarrei mit gerade mal 3.400 Katholiken, das scheint mir ein ziemlich beachtliches Zahlenverhältnis. Es liegt signifikant über dem Bundesdurchschnitt, und erst recht über den Zahlen, die mir aus Berlin-Neukölln bekannt sind. Vielleicht - das kann ich nicht einschätzen - handelte es sich um einen bei den örtlichen Katholiken besonders "geburtenstarken Jahrgang", aber wie dem auch sei, ein erfreuliches Bild geben die Nordenhamer Erstkommunionkinder allemal ab

-- An dieser Stelle einige weiterführende Gedanken: Im von der Deutschen Bischofskonferenz herausgegebenen Dossier "Katholische Kirche in Deutschland - Zahlen und Fakten 2013/14" erfährt man auf S. 14f., dass "[k]atholisch getaufte Kinder [...] laut Statistik fast ausnahmslos zur Erstkommunion" gehen. Weiter heißt es, dass sich statistisch gesehen "sieben von zehn zur Erstkommunion geführten Kindern" vier bis sechs Jahre später firmen lassen. Man könnte diesen Sachverhalt auch anders ausdrücken: In den vier bis sechs Jahren zwischen Erstkommunion und Firmung gehen der Kirche 30% ihres Nachwuchses verloren. Nicht selten hört und liest man Klagen darüber, dass für viele Kinder die Erstkommunion zugleich die "Letztkommunion" sei. Man muss sich die Frage stellen, woran das liegt bzw. was man dagegen tun könnte. Einen Fingerzeig gibt da bereits das zitierte DBK-Dossier selbst: "Dieses Fest hat für die meisten Kinder eine besondere Bedeutung, mit seiner Vorbereitungszeit, der eigentlichen Feier und Gästen". Nun möchte man den Kindern, ihren Eltern und den Gästen dieses schöne Fest natürlich gern gönnen, ja, mehr noch: Es ist durchaus richtig und angemessen, die Erstkommunion zum Anlass für ein großes und fröhliches Fest zu nehmen. Nur sollte dieses Fest nicht der eigentliche Zweck der Übung sein - ebenso wie z.B. eine schöne Hochzeitsfeier nicht der Grund dafür sein sollte, dass man heiratet. Dies deutlich zu machen und - bei den Kindern selbst wie auch bei deren Angehörigen - ein Verständnis für die Eucharistie als "Quelle und Höhepunkt des ganzen christlichen Lebens" - wie es im Katechismus der Katholischen Kirche, Artikel 1324, heißt - zu schaffen, ist eine zentrale Herausforderung an die Erstkommunion-Vorbereitung. 

Wie man der Nordwest-Zeitung entnehmen kann, begannen die Vorbereitungen auf die diesjährige Erstkommunion in St. Willehad im letzten November, geleitet von Diakon Christoph Richter und acht Katechetinnen in fünf Gruppen. Zur Verwendung kam dabei das Buch "Gott mit neuen Augen sehen. Wege zur Erstkommunion" von Albert Biesinger u.a.; das Buch kenne ich zwar nicht, habe aber ein interessantes Interview mit dem Hauptautor Biesinger gelesen, in dem dieser sein Konzept von Erstkommunion-Vorbereitung als Familienkatechese erläutert. Der Religionspädagoge und ständige Diakon hebt die Problematik der "Glaubensweitergabe in der Familie" hervor und wirft die Frage auf, "wie die nachwachsende Elterngeneration überhaupt noch motivierbar ist und lernt, ihre Kinder religiös zu erziehen". 
- Diese Fragestellung erscheint in der Tat ausgesprochen wesentlich. Erst gestern kam mir ein Artikel der Berner Zeitung mit dem Titel "Das Problem der Kirche beginnt in den Familien" zu Gesicht, in dem die Religionspädagogik-Professorin Isabelle Noth einen in den Familien um sich greifenden "christlichen Analphabetismus" beklagt. Frau Prof. Noth widerspricht darin auch der verbreiteten Auffassung, die Vermittlung religiöser Inhalte an Kinder sei "Propaganda, der die Eltern ihre Kinder nicht aussetzen" sollten, und betont: "Wer den Kindern den Glauben und die religiösen Traditionen seiner Familie nicht näherbringt, enthält ihnen etwas Wichtiges im Leben vor". Der Forderung, man solle lieber "den Nachwuchs später selber über die Kirchenzugehörigkeit entscheiden [...] lassen", hält sie den Einwand entgegen: "Wie soll ein junger Erwachsener etwas beurteilen, das er gar nicht kennt?" Wohl wahr - wie aber sollen dann Eltern ihren Kindern etwas vermitteln, was sie selbst nur unzureichend kennen? (Darüber, was dabei herauskommen kann, wenn Kinder nicht-religiöser Eltern im - katholischen - Kindergarten mit religiösen Inhalten konfrontiert werden, war jüngst bei Alipius etwas zu lesen.
Prof. Biesinger betont nun, Eltern seien "sehr wohl in der Lage, ihr Kind religiös zu begleiten, wenn sie selbst entsprechend begleitet werden". Erstkommunionvorbereitung als Familienkatechese, das bedeutet demnach, Eltern in die Glaubensunterweisung ihrer Kinder einzubinden und dadurch gleichzeitig auch zu motivieren, "sich selbst mit dem Glauben vertieft zu beschäftigen". Ein durchaus vielversprechendes Konzept. 

Nicht unerwähnt lassen möchte ich, dass der "Arbeitskreis Theologie und Katechese" in seiner Evaluation von Erstkommunions-Vorbereitungsbüchern Biesingers oben genanntes Buch "[t]rotz einiger guter Einzelinhalte negativ" bewertet. Die 24 Seiten umfassende Begründung dieses Urteils habe ich nicht zur Gänze gelesen, aber überflogen; die Kritikpunkte kann ich zum Teil nachvollziehen oder sogar unterschreiben, zum Teil finde ich sie - mit Verlaub gesagt - aber auch etwas kleinlich bzw. erbsenzählerisch, besonders wenn man bedenkt, dass man es in aller Regel mit Drittklässlern zu tun hat (und mit deren Eltern, bei denen man, wie oben angedeutet, davon ausgehen muss, dass es mit ihren theologischen Grundkenntnissen auch nicht unbedingt zum Besten steht). Da muss man erst einmal eine Sprache finden, die verstanden wird, auch wenn manche Formulierungen dogmatisch nicht ganz korrekt oder zumindest missverständlich sein mögen. Und letztlich kommt es ja immer noch darauf an, wie man mit dem Buch arbeitet. Der Ansatz, Erstkommunionvorbereitung als Familienkatechese zu verstehen und zu gestalten, wird jedenfalls auch vom "Arbeitskreis Theologie und Katechese" ausdrücklich gelobt. 

Wünschen wir den 38 diesjährigen Erstkommunionkindern aus Nordenham, Butjadingen und dem Stadland also alles Gute für ihren weiteren Glaubensweg und Gottes reichen Segen in allen Lebenslagen - und schauen mal, was es in der Pfarrei St. Willehad sonst noch Neues gibt. Zum Beispiel hat die von 111 Kindern besuchte katholische Kindertagesstätte St. Willehad in Nordenham einen neuen Spielhügel in Gestalt einer Ritterburg. Er wurde am Freitag mit einem "kirchlichen Segen von Pfarrer Torsten Jortzick und Diakon Christoph Richter" eingeweiht. Die vorherige Anlage war nach 30 Jahren komplett erneuerungsbedürftig. Und wer gern in geharnischtem Ton über die Finanzierung kirchlicher Einrichtungen debattiert, dem sei verraten, dass die Kosten in Höhe von rund 53.000 Euro zu zwei Dritteln von der Stadt Nordenham und zu einem Drittel von der Pfarrei getragen wurden. There you go. (Im Laufe des Jahres steht noch die Erneuerung der Waschräume an, die wird erheblich teurer. Wird dafür aber auch komplett von der Stadt bezahlt.) 

Und dann habe ich der Pfarrei St. Willehad neulich eine Mail geschrieben, mit dem Angebot, ich würde gern mithelfen, die Pfarrei im Internet präsenter zu machen. Zum Beispiel durch Einrichtung und Betreuung einer Facebook-Seite. Am Samstag schrieb mir Diakon Richter dann sehr nett zurück: Tatsächlich sei das alles schon in Arbeit. Und richtig, noch am selben Abend ging die Facebook-Seite "Katholische Kirchengemeinde St. Willehad Nordenham-Butjadingen-Stadland" online. Habe ich gleich mal mit "gefällt mir" markiert und auch unter meinen Facebook-Kontakten kräftig die Werbetrommel gerührt. Schon ein paar Tage länger gibt es die Facebook-Seite "Willi's - Die Urlauberkirche in Butjadingen". Ein Projekt zur Urlauberpastoral auf dem Campingplatz. Aktuell sucht die Urlauberkirche Gruppenleiter für die Sommersaison

Es bleibt also spannend in der alten Heimat. Ich bleibe dran und werde weiter berichten...! 


Sonntag, 12. April 2015

I've seen the Future, Baby

Wenn man seinen Samstagsnachmittagskaffee in einem Lokal trinkt, in dem – weil die Tresenschicht es nun einmal so will – die ganze Zeit Die Toten Hosen gespielt werden, dann fällt einem irgendwann auf, dass sich hinter der rebellischen Attitüde der Düsseldorfer Alt-Punks ein gerüttelt Maß an Spießertum verbirgt. Aber darüber wollte ich eigentlich gar nicht schreiben. Na, halten wir den Gedanken ruhig trotzdem fest – vielleicht brauchen wir ihn noch für später.

Das Lokal, in dem ich meinen Kaffee trank, ist nicht allzu weit entfernt vom Kollwitzplatz, dem sprichwörtlichen Epizentrum der Gentrifizierung, wo das Sinus-Milieu der Performer seinen mehr oder minder wohlgeratenen Nachwuchs ausführt, während es gleichzeitig per Smartphone und Tablet an der Übernahme der Weltherrschaft arbeitet, zumindest der ökonomischen. Von diesem Milieu grenzt sich die besagte Kneipe allerdings vehement ab – so vehement, dass ein Spruchband über dem Tresen barsch verkündet: „Kein Beck's, kein Latte, kein Bullshit“. Deshalb gehe ich da auch so gerne hin, Punk-Spießigkeit hin oder her. Außerdem ist der Kaffee gut und billig.

Das alles hat, zugegebenermaßen, immer noch nur sehr indirekt mit dem Thema zu tun, über das ich hier eigentlich schreiben will, aber als atmosphärische Einstimmung finde ich es irgendwie doch ganz stimmig. – Zur Sache: Unlängst erschien im Magazin futur2 – Zeitschrift für Strategie & Entwicklung in Gesellschaft und Kirche ein Beitrag mit dem Titel „Eine Zukunftsvision für die Kirche“, verfasst von Monsignore Klaus Pfeffer, dem Generalvikar des Bistums Essen, das den Artikel auch auf seiner Facebook-Seite bewarb. Die Resonanz war groß – und kontrovers: Bei den Einen löste dieses Zukunftsbild begeisterte Zustimmung aus, bei den Anderen nacktes Entsetzen. Beides ist kein Wunder, denn der Essener Generalvikar entwirft das Bild einer Kirche, die maßgeschneidert scheint für die Bedürfnisse und Vorlieben der Kollwitzplatz-Soja-Latte-Fraktion. Einer Kirche, in der Christen „interessante Leute“ sind, „achtsam und feinfühlig“, „untereinander gut vernetzt“, „mit einer hohen fachlichen Kompetenz“, „sympathisch“, kurz gesagt: zum Kotzen. Wie Bloggerkollege Cicero in seiner pointierten Analyse des Artikels feststellt, ist die Kirche, von der Pfeffer träumt, „eine Kirche der Reichen, der Erfolgreichen, der Jungen und der Schönen“, „eine gnostische Gemeinschaft der gut Ausgebildeten“, „durchdrungen vom Positiven Denken“. So furchtbar originell ist diese Vision freilich nicht: In den Pastoralplänen der deutschen Bistümer stehen die Sinus-Milieus geradezu im Range eines Dogmas; und es gilt als ausgemacht, dass das attraktive Sinus-Milieu der Performer für die Mitarbeit in Pfarreien herkömmlicher Art nicht zu begeistern sei. Also braucht man neue Formen, die gezielt diese Zielgruppe ansprechen. Schließlich hat diese Zielgruppe dank ihrer guten Ausbildung und ihres strikten Leistungswillens in der Regel ein gutes Einkommen und generiert somit viel Kirchensteuer. „Das ist die Kirche, die sich die Consultants vorstellen“, urteilt Cicero. „Das sind die Phantasien, die unter Einfluß der Consultants in den Ordinariaten zum Teil längst die Gestalt von konkreten Plänen angenommen haben.“

Und es sind schon heute nicht mehr nur Pläne. In Aachen zum Beispiel gibt es das Zeitfenster, „ein vom Bistum Aachen gefördertes Projekt, mit dem wir herausfinden wollen, wie Kirche in Zukunft aussehen kann“. Bei diesem Projekt handelt es sich um „eine neue Gemeinde in der Pfarre Franziska von Aachen“ für „moderne Erwachsene mit und ohne Kinder in der Aachener City“, die „einen Raum für die eigene Spiritualität“ suchen. An jedem zweiten Freitag im Monat gibt es da einen „besonderen Gottesdienst“ - „mit Energie, Herzblut und unter Einbeziehung vieler entwickelt: Ein Gottesdienst, der ins Heute passt und berührt.“ Zeitfenster verspricht den „perfekten Einstieg ins Wochenende für Erwachsene mit Lust auf Nahrung für Herz und Hirn“: „gute Musik, entspannte Leute, normale Sprache“. Oder was man so für normal hält. Die Website jedenfalls trieft von exakt demselben Lifestyle- und Wellness-Sprech, der auch das Zukunftsbild des Essener Generalvikars prägt. Da Aachen von Berlin aus nicht gerade um die Ecke ist, kenne ich die Zeitfenster-Gottesdienste nicht aus eigener Anschauung, aber ich habe mir kürzlich die Aufzeichnung einer Predigt von Annette Jantzen zum Thema „Erfolgreich scheitern“ angehört – oder anzuhören versucht. Nach einigen Minuten habe ich aufgegeben. Wenn so die Zukunft der Kirche aussieht (bzw. sich so anhört), dann wird sie wohl ohne mich stattfinden müssen.

Es besteht aber wohl doch eine gewisse Aussicht, dass es auch in Zukunft eine Kirche für Menschen geben wird, die nicht dem Milieu der Performer angehören und das womöglich auch gar nicht wollen – für total un-hippe Nicht-Yuppies, die keinen trendigen und gut bezahlten Job, keine Eigentumswohnung, keine Laktoseintoleranz und kein LinkedIn- oder Xing-Profil haben und die die Namen ihrer Kinder nicht aus dem Ikea-Katalog ausgesucht haben. Darüber, wie eine solche „Kirche der Zukunft“ aussehen könnte, liest man im Allgemeinen eher weniger, aber vielleicht kann auch hier die Gegenwart schon den einen oder anderen Fingerzeig geben – insbesondere die Gegenwart in solchen Gegenden, in denen die Kirche einen schweren Stand hat. Wie zum Beispiel Neukölln.

Gestern Abend war ich, nachdem ich mich an den Toten Hosen entschieden überhört hatte, zur Vorabendmesse in St. Clara in Nord-Neukölln. Nord-Neukölln, das ist Neukölln im engeren Sinne, der Ortsteil Neukölln im Bezirk Neukölln – das Neukölln, das, dem Titel eines populistischen Bestsellers zufolge, „überall“ ist. Folgerichtig lautet das Motto der drei katholischen Pfarreien dieses Stadtteils „Kirche im sozialen Brennpunkt“. – Ich gehe gern in St. Clara in die Messe, wenn auch nicht allzu oft, da einige andere Kirchengemeinden für mich leichter und schneller erreichbar sind; das Gebäude strahlt von außen wie von innen Würde und Feierlichkeit aus, Pfarrer Martin Kalinowski zelebriert tadellos und predigt gut, und Kaplan Johannes Schaan nicht minder. Als ich gestern dort war, erwarb ich kurz entschlossen für 50 Cent die aktuelle Ausgabe des gemeinsamen Pfarrbriefs der drei Nord-Neuköllner Pfarreien – neben St. Clara noch St. Christophorus und St. Richard. Das 56 Seiten starke Heft mit dem Titel Nordlicht erwies sich als interessante Lektüre. Unter anderem enthielt es statistische Angaben zur Mitgliederentwicklung der drei Pfarreien; und schon eine oberflächliche Analyse der Zahlen ließ einige Probleme erkennen. Die Kirchenaustrittszahlen der Jahre 2013 und 2014 im Verhältnis zur Gesamtzahl der in Nord-Neukölln ansässigen Katholiken liegen deutlich über dem Bundesdurchschnitt; auf der anderen Seite ist der Gottesdienstbesuch signifikant unterdurchschnittlich: Am Zählsonntag 2013 fanden gerade mal 3,8% der Nord-Neuköllner Katholiken den Weg in eine der sechs Kirchen und Kapellen des Stadtteils, am Zählsonntag 2014 waren es 3,4%. In St. Clara gab es in beiden Jahren mehr Beerdigungen als Taufen, 2013 war dies auch in St. Richard der Fall.

Trotz dieser schwierigen Lage entfalten die Pfarreien des Stadtteils eine beeindruckende Fülle an Aktivitäten, und zwar sowohl gottesdienstlicher als auch caritativer Art. An jedem Tag der Woche wird an mindestens einem der sechs Gottesdienststandorte die Heilige Messe gefeiert, sonntags sind es fünf Messen, freitags vier, mittwochs und donnerstags drei; je einmal wöchentlich gibt es Laudes und Vesper, zweimal wöchentlich Rosenkranzgebet, viermal wöchentlich ein Mittagsgebet. An vier Standorten gibt es feste wöchentliche Beichtgelegenheiten. - Jede der drei Pfarreien betreibt eine Kindertagesstätte, St. Richard zudem ein Seniorenheim mit einem Schwerpunkt auf Palliativpflege. St. Christophorus betreibt das „Pallotti-Mobil“, ein Nachbarschaftshilfeprojekt, bei dem Langzeitarbeitslose und/oder ehemalige Obdachlose die Wohnungen von Sozialhilfeempfängern oder unter dem Existenzminimum lebenden Mitmenschen renovieren, sowie ein Nachtcafé für Obdachlose; im Pfarrhaus von St. Clara gibt es eine Kleiderkammer, außerdem betreibt die Katholische Kirche Nord-Neukölln am zur Pfarrei St. Clara gehörenden Standort St. Eduard gemeinsam mit anderen Trägern die Bildungsstätte JACK für Migrantinnen und Flüchtlinge. Auch um den interreligiösen Dialog bemüht man sich – nicht unwichtig in einem Stadtteil, in dem es mehr Muslime als Katholiken gibt.

Das alles erfordert natürlich viel ehrenamtliches Engagement, aber auch Geld. Und das ist knapp. Man kann sagen, in Nord-Neukölln ist die von Papst Franziskus beschworene „arme Kirche für die Armen“ Realität. In St. Clara wird die Kollekte regelmäßig zur Deckung der Heizkosten herangezogen – eine Maßnahme, deren Berechtigung den Kirchenbesuchern besonders im Winter unmittelbar einleuchtet.

Katholisch sein in Nord-Neukölln ist nicht hip, cool und trendy. Die Menschen, die dort die Heilige Messe feiern und zur Beichte gehen, sind keine Lifestyle-Avantgardisten mit beeindruckendem persönlichem Portfolio. Aber beeindruckend ist es, was die „Kirche im sozialen Brennpunkt“ mit ihren begrenzten Mitteln so alles auf die Beine stellt – und der Pfarrbrief lässt keinen Zweifel daran, dass das vielfältige sozial-caritative Engagement der Gemeinden motiviert ist und getragen wird vom christlichen Glauben, das heißt: nicht von jener diffusen inneren Kraft, von der Monsignore Pfeffer in seiner Zukunftsvision sagt, dass seine interessanten, attraktiven Hipster-Christen sie Gott nennen, sondern vom Glauben an den ganz konkreten Jesus Christus, den Sohn Gottes, der Mensch geworden ist, gekreuzigt wurde und auferstanden ist. So heißt es auf S. 19 über das Nachtcafé für Obdachlose:
„Was Ihr dem Geringsten meiner Schwestern und Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“, sagt Jesus. „Jesus, dann sitzt Du im Nachtcafé also vor mir. [...]“

Interessant an den oben angesprochenen Statistiken der Jahre 2013 und 2014 ist auch, dass die Gesamtzahl der Katholiken in Nord-Neukölln trotz der relativ hohen Austrittszahlen einigermaßen konstant geblieben ist; die Pfarrei St. Richard ist sogar leicht gewachsen. Erklären lässt sich das nur durch Zuwanderung bzw. Zuzug von Katholiken. Das bedeutet, die Mitgliederstruktur der Pfarreien verändert sich. Der nordwestlichste, an Kreuzberg angrenzende Teil Neuköllns - „Reuterkiez“ oder neuerdings auch „Kreuzkölln“ genannt – entwickelt sich seit einigen Jahren zum Szeneviertel und ist daher zunehmend von Gentrifizierung betroffen; man darf also davon ausgehen, dass unter den hierher ziehenden Katholiken auch einige typische Performer sein mögen, aber die dürften in St. Christophorus, der nördlichsten der drei Pfarreien – wo PaterKalle Lenz SAC die Liturgie recht freihändig handhabt und seine Predigten im Stil einer Stand-up-Comedy gestaltet und wo das dienstags bis freitags um 12 Uhr stattfindende Mittagsgebet „High Noon“ heißt – recht gut aufgehoben sein. Insgesamt dürfte sich jedoch eine andere Entwicklungstendenz im sozialen Brennpunkt Neukölln erheblich stärker auf die Mitgliederstruktur der Kirchengemeinden auswirken: die Integration von Migranten und Flüchtlingen, für die sich die Neuköllner Pfarreien ja in besonderem Maße engagieren. Wie der Migrationsbericht 2013 des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge gezeigt hat, stammt der weit überwiegende Teil der Zuwanderer, die nach Deutschland kommen, aus christlich geprägten Ländern; viele sind katholisch, was gerade den ostdeutschen Diözesen signifikante Mitgliederzuwächse beschert. Diese Zuwanderer bringen ihre eigenen Traditionen, ihren eigenen Glaubenseifer, ihre eigenen Frömmigkeitsformen mit – und ihre eigene materielle Armut. Mögen hauptamtliche Pastoralstrategen noch so blumig von ihrer zukunftsorientierten Hipsterkirche träumen: Es scheint doch so Manches dafür zu sprechen, dass die Kirche der Zukunft in Deutschland eher weniger wohlhabend, weniger hedonistisch, weniger hip und cool sein wird – und weniger „typisch deutsch“. Mag der Caffè-Latte-Katholizismus sich einbilden, ihm gehöre die Zukunft; auf längere Sicht, das wage ich zu prognostizieren, hat er keine Zukunft.


Und das betrachte ich als eine ausgesprochen gute Nachricht. 


[P.S.: Die Überschrift dieses Artikels ist inspiriert von diesem Song von Leonard Cohen - auch enthalten auf dem Soundtrack des Films Natural Born Killers...]

Freitag, 10. April 2015

Was ist denn bloß in Nordenham los?

Ich weiß gar nicht so genau, was mich dazu veranlasst hat, heute mal mit Hilfe von "St. Internet" nachzuschauen, was es in meinem Heimatstädtchen, über das oder aus dem ich in diesem Blog sonst traditionell zur Weihnachtszeit berichte, kirchlicherseits so Neues gibt. Im Berliner Exil kriegt man davon ja sonst nichts mit, zumal wenn man im Alltag mit ganz anderen Dingen ausgelastet ist. -- Was ich aber heute bei meiner kleinen Internetrecherche in Erfahrung gebracht habe, hat mir gezeigt, dass ich wohl ganz gut daran täte, mich etwas regelmäßiger über die Geschehnisse in der Heimat auf dem Laufenden zu halten. Dann hätte ich den heutigen Blogbeitrag nämlich schon vor gut einem Monat schreiben können. 

In meinem letzten Weihnachtsbeitrag habe ich mich ausführlich über den neuen Gemeindepfarrer der Nordenhamer St.-Willehad-Pfarrei, Torsten Jortzick, geäußert - habe den ausgesprochen positiven Ersteindruck, den ich von ihm hatte, ebenso geschildert wie meine Enttäuschung darüber, dass er in liturgischer Hinsicht weitgehend in den ausgelatschten Mokassins seines Althippie-Vorgängers wandelte, und habe darüber spekuliert, ob dies womöglich der Rücksichtnahme auf eine Riege örtlicher Erzlaien geschuldet sei, die das nun mal so gewohnt sind und "dem Neuen" ganz schön das Leben schwer machen könnten, wenn er ihren Vorstellungen nicht entspräche. 

Und nun deuten neuere Entwicklungen darauf hin, dass das Tischtuch zwischen Pfarrer Jortzick und der Clique der Erzlaien gründlich zerschnitten ist. 

Mit Datum vom 03.03.2015 - ich sagte ja bereits, ich bin etwas spät dran mit meiner Kenntnisnahme der Ereignisse - berichtet die Lokalausgabe der Nordwest-Zeitung: "St. Willehad: Pfarreirat hat sich aufgelöst". Nanu?! Bei weiterer Lektüre des Artikels erfährt man, das Gremium sei "nicht mehr handlungsfähig", nachdem sechs der acht gewählten und zwei der vier ernannten Mitglieder des Pfarreirats, darunter der Vorsitzende und seine Stellvertreterin, zurückgetreten seien. Auch der "Versuch, die Lücken mit Nachrückern zu besetzen, schlug fehl": "Von den sechs Kandidaten, die auf der Liste standen, erklärte sich nur einer bereit, das Amt anzunehmen". Da die Statuten des Bistums Münster jedoch eine - nach Größe der Pfarrei gestaffelte - Mindestanzahl von Pfarreiratsmitgliedern vorschreibt, gilt der Nordenhamer Pfarreirat "ab sofort als aufgelöst". Offizialatsrat Bernd Winter vom Bischöflich Münsterschen Offizialat in Vechta wird mit der Aussage zitiert, "[d]iese Situation" sei "auf den satzungsmäßigen Wegen nicht zu heilen"; und der Pressesprecher des Offizialats, Dr. Ludger Heuer, urteilt, die Pfarrei St. Willehad befinde sich in einer "schwierigen Lage mit vielen Emotionen". Es soll möglichst bald Neuwahlen geben, aber einen Termin dafür gibt es noch nicht.

Was, so fragt man sich da natürlich, ist da bloß passiert? Ein früherer NWZ-Artikel, erschienen am 21.02.2015 unter dem Titel "Keine Basis für vertrauensvolle Zusammenarbeit", vermittelt ein etwas genaueres Bild. In diesem Artikel wird vom "sofortigen Rücktritt" des Pfarreiratsvorsitzenden Dr. Günther Schöffner, im Zivilberuf Geschäftsführer der Norddeutschen Seekabelwerke, und der stellvertretenden Vorsitzenden Henriette Eichner, ehemalige Kreisgeschäftsführerin des Caritasverbandes, berichtet, den die beiden in einer gemeinsamen Erklärung wie folgt begründeten: 
„Für eine weitere Kooperation zwischen Vorstand und dem hauptamtlichen Gemeindeteam ist aufgrund unterschiedlicher Verständnisse bezüglich einer guten, vertrauensvollen Zusammenarbeit, gegenseitiger Wertschätzung und Respekt keine ausreichende Basis mehr vorhanden.“
Das ist ja nun schon von der Wortwahl her ganz grausig. Mit dem "hauptamtlichen Gemeindeteam" werden wohl Pfarrer und Diakon gemeint sein (ich wüsste jedenfalls nicht, wer sonst noch), aber im Pastoral-Neusprech heißt das heutzutage wohl "Senior Pastoral Consultant" und "Junior Pastoral Consultant" oder weiß ich wie. Weihe scheint hier jedenfalls kein Kriterium zu sein. Folglich liegt es Schöffner und Eichner auch erkennbar fern, im Pfarrer ihrer Gemeinde etwas Anderes zu sehen als einen bestenfalls gleichberechtigten Kooperationspartner, und wenn der ihnen nicht genug Wertschätzung und Respekt entgegenbringt, dann werden Mr. und Mrs. Pfarreirat eben bockig. Soll Hochwürden halt sehen, wer dann noch mit ihm spielen will. Von diesem, von Pfarrer Jortzick also, heißt es im selben Artikel, er sei "völlig überrascht": "Er habe den Rücktritt von Günther Schöffner und Henriette Eichner, den er sehr bedaure und der ihn traurig mache, zum jetzigen Zeitpunkt nicht erwartet" - heißt das, zu einem späteren Zeitpunkt dann aber doch? Weiter wird der Pfarrer mit den Worten zitiert: 
„Mit diesen starken Formulierungen muss ich mich erst einmal beschäftigen und mit den anderen Mitgliedern des Pfarreirats darüber beraten, wir wir damit umgehen“.
Erst danach, im letzten Satz des Artikels, wird lakonisch die Information nachgereicht, "dass auch Gerti Schmieder-Dudeck und Astrid Ripkens aus dem Pfarreirat ausgeschieden sind". Zwischen dem 21.02. und dem 03.03. müssen dann wohl, wenn ich richtig gezählt habe, noch zwei weitere Pfarreiratsmitglieder zurückgetreten sein; und so ist das für vier Jahre gewählte Gremium nach nicht einmal eineinhalb Jahren am Ende. 

Gewählt worden war der Pfarreirat, wie im ganzen Bistum Münster, am 09. und 10.11.2013; von den 2978 wahlberechtigten Mitgliedern der Pfarrei hatten 235 ihre Stimme abgegeben, was einer wenig rühmlichen Wahlbeteiligung von 7,9% entspricht - einer Wahlbeteiligung allerdings, die immer noch leicht über dem Durchschnitt des ganzen Bistums (7,1%) lag. -- Was aber ist und tut ein Pfarreirat eigentlich genau? Die Kirchensite des Bistums Münster gibt Antwort: Der Pfarreirat, so heißt es da, sei ein "Organ im Sinne des Konzilsdekrets über das Apostolat der Laien" und sei dazu bestimmt, "das Bewusstsein für das gemeinsame Priestertum aller Getauften" zu fördern. Das klingt erst einmal blumig, aber keine Bange, wenige Zeilen später wird es konkreter: "Zu den [...] konkreten Aufgaben zählen unter anderem die Mitverantwortung für die Gestaltung der Gottesdienste" -- auweia. "Aktuell im Kontext des Diözesanpastoralplans hat der Pfarreirat auch die Aufgabe, einen lokalen Pastoralplan zu entwickeln" -- Himmel, hilf! 

Bei allem Respekt vor dem Konzil und seinem Dekret über das Apostolat der Laien: Als geschworener Verächter des typisch deutschen Gremienkatholizismus könnte man ja fast auf die Idee kommen, die Selbstauflösung eines Pfarreirats sei prinzipiell eine gute Nachricht. Aber ganz so lustig ist es ja nun auch wieder nicht, schon gar nicht für Pfarrer Jortzick, den ich meinen bisherigen Eindrücken nach als einen Geistlichen einschätze, der sich ehrlich darum bemüht, die Laien seiner Pfarrei in die Gemeindearbeit einzubinden - und dem ja, das erwähnte ich schon in meinem letzten Weihnachtsartikel, letztlich kaum etwas Anders übrig bleibt, denn in einer räumlich so weit verstreuten Diasporagemeinde kann er sich wohl schwerlich um Alles alleine kümmern. Und die Auffassung, er könne doch froh sein, die großkopferten Erzlaien los zu sein, führt auch nicht allzu weit, wenn es - allem Anschein nach - niemanden gibt, der an deren Stelle treten möchte. 

Hinzu kommt, dass das, was die Nordwest-Zeitung über das Zerwürfnis zwischen Pfarrer und (ehemaligem) Pfarreirat berichtet, im Grunde viel zu knapp und vage ist, als dass ich mir wirklich ein Urteil über die Lage vor Ort bilden könnte. Es lassen sich nur Indizien herauslesen, und dass diese sich mit meinen tief verwurzelten Vorurteilen (ich war da oben, nebenbei bemerkt, auch mal im Pfarreirat, als er noch Pfarrgemeinderat hieß und ich noch ein Teenager war) nur allzu gut in Einklang bringen lassen, sollte mich vielleicht umso vorsichtiger machen. Kann ja auch sein, dass alles ganz anders ist. Dass die Ursachen der Krise in St. Willehad ganz woanders liegen, als ich sie vermute, und dass ich möglicherweise sogar meine Sympathien falsch bzw. voreilig verteilt habe. Da bleibt nur zu hoffen, dass dieser Artikel auch am Ort des Geschehens eine gewisse Verbreitung findet und der eine oder andere meiner Leser etwas zur Aufhellung der Vorgänge beitragen kann und will... 


Samstag, 4. April 2015

Fragwürdigkeiten in der schönen neuen Gender-Welt

Die‚Heulsuse‘ hat ausgedient“ – so lautet der Titel eines in den Sozialen Netzwerken heiß diskutierten Blogbeitrags, in dem die CSU-Bundestagsabgeordnete Katrin Albsteiger, stellvertretende Bundesvorsitzende der Jungen Union, sich mit klar gegen die Ideologie des „Gender Mainstreaming“ positioniert. Anlass für ihren Artikel war ein Vortrag der Publizistin Birgit Kelle, die auf Einladung des Berliner Landesverbandes der „Christdemokraten fürdas Leben“ (CDL) vor über 100 Zuhörern - unter ihnen vier Abgeordnete des Deutschen Bundestages - ihr aktuelles Buch „Gender-Gaga“ in Berlin vorstellte. Zu dieser Veranstaltung steuerte Frau Albsteiger eine „kritische Würdigung“ des Buches bei – die allerdings mehr würdigend als kritisch ausfiel: „Im Grunde findet hier keine Kritik am Buch statt – das Buch kritisiert uns.“ 

Wer Birgit Kelles Bücher und Online-Kolumnen nicht kennt, der kennt die für ihre Thesen zur Gesellschafts- und Familienpolitik und insbesondere für ihre Kritik an Feminismus und „Gender Mainstreaming“ vielfach angefeindete Autorin höchstwahrscheinlich aus Talkrunden im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, in denen sie mit einiger Regelmäßigkeit zu Gast ist. Dafür gibt es, ihren eigenen Worten zufolge, eine einfache Erklärung: „Irgendwie muss in diesen Gesprächsrunden ja die Gegenposition besetzt werden. Im Prinzip komme ich über die ‚konservative Spaßbremsen‘-Quote in diese Sendungen rein.“ – Als „Spaßbremse“ empfanden die Besucher ihrer Buchvorstellung im mehr als voll besetzten Saal der Gaststätte „Löwenbräu“ in Berlin-Mitte die Autorin jedoch keinesfalls – ganz im Gegenteil: Es gab bei Birgit Kelles Vortrag viel zu lachen, wenngleich das Lachen einem an der einen oder anderen Stelle im Halse stecken bleiben mochte. 

Denn wiewohl die CSU-Bundestagsabgeordnete Katrin Albsteiger in ihrem einführenden Vortrag betonte, Birgit Kelles aktuelles Buch „Gender-Gaga“ sei „nicht zuletzt auch gute Unterhaltung“, und wiewohl Frau Kelle selbst im Vorwort ihre Buches schreibt, „Gender Mainstreaming“ habe es „verdient, als das betrachtet zu werden, was es ist: eine große Satireshow“ (S. 16), handelt es sich doch um ein ausgesprochen ernstes Thema: In der Titel-Unterzeile ihres Buches nennt Birgit Kelle das Gender Mainstreaming „eine absurde Ideologie“, die „unseren Alltag erobern will“; und der Gastgeber der Berliner Buchvorstellung, der CDL-Landesvorsitzende Stefan Friedrich, warnte in seinen Begrüßungsworten eindringlich vor einer „Dekonstruktion der Menschenwürde“. 

Frauen erleben den Wald anders als Männer

Freilich ist es leicht, darüber zu spotten, dass etwa die Universität Leipzig im Interesse der Geschlechtergerechtigkeit alle ihre Professoren per offizieller Sprachregelung zu Professorinnen erklärt hat, oder darüber, dass an der Berliner Humboldt-Universität eine dem biologischen Geschlecht nach weibliche Person lehrt, die es sich auf ihrer Mitarbeiterseite ausdrücklich verbittet, als „Frau“ oder „Professorin“ angesprochen oder angeschrieben zu werden, und stattdessen die Bezeichnung „Profx“ bevorzugt. Man kann darüber lachen, dass gefordert wird, neben Ampelmännchen auch Ampelfrauen einzuführen – die aber andererseits keinesfalls einem stereotypen Bild von Weiblichkeit entsprechen dürfen und somit am Ende wohl doch genauso aussehen werden wie die Ampelmännchen. Und man kann sich prächtig darüber amüsieren, dass Institute und Lehrstühle für Gender-Forschung in aufwändigen Studien feststellen, dass „Männer und Frauen den Wald unterschiedlich wahrnehmen“, dass es andererseits aber beispielsweise Pferden völlig egal ist, ob sie von Männern oder von Frauen geritten werden. Aber Birgit Kelle geht es um mehr als um Comedy. Wie sie selbst sagt, setzt sie – in ihrem Buch wie auch in ihren Vorträgen – Komik als Mittel ein, um ihr Publikum an einen Themenkomplex heranzuführen, der ansonsten vielfach undurchschaubar erscheint. „Das ist übrigens so gewollt“, betont sie. „Dass Sie es nicht verstehen, ist Teil der Strategie.“

Warum machen wir das mit?

Diese Strategie ziele, so Birgit Kelle, darauf ab, immer größere Bereiche des gesellschaftlichen Lebens zu „gendern“, was nur deshalb auf keinen nennenswerten Widerstand stoße, weil bestimmte Fragen einfach nicht gestellt würden – zum Beispiel: „Wer gibt der Gleichstellungsbeauftragten der Stadt Düsseldorf das Recht, uns durch einen Sprachleitfaden vorzuschreiben, welche Wörter wir nicht mehr benutzen dürfen? Mit welchem Recht verändert die Universität Leipzig die deutsche Grammatik? Und vor allem: Warum machen wir das mit?“
Wie die Besucher der Buchvorstellung erfuhren, erschien das Schlagwort „Gender Mainstreaming“ erstmals 1995 bei einer in Peking abgehaltenen Internationalen Frauenkonferenz auf der politischen Agenda; das unter diesem Begriff zusammengefasste geschlechterpolitische Leitbild wurde daraufhin von den Vereinten Nationen übernommen und in der Folge auch auf europäischer und bundesdeutscher Ebene aufgegriffen – aber gibt es dafür eigentlich eine demokratische Legitimation? – Nein, sagt Birgit Kelle: „Unter der Schröder-Regierung wurde Gender Mainstreaming als Leitlinie in die Geschäftsordnung des Bundeskabinetts aufgenommen. Das ist alles.“
Sucht man nach einer Definition dafür, was diese Leitlinie eigentlich besagt, stößt man zunächst einmal auf die Erklärung, „Gender Mainstreaming“ ziele auf eine Verbesserung der Geschlechtergerechtigkeit durch Abbau bestehender Ungleichheiten ab. Das klingt zunächst einmal gut; zumindest in der westlichen Welt dürfte kaum jemand diesem Anliegen seine Zustimmung versagen. Bei genauerem Hinsehen ergeben sich jedoch Fragwürdigkeiten.

Die heterosexuelle Ehe als Stockholm-Syndrom

Wenn beispielsweise das 2011 verabschiedete Bundesgleichstellungsgesetz (BGleiG) festlegt, dass es unzulässig sei, Arbeitsplätze nur für Männer oder nur für Frauen auszuschreiben – warum ist dann, ausgerechnet, die Stelle der Gleichstellungsbeauftragten ausschließlich Frauen vorbehalten? Wieso liest man in jeder zweiten Stellenausschreibung, „bei gleicher Qualifikation“ würden „Frauen bevorzugt“? – Dahinter steckt, wie man unschwer feststellen kann, die Auffassung, nach Jahrhunderten der strukturellen Unterdrückung und Benachteiligung von Frauen durch Männer müsse man, um das Ziel der Gleichstellung zu erreichen, die Frauen nun erst einmal bevorzugt behandeln. Diesen „im Vorfeld festgelegten Opferstatus der Frau“ bezeichnet Birgit Kelle als eine der großen Paradoxien des Gender Mainstreaming: „Auf einmal hängt es also doch von meinem biologischen Geschlecht ab, ob ich auf der richtigen Seite stehe!“ Dieser Opferstatus, so führt sie weiter aus, kann der Frau aber auch aberkannt werden, wenn sie mit dem Feind kollaboriert – etwa, indem sie sich für die traditionell weibliche Rolle der Ehefrau und Mutter entscheidet und womöglich noch behauptet, damit glücklich und zufrieden zu sein. „Da sagt man mir, das kann ja gar nicht sein, dass ich damit glücklich bin – das wird mir nur eingeredet. Ich leide also offenbar an einer Art Stockholm-Syndrom: Ich habe meinen Peiniger geheiratet, und er hat mich dazu gebracht, dass ich mir einbilde, ich fände das gut so.“

Geschlechtergerechtigkeit fängt auf dem Spielplatz an

Insgesamt betrachtet Birgit Kelle den Gleichstellungsbegriff, wie er in den Konzepten des Gender Mainstreaming verfochten wird, als problematisch: „Unter Gleichberechtigung der Geschlechter wurde früher einmal Chancengleichheit verstanden. Jetzt versteht man darunter Ergebnisgleichheit. Es genügt nicht, dass Männer und Frauen dieselben Möglichkeiten haben - sie müssen auch tatsächlich dasselbe tun.“ Und wo diese Ergebnisgleichheit sich nicht von selbst einstelle, da helfe man mit Quoten oder ähnlichen Zwangsmaßnahmen nach.
Ein scheinbar harmloses Beispiel: Es lässt sich empirisch feststellen, dass öffentliche Kinderspielplätze signifikant stärker von Jungen als von Mädchen genutzt werden. Daraus leiten Verfechter des Gender Mainstreaming die Forderung ab, im Interesse der Geschlechtergerechtigkeit müssten „gendergerechte Spielplätze“ geschaffen werden. Wer dagegen einwendet, die meisten Mädchen hätten einfach ein anderes Spielverhalten als die meisten Jungen und interessierten sich daher insgesamt weniger für Spielplätze als dafür, im Haus zu bleiben und sich gegebenenfalls gemeinsam im Badezimmer einzuschließen, darf sich anhören, dieses geschlechtsspezifische Spielverhalten sei bereits das Ergebnis einer falschen Konditionierung.
Tatsächlich basiert die Gender-Mainstreaming-Agenda nämlich sehr wesentlich auf der Auffassung, dass es ein vom biologischen Geschlecht (engl. „sex“) unabhängiges „soziales Geschlecht“ gebe, das „gender“ genannt wird. Da dieser Theorie zufolge die feste Zuordnung eines bestimmten geschlechtsspezifischen Rollenverhaltens zum biologischen Geschlecht lediglich auf gesellschaftlichen Konventionen und Erziehung beruht (Simone de Beauvoir: „Als Frau wird man nicht geboren, zur Frau wird man gemacht“), will Gender Mainstreaming es jedem Menschen ermöglichen, sein „soziales Geschlecht“ frei zu wählen – was freilich nur durch die Dekonstruktion etablierter Geschlechterrollenkonzepte erreicht werden könne.

Ist es ein Junge oder ein Mädchen?

Der einflussreichen Gender-Theoretikerin Judith Butler zufolge beginnt die zu überwindende Prägung auf stereotype Geschlechterrollen schon mit der ersten Frage vieler Eltern nach der Geburt eines Kindes: „Ist es ein Junge oder ein Mädchen?“ Die Antwort, die die Hebamme auf diese Frage gibt, determiniert das Kind, zwingt ihm eine Rolle auf. Durch geschlechtsspezifische Kleidung und geschlechtsspezifisches Spielzeug wird dieser Zwang dann durch die ganze Kindheit hindurch permanent verstärkt. Beispielsweise suggerieren Barbie-Puppen, Pferdezeitschriften und nicht zuletzt die Farbe Pink „den Mädchen ein Prinzessinnendasein, Mädchenklischee-Rollen oder die Vorstellung, dass das Leben tatsächlich ein Ponyhof sei. Von klein auf drängt man sie also damit in eine weibliche Kleinmädchenrolle, die im schlimmsten Fall in einem Dasein als Zahnarztgattin gipfelt.“ (S. 51)

Die Dekonstruktion geschlechtsspezifischer Verhaltensmuster hat somit schon im Kleinkindalter anzusetzen, und so werden Erzieher(-innen) in Kindergärten und KiTas im Sinne des Gender Mainstreaming dazu angehalten, dafür Sorge zu tragen, dass (auch) Jungen mit Puppen und (auch) Mädchen mit Autos spielen. Man könnte sich nun bequem zurücklehnen und zuschauen, wie dieses Erziehungsprogramm am Widerstand der Kinder scheitert; aber die Wahl der Spielgeräte ist hier wiederum nur die Spitze des Eisbergs. Das verquere Gleichstellungsverständnis der Gender-Ideologen fabriziert am laufenden Band Ungerechtigkeiten, wenn etwa im Kindergarten ein traditionell als „typisch männlich“ geltendes Rollenverhalten an Jungen getadelt, an Mädchen hingegen gelobt wird; und letzten Endes ist es überhaupt nicht abzusehen, welche psychischen Schäden eine Pädagogik verursacht, deren erklärtes Ziel es ist, Kinder in ihrer geschlechtlichen Identität zu verunsichern.

"Nicht mit meinen Kindern!"

Erschwerend kommt hinzu, dass die Gender-Theorie permanent geschlechtliche Identität und sexuelle Orientierung miteinander vermengt. Man könnte zwar denken, hetero- und homosexuelle Männer hätten trotz ihrer unterschiedlichen sexuellen Orientierung dasselbe Geschlecht, seien nämlich gleichermaßen Männer – ebenso wie heterosexuelle und lesbische Frauen gleichermaßen Frauen seien. Aber diese Auffassung muss wohl als heteronormativ, biologistisch und reaktionär betrachtet werden: Aus Gender-Sicht sind Homosexuelle ein Geschlecht für sich, und wenn man dann noch berücksichtigt, dass es auch unter Homosexuellen solche gibt, die ein traditionell „männliches“, und solche, die ein traditionell „weibliches“ Rollenverhalten an den Tag legen, ist man schon bei sechs Geschlechtern. Wenn man dann noch alle denkbaren Trans*- und Inter*-Varianten mit in den Blick nimmt, verwundert es nicht mehr, dass in der schönen bunten Gender-Welt je nach theoretischem Ansatz von 60, 70 oder sogar 4000 verschiedenen Geschlechtern die Rede ist. Eine Pädagogik, die all diesen Geschlechtern gerecht werden will, hat natürlich eine Menge zu tun; und wenn sexuelle Vorlieben so entscheidend für die Zugehörigkeit zu diesem oder jenem Geschlecht sind, dann erfordert eine gendersensible Erziehung es natürlich, dass Kindern schon möglichst früh eine umfassende Kenntnis der verschiedensten Sexualpraktiken vermittelt wird – und das fächerübergreifend. Sogar von „Pornografie-Kompetenz“ ist die Rede (S. 86). Man darf wohl davon ausgehen, dass die vierfache Mutter Birgit Kelle für viele Eltern spricht, wenn sie an dieser Stelle ihres Vortrags emotional ausruft: „Sexuelle Vielfalt im Kindergarten? – Nicht mit meinen Kindern!“

Männer sollten 50% der Kinder bekommen

Auf den ironischen Einwurf einer Veterinärmedizinerin hin, echte Geschlechtergerechtigkeit könne wohl erst dann erreicht werden, wenn Männer 50% der Kinder bekämen, weist Birgit Kelle explizit auf den Zusammenhang zwischen der Gender-Thematik und dem Thema Lebensschutz hin: „Wer das biologische Geschlecht für irrelevant erklärt, der ignoriert, dass es den Frauen vorbehalten ist, Kinder zu bekommen. Insofern ist es nur folgerichtig, dass der Feminismus schon immer für ein Recht auf Abtreibung gefochten hat und das nun unter der Flagge des Gender Mainstreaming umso entschiedener tut. Natürlich muss nicht jede Frau Kinder bekommen – aber wenn Frauen ihre biologische Fähigkeit, Kinder zu bekommen, in erster Linie als Problem betrachten, verleugnen sie ihre eigene Natur.“ 

An den Vortrag der Autorin schloss sich eine engagierte Publikumsdiskussion an, an der sich neben Katrin Albsteiger noch drei weitere Mitglieder der CDU/CSU-Bundestagsfraktion – Sylvia Pantel, Philipp Graf von Lerchenfeld und Josef Rief – beteiligten. Im Zuge dieser Diskussion wurde seitens mehrerer Teilnehmer Kritik daran laut, dass die CDU/CSU nicht nur nicht gegen den Vormarsch des Gender Mainstreaming opponiere, sondern diesen zum Teil sogar aktiv unterstütze. Darüber, was man überhaupt tun könne, um den Auswüchsen der Gender-Ideologie Einhalt zu gebieten, konnte jedoch keine Einigkeit erzielt werden.

"Hier nehmen einige Leute ihre Überzeugungen zu wichtig" 

Katrin Albsteiger veröffentlichte ihr persönliches Fazit der Veranstaltung am übernächsten Tag auf ihrem Blog: „Bei Gender-Mainstreaming geht es nicht um Frauenförderung, sondern es geht um Ideologie. […] Hier nehmen ein paar Leute ihre Überzeugungen zu wichtig. […] ‚Umerziehung‘ […] ist aber nicht die Aufgabe von Politik.“ In den Sozialen Netzwerken wie Facebook und Twitter wird Frau Albsteigers Blogbeitrag inzwischen heiß diskutiert; besondere Aufmerksamkeit erregt dabei die Tatsache, dass der offizielle Facebook-Account der CDU/CSU-Bundestagsfraktion den Artikel mit „gefällt mir“ markiert hat. „Nun bin ich gespannt, wie es mit dem Gender Mainstreaming weitergeht“, kommentierte ein Nutzer.

(Alle Seitenzahlen beziehen sich auf: Birgit Kelle: Gender-Gaga. Wie eine absurde Ideologie unseren Alltag erobern will. Adeo Verlag Asslar, 2015.)