Gesamtzahl der Seitenaufrufe

Samstag, 8. Dezember 2012

Der Piranesi-Code

Schon lange bevor ich den am 30.08.12 in der Tagespost erschienenen, äußerst empfehlenswerten Artikel "Die Kirche - ein Krimi?" von Barbara Wenz (alias Elsa Laska) gelesen habe,  hatte ich mich mit dem Gedanken getragen, hier in meinem Blog ein Buch aus meiner an anderer Stelle schon einmal erwähnten "Klobibliothek" zu rezensieren - eines, das ich als eins von ganz wenigen der in meinem Besitz befindlichen Bücher als eindeutigen Fehlkauf einstufen würde. Es steht im Grunde nur noch deshalb in meiner Klobibliothek, weil ich mir schon vor Jahren vorgenommen habe, irgendwann einmal etwas darüber zu schreiben. Danach darf es dann gern auf den Flohmarkt wandern.

Wohlan denn! -  Bei dem Buch, das ich mich zum Zwecke der Rezension erneut zu lesen überwunden habe, handelt es sich um Das Haus des Daedalus von  Kai Meyer (München 2000); für die Taschenbuchausgabe (München 2005) wurde der Roman in Die Vatikan-Verschwörung umbenannt. Hätte das Buch von Anfang an diesen Titel getragen, hätte ich es vermutlich gar nicht erst gekauft.

Aber anstatt damit fortzufahren, meinen geschätzten Lesern ebenso ungeschickter- wie aufdringlicherweise im Vorhinein zu diktieren, was sie von dem Buch zu halten haben, fange ich lieber mal vorne an: Das Haus des Daedalus spielt in Rom, und die Handlung beginnt in einem Taxi. Der junge Taxifahrer ist ein stereotyper italienischer ragazzo, liebenswürdig, dabei redselig bis zur Aufdringlichkeit, erotischen Abenteuern nicht abgeneigt und natürlich ein rücksichtsloser, ja waghalsiger Fahrer. Man sieht, der Autor lässt keine Gelegenheit aus, sämtliche Klischees über Italiener und/oder insbesondere Römer zu evozieren, die dem Leser, der womöglich auch schon mal in Italien war, vertraut sind. Mit bemerkenswerter Offenheit bekennt er sich zu diesem Vorgehen, indem er seinen Protagonisten auf S. 9 reflektieren lässt "Klischees sind Klischees wegen ihrer grundsätzlichen Wahrheit"; man wünscht sich aber bald, der Autor hätte auch seinen Nachsatz "aber man muss sie nicht auch noch laut aussprechen" etwas mehr beherzigt.

Allerdings muss man anerkennen, dass die Gesprächigkeit des Taxifahrers durchaus eine erzähltechnische Funktion erfüllt: Der Fahrer bringt seinen Fahrgast - den Protagonisten des Romans - auf diese Weise dazu, einiges über sich zu verraten, womit er sich gewissermaßen auch dem Leser vorstellt. Man erfährt unter anderem, dass er "Kunstdetektiv" sei. Und was tut ein Kunstdetektiv? Er spürt "verschollene Kunstwerke auf. Im Auftrag von Sammlern und Museen." Hier wird für den geneigten Leser also absehbar, dass es in diesem Roman um verschollene Kunstwerke gehen wird (was er allerdings auch schon dem Klappentext entnehmen konnte), und es taucht der Verdacht auf, dass dieses Werk Kai Meyers eine gewisse Nähe zu dem einen oder anderen Weltbestseller aus der Feder Dan Browns aufweisen könnte. Ehe man hier aber mit Plagiatsvermutungen bei der Hand ist, ist man gut beraten, einen Blick auf die jeweiligen Erscheinungsdaten der Romane zu werfen, die einem hier in den Sinn kommen mögen. Das Haus des Daedalus erschien, wie schon erwähnt, im Jahr 2000; im selben Jahr kam Dan Browns Angels & Demons in den USA heraus (deutsche Ausgabe u.d.T. Illuminati erst 2003!); Browns Da Vinci Code datiert im Original von 2003, die deutsche Fassung u.d.T. Sakrileg von 2004. Meyer müsste also schon Hellseher oder Zeitreisender sein, um Dan Brown plagiiert haben zu können; das gilt es im Hinterkopf zu behalten - ich komme noch darauf zurück.

Meyers Protagonist heißt übrigens Jupiter; es wird nie ganz klar, ob das ein Vor- oder Nachname sein soll, ja, der 'Kunstdetektiv' scheint nur diesen einen Namen zu haben. Warum der Autor sich gerade diesen doch recht ungewöhnlichen Namen für seinen Protagonisten ausgesucht hat, wird auf S. 71 deutlich, als Jupiter mit den Worten begrüßt wird: "Das ist interessant. Der oberste der alten Götter bringt den Fall des neuen." Was aus dem bisherigen Handlungsverlauf noch nicht einmal andeutungsweise ersichtlich war, wird hier immerhin erahnbar: dass Jupiters Detektivarbeit zu Enthüllungen führen wird, die das gesamte Christentum in Frage stellen. Darunter macht's ein Verfasser von Mystery-Thrillern mit Kirchenbezug heutzutage einfach nicht mehr. Aber wir wollen nicht vorgreifen.

Erst einmal muss der Autor seinen Helden nämlich mit einem privaten Schicksalsschlag ausstatten, um die Teilnahme des Lesers für ihn zu stärken; und ein bisschen Erotik darf in der Storyauch nicht fehlen. So erfährt man zunächst, dass Jupiter mit einer japanischen Kollegin namens Miwaka, kurz Miwa, liiert gewesen ist, die ihn jedoch kürzlich nicht nur Knall auf Fall verlassen, sondern im selben Atemzug auch seine berufliche Existenz an den Rand des Abgrunds gebracht hat, indem sie ihm "all seine Kundenunterlagen, Forschungsergebnisse und Computerdateien" gestohlen und ihn obendrein "bei nahezu all seinen Kunden verleumdet" hat, um deren Aufträge zukünftig selbst zu übernehmen (S. 16). Diese Verknüpfung des Beruflichen mit dem Privaten bietet zweifellos prächtige Voraussetzungen dafür, Miwa im weiteren Verlauf der Handlung als Gegenspielerin Jupiters wieder auftauchen zu lassen; für das böse Weib, das der Protagonist gleichwohl einmal geliebt hat (und noch nicht richtig darüber hinweg ist) ist also schon mal gesorgt, aber nun braucht der Held natürlich eine neue Liebe. Für diese Position bietet sich die junge Restauratorin Coralina an, deretwegegn Jupiter überhaupt nach Rom gekommen ist: Sie hat bei Restaurierungsarbeiten in einer Kirche eine sensationelle Entdeckung gemacht, die sie ihm unbedingt zeigen muss. Jupiter und Coralina sind sich vor zehn  Jahren schon einmal begegnet: Sie, damals ein fünfzehnjähriger Backfisch, war stürmisch in ihn verliebt gewesen und hatte einmal des Nachts versucht, sich zu ihm ins Bett zu schleichen - und ihn hatte es die Aufbietung all seiner Selbstdisziplin gekostet, sie mehr oder minder wortwörtlich 'von der Bettkante zu schubsen'. Aber jetzt ist Coralina erwachsen, sodass Jupiter "sich ihre Schönheit eingestehen" darf (S. 13). Für erotisches Knistern ist also von Anfang an gesorgt; zudem ist Coralina malerischerweise Schlafwandlerin, was dazu führt, dass Jupiter - und mit ihm der Leser - sie bereits auf S. 57ff., nur in ein "enges weißes Sleepshirt" gehüllt (was ist eigentlich aus dem guten alten Wort "Nachthemd" geworden?) auf einem Hausdach antreffen darf, wo "die Kälte ihre Brustwarzen [aufrichtet]" (S. 60). Man ahnt, dass es dabei nicht bleiben wird.

Zunächst haben Jupiter und Coralina aber Anderes zu tun, als ihrer Leidenschaft füreinander die Zügel schießen zu lassen: Bei der sensationallen Entdeckung, die Coralina in einer Mauernische der Kirche Santa Maria del Priorato gemacht hat, handelt es sich um die Original-Druckplatten der 16 weltberühmten Carceri-Radierungen von Giovanni Batista Piranesi (1720-1778); Jupiter kann sie überreden, den Fund zu melden, statt etwa zu versuchen, die Platten illegal zu verscherbeln. Aber erst danach gesteht sie ihm, dass sie eine 17. Druckplatte, die ein bisher unbekanntes Motiv zeigt, beiseite geschafft hat, zusammen mit einer offenbar antiken Tonscherbe mit Schriftzeichen, die jenen auf dem minoischen Diskos von Phaistos ähneln.

Parallel dazu entspinnt sich ein zweiter Handlungsstrang um einen Kapuzinermönch namens Santino (='kleiner Heiliger'); dieser ist zunächst hauptsächlich damit beschäftigt, Videobänder anzusehen, deren Inhalt anmutet wie eine sakral angehauchte Variation des Blair Witch Project: Drei Mitbrüder Santinos hatten, mit einer Kamera ausgerüstet, eine heimliche Expedition in ein bis in unabsehbare Tiefen hinabreichendes unterirdisches Gewölbe angetreten, in dem sie den Eingang zur Hölle vermuteten. (Der versierte Leser ahnt bereits den Zusammenhang zwischen den Handlungssträngen: Die Mönche haben das reale Vorbild für Piranesis Carceri-Bilderserie entdeckt!) Nur einer der drei war jedoch lebend von dort zurückgekehrt und hatte gerade noch vermocht, Santino die Videobänder auszuhändigen, bevor er seinen schweren Verletzungen erlag. Nun ist Santino in gestohlener Zivikleidung auf der Flucht - vor wem? Man wagt es kaum zu fragen; dass es sich bei den Verfolgern womöglich um einen "Geheimbund" handeln könnte, der "im Auftrag der Kirche über Leichen geht", würde man freilich wohl selbst dann ahnen, wenn ein solcher nicht schon im Klappentext erwähnt worden wäre.

Ein solcher finsterer vatikanischer Geheimbund ist natürlich ein ganz ganz alter Hut. In der Unterhaltungsliteratur des 19. Jhs. spielten häufig die Jesuiten, die weithin als das "Urbild aller geheimen Gesellschaften" angesehen wurden (vgl. Volker Neuhaus, Der zeitgeschichtliche Sensationsroman in Deutschland 1855-1878. Berlin 1980, S. 89), diese Rolle; ein zentrales Element zahlreicher antijesuitischer Romane jener Zeit bildeten die Bemühungen des Ordens, reiche Erbschaften in seinen Besitz zu bringen, indem die Jesuiten oder in ihrem Dienst stehende Agenten die rechtmäßigen Erben entweder beseitigten oder für den Orden rekrutieren. Als geradezu prototypische Gestaltung dieses Motivs kann Eugène Sues Feuilletonroman Le Juif errant (1844/45) angesehen werden, der schon im Jahr seines Erscheinens unter dem Titel Der ewige Jude ins Deutsche übertragen wurde und zahlreiche Auflagen erreichte. Im Mittelpunkt dieses Romans steht eine weltumspannende Verschwörung der Jesuiten mit dem Ziel, "das gewaltige Vermächtnis der Familie de Rennepont in ihren Besitz zu bringen" (Neuhaus, ebd.). Der seinerzeit populäre deutsche Romanautor Balduin Möllhausen (1825-1905) variierte dieses Handlungsschema in nicht weniger als drei Romanen, Der Halbindianer (1861), Die Mandanen-Waise (1865) und Das Monogramm (1874); Ähnliches las man auch in Sir John Retcliffes Romanzyklus Villafranca (1862-66) und in E. Marlitts Die zweite Frau (1974). Im 20. bzw. zu Beginn des 21. Jhs. konnte dieses Schema somit schon als reichlich ausgelutscht betrachtet werden; Dan Brown aktualisierte es, indem er in seinem Da Vinci Code anstelle der Jesuiten das Opus Dei als kriminellen Geheimbund darstellte. In Kai Meyers Haus des Daedalus agiert hingegen ein fiktiver Geheimbund mit dem etwas skurril anmutenden Namen Die Adepten der Schale - über den man auf S. 187 des Romans liest:
"Wissen Sie, der Einfluß der geheimen Logen auf den Papst hat den Beigeschmack des Trivialen bekommen, seit jedermann glaubt, darüber bescheid zu wissen. [...] Irgendein eifriger Journalist wird immer die nächste Enthüllung veröffentlichen, das nächste Buch über verdeckte Finanzgeschäfte, Verstrickungen mit der Mafia, über angebliche Giftmorde, P2, das Opus Dei, die Ritter vom Heiligen Grabe - all das ist gut argumentiert. Doch es ist gerade diese angebliche Durchschaubarkeit, die den besten Deckmantel für die Adepten der Schale abgibt."
 Als Oberbösewicht wird schon früh Kardinal von Thaden erkennbar, ein "Schweizer Erzbischof" und "Leiter der Glaubenskongregation" (S. 66) - wer war es noch gleich, der anno 2000, als der Roman erschien, dieses Amt innehatte? Von Thadens Handlanger Landini fällt durch seine ungewöhnlich hellen Haare und Augen auf, auch "seine Haut [ist] auffallend pigmentlos" (S. 67); ab S. 246 wird er wiederholt ausdrücklich als "Albino" bezeichnet, eine merkwürdige Parallele zum Opus Dei-Killer aus Dan Browns wie gesagt erst einige Jahre später entstandenen Da Vinci Code, dem Albino Silas.

Die Selbstverständlichkeit, mit der der Autor seinen Lesern die offenbar als bekannt vorausgesetzten Klischees von der klerikalen Mafia auftischt, wirkt jedenfalls entwaffnend: Von dem Moment an, als erstmals eine schwarze Limousine mit abgedunkelten Scheiben und Vatikan-Nummernschild auf der Bildfläche erscheint - und das geschieht auf der 64. von 382 Seiten! -, steht es außer Zweifel und wird von keiner der handelnden Personen in Frage gestellt, dass "der Vatikan" ein Netzwerk zutiefst krimineller Organisationen sei, deren Hauptbeschäftigung anscheinend darin besteht, die Mitwisser dunkler Geheimnisse zu ermorden. Bis die erste Leiche im Tiber treibt, dauert es immerhin 118 Seiten, aber dann geht es Schlag auf Schlag: Ein Gebäude geht in Flammen auf, ein halbseidener Kunsthändler wird in aller Öffentlichkeit - am Tisch eines Straßencafés! - erschossen, ohne dass es jemandem auffällt. Derweil tappen die Protagonisten Jupiter und Coralina derart naiv und unbeholfen durch die sie umgebenden Gefahren, dass der Leser sich fragen muss: Wenn dieser obskure vatikanische Geheimdienst angeblich so gut informiert ist, so schnell und effizient arbeitet und so absolut keine Skrupel kennt, wie kommt es dann, dass dieses amateurhaft agierende Kunstdetektivpärchen nicht schon unter der Erde ist, ehe es auch nur ahnt, einem Geheimnis auf der Spur zu sein (was, nebenbei bemerkt, lange genug dauert)? - Man mag versucht sein, sich das damit zu erklären, dass die Dummen einen besonderen Schutzengel haben, aber der eigentliche Grund ist natürlich der, dass's Büchel sonst allzu schnell aus wär'.

Der Kette der Ereignisse, die durch den Fund der Carceri-Druckplatten und der geheimnisvollen Tonscherbe (man ahnt es: eines Bruchstücks jener Schale, nach der die besagten Adepten sich benannt haben) in Gang gesetzt wird, steht das Protagonistenpaar weitgehend ratlos gegenüber; anstatt aktiv, gar initiativ ins Geschehen einzugreifen, werden Jupiter und Coralina über weite Strecken des Romans lediglich zwischen verschiedenen Fraktionen innerhalb des Vatikans, sogar verschiedenen Fraktionen innerhalb des Geheimbunds der 'Adepten', hin- und hergeschubst wie eine Flipperkugel. Kaum haben die beiden begriffen, dass sie infolge ihrer Entdeckung in Lebensgefahr schweben, da steht auch schon Felipe Estacado vor der Tür, der Bruder und Mitarbeiter des Leiters der Vatikan-Bibliothek. Er warnt sie vor den 'Adepten' und schlägt ihnen vor, sie im Vatikan zu verstecken, wo man sie am wenigsten vermuten würde; ihrem anfänglichen Misstrauen begegnet er mit dem souveränen Hinweis, ihnen bleibe gar nichts anderes übrig, als ihm zu vertrauen. Karl-May-Leser jedoch dürften schon anhand des Namens Estacado argwöhnen. dass der smarte, kultivierte Bibliothekar in Wahrheit ein Pfahlmann ist, einer, der Wegmarkierungen umsteckt, um Reisende in die Falle zu locken. Genauer gesagt ist er, wie sich bald herausstellt, sogar das - wenn auch in den eigenen Reihen nicht unangefochtene - Oberhaupt der 'Adepten der Schale'; somit haben Jupiter und Coralina sich mehr oder weniger freiwillig nicht nur in die Höhle, sondern geradezu in den Rachen des Löwen begeben und müssen als nächstes vor ihrem vermeintlichen Retter gerettet werden. Das übernimmt ein ältlicher Geistlicher namens Janus - ein Name, der eigentlich auf eine gewisse Doppelgesichtigkeit schließen ließe, aber diese Assoziation läuft ins Leere. Janus ist ein ehemaliger Missionspriester, der bei der vatikanischen Nomenklatura in Ungnade gefallen ist - die unterschwellige Kirchenkritik, die sich hier andeutet, ist allzu banal, um darüber viele Worte zu verlieren -, als Mitwisser der Geheimnisse der 'Adepten der Schale' um sein Leben fürchten muss und seither als eine Art 'Phantom des Vatikans' in der Wasserleitung haust. Von Janus erfahren Jupiter und Coralina auch, was der Leser längst weiß (und sich schon mehr als einmal darüber ärgern durfte, dass Jupiter so begriffsstutzig ist, es nicht wenigstens zu ahnen): dass Piranesis Carceri ein reales Vorbild in Form eines unermesslich riesigen unterirdischen Gewölbekomplexes haben.

Die Vorstellung, die frühe Kirche habe die gigantische etruskische Nekropole unter dem Vatikan für den Eingang der Hölle gehalten und die Gebeine des Hl. Petrus deshalb dort bestattet, weil dieser das Höllentor quasi "bewachen" sollte, hat durchaus ihren Reiz - man denkt unwillkürlich an das Schriftwort von den "Pforten der Hölle", die die auf den Felsen Petri gebaute Kirche "nicht überwinden" werden (Mt 16,18), aber diese Bibelstelle zitiert Kai Meyer nicht - womöglich deshalb, weil er in seinem Roman lieber auf die Option setzt, dass die Pforten der Hölle die Kirche irgendwann eben doch überwinden werden. Dies schon innerhalb der Romanhandlung geschehen zu lassen, davor schreckt er dann aber doch zurück - obwohl er dem Leser auf S. 233, gänzlich unberufen, erneut die obskure Prophezeiung "Der oberste der alten Götter" - also Jupiter - "bringt den Fall des neuen" in Erinnerung ruft.

Ironischerweise hat es zunächst den Anschein, als fürchte die Kirche in erster Linie die Entdeckung, dass es keine Hölle gibt. Der bereits erwähnte Janus, der das Ziel verfolgt, die Existenz des vermeintlichen Höllentores publik zu machen, meint zwar: "Heutzutage nimmt das auch niemand mehr ernsthaft an" (nämlich, dass das 'Daedalusportal' tatsächlich der Eingang der Hölle sei); gleichzeitig gibt er aber zu bedenken: ""Was erzählt man in einem solcxhen Fall den zig Millionen Gläubigen? Daß die Kirche einem Irrtum aufgesessen ist? Daß es gar keine Hölle gibt, oder zumindest nicht hier, an diesem Ort? Können Sie sich den weltweiten Spott vorstellen, wenn der Papst vor die Mikrofone treten und zugeben müßte, daß seine Vorgänger sich geirrt haben, als sie den Vatikan wie einen Pfropfen auf dieses Tor setzten?" (S. 234f.)

Noch besteht allerdings für liberale Theologen à la Uta Ranke-Heinemann kein Grund zum Jubeln: Zwar sind auch die drei Kapuzinermönche, die das unterirdische Gewölbe erkunden, irritiert darüber, nicht das vorzufinden, was sie erwartet haben (wobei ihre Erwartungen eine recht naive Auffassung der Eschatologie verraten: "Immer hat man uns gepredigt, die Hölle sei ein Ort des Feuers [...] Ein Ort ewiger Flammen und Glutöfen. Aber warum spüren wir dann nichts davon? Warum sehen wir nichts? Warum ist hier nur Leere und Dunkelheit? Entspricht all das nicht viel eher unserem Bild vom Tod ohne ewiges Leben? Und ist dieser Ort hier vielleicht sogar der Beweis, daß überhaupt nichts auf uns wartet, wenn wir sterben?", S. 92); aber dass da unten irgendetwas ist, spüren sie nur zu bald umso deutlicher.

Und was verbirgt sich nun wirklich hinter dem vom Vatikan streng bewachten 'Daedalusportal' und jenem geheimen Nebeneingang, den Piranesi einst entdeckt hat und auf den dann Jahrhunderte später die Kapuzinermönche stießen? Nicht die Hölle nach christlichem Verständnis, auch sonst kein Ort, an dem sich die Seelen der Menschen nach ihrem Tode wiederfinden - aber dennoch eine Art Jenseits: ein gewaltiges Labyrinth, das der sagenhafte Baumeister Daedalus angelegt hat, das er so tief wie möglich ins Innere der Erde getrieben hat, in der Hoffnung, so seinen Sohn Ikarus aus dem Hades zurückholen zu können - was ihm schließlich auch gelungen ist, nur dass dem Ikarus die brennenden Schwingen, die er sich bei seinem hybriden Versuch geholt hat, in die Sonne zu fliegen, nun in alle Ewigkeit bleiben und er als lebende Fackel, als "Kreuz aus Feuer" (so die Überschrift des 5. Kapitels, S. 136) durch die unterirdischen Gewölbe schwebt. Und der Minotaurus, für den - oder gegen den - Daedalus sein erstes Labyrinth gebaut hat, ist irgendwie auch wieder mit von der Partie, sodass da unten geradezu eine heidnische Gegen-Dreifaltigkeit haust: "Der Geist [des Daedalus] und das Feuer und der Stier [...]. Eine unheilige Dreifaltigkeit als Herrscher über den schwarzen Schlund." (S. 372)

Dass der Vatikan solch heidnisches Unwesen unter Verschluss zu halten bestrebt ist, leuchtet ein; die Hüter des christlichen Glaubens wären indes nicht die Einzigen, die so zu sagen in Teufels Küche kämen, wenn die Pforten der Unterwelt geöffnet würden. Wird der Geist des Daedalus nämlich freigesetzt, so beginnt er seine Umwelt zu affizieren - wie ein "Virus" (S. 289), der allerdings nicht die Menschen befällt, "sondern die Bauten" (S. 290): "Die Welt wird neu geschaffen nach dem Bilde des Baumeisters. Sie wird, wenn Sie so wollen, labyrinthisiert." (S. 237). Genau dies ist der Traum des größenwahnsinnigen Vatikan-Architekten Trojan, der wegen seiner kühnen, aber unverwirklichten Entwürfe zuweilen spöttisch der "Albert Speer des Heiligen Vaters" genannt wird (S. 165 u.ö.), sich selbst aber anscheinend eher als eine Art Wiedergänger Piranesis sieht, dem es ebenfalls nicht vergönnt war, seine architektonischen Visionen zu verwirklichen. Wenn es ihm schon verwehrt bleibt, "einst selbst in einer Reihe mit Michelangelo und Bernini und Domenico Fontana zu stehen, selbst einer der Baumeister des Vatikans zu sein, von der Historie auf den Olymp der Kunst erhoben" (S. 287), dann will er wenigstens "dabeisein, wenn der Geist des Daedalus die Stadt zu etwas Neuem formt, zu etwas Besserem, Großartigem! Die Stadt und die ganze Welt!" (S. 370) Deshalb will er das zweite Tor zum 'Haus des Daedalus' um jeden Preis finden und öffnen, und um dieses Ziel zu erreichen, geht er buchstäblich über Leichen - fällt aber schließlich, wie sollte es anders sein, selbst seiner Obsession zum Opfer. Nach einem dramatischen Showdown in der zum Kapuzinerkloster an der Via Vittorio Veneto gehörenden Kirche Santa Maria della Concezione wird das hinter der berühmten Knochengruft verborgene Tor wieder verschlossen, und die noch verbliebenen 'Adepten der Schale', die nun plötzlich gar nicht mehr so eindeutig 'die Bösen' sind, werden dafür Sorge tragen, dass das auch so bleibt.

Es ist vom Autor offenbar als symbolische Zusammenfassung des Geschehens rund um das 'Haus des Daedalus' gemeint, wenn er in einer Pssage des Epilogs den Obelisken auf dem Petersplatz beschreibt: "In der Metallkugel auf der Spitze des Obelisken wurde, so die Legende, das Herz Julius Cäsars aufbewahrt, vielfach durchstochen von den Klingen der Verräter. Ein heidnisches Herz im Zentrum des Katholizismus. Man hatte ein Kreuz auf die Kugel gesetzt, das vorerst letzte Wort im uralten Kampf der Religionen." (S. 378)

Die Fülle handelsüblicher antichristlicher und antikirchlicher Klischees, Vorurteile und Verdrehungen, in denen der Roman schwelgt, wird naturgemäß manche Leser mehr stören als andere. Aber auch davon abgesehen ist Das Haus des Daedalus in vielerlei Hinsicht ein lausiges Stück Arbeit. Die Handlung wirkt über weite Strecken wirr und in vielen Details unglaubwürdig - auch wenn das Genre 'Mystrey-Thriller' dem Autor natürlicherweise allerlei Ausreden für Verstöße gegen die Wahrscheinlichkeit an die Hand gibt. So scheint Kai Meyer durchaus den Einwand vorausgesehen zu haben, wie es denn möglich sein solle, anhand der bloßen Umrisszeichnung eines Schlüssels einen funktionierenden Nachshclüssel anzufertigen: Der Kapuziner-Abt Dorian spricht in diesem Zusammenhang vom "Hauch eines Wunders" (S. 348).

Was die Integration der notwendigen kunsthistorischen und mythologischen Hintergundinformationen in die Romanhandlung betrifft, kann man beim besten Willen nicht behaupten, dass der Autor dabei besonderes Geschick oder auch nur besondere Mühe walten ließe. Informationen über das Leben und Werk Piranesis, über den Diskos von Phaistos oder über den Mythos vom Minotaurus werden als Monologe vorgetragen, nur sporadisch unterbrochen von Zwischenfragen und Randbemerkungen; meist ist es Coralina, die die Fakten referiert, sodass der Leser sich irgendwann fragt, wie Jupiter 'Kunstdetektiv' sein kann, wenn er so gut wie überhaupt nichts weiß. (Immerhin wird es dadurch aber plausibel, dass Miwas Diebstahl seiner Unterlagen beinahe das Ende seiner Karriere bedeutet hätte: Seiner Aufzeichnungen beraubt, war Jupiter auf das angewiesen, was er im Kopf hat - und das ist, wie der Leser immer wieder feststellen kann, nicht viel.) - Coralinas kunsthistorische Referate sind zum Teil von spätpubertärer Flapsigkeit gekennzeichnet, zum Teil lesen sie sich aber auch so trocken wie mittelprächtige Wikipedia-Artikel. À propos Wikipedia: Eingedenk der Tatsache, dass dieser Roman aus dem Jahr 2000 stammt und in der Gegenwart spielen soll, möchte man den Protagonisten angesichts ihrer unbeholfenen Recherhcemethoden manches Mal zurufen: "Habt ihr denn kein Internet?!" - Haben sie aber offenbar doch, denn um herauszufinden, was es mit der Bezeichnung 'Haus des Daedalus' für das unterirdische Labyrinth auf sich hat, recherchiert Coralina sehr wohl auch online. Ein paar Kapitel zuvor haben sie und Jupiter aber noch das Antiquariat von Coralinas Großmutter auf den Kopf gestellt, um ein Buch mit einer Abbildung des Diskos von Phaistos zu finden.

Der Protagonist Jupiter ist überhaupt der größte Schwachpunkt des Romans. Ein blasser, schwankender, mit dem Geschehen, in das er unversehens verwickelt wird, völlig überforderter Charakter, der aktiv kaum etwas anderes zur Handlung beiträgt als fade Witzeleien, die der Autor wohl für Sarkasmus gehalten hat, die aber tatsächlich eher wie teenagerhafte Patzigkeit wirken. Sollte der Autor gemeint haben, mit einem farblosen Durchschnittstypen könne der Leser sich besser identifizieren als mit einem überlebensgroßen Helden, dann muss man leider erwidern: Mit einem derartigen Waschlappen will man sich nicht identifizieren. Farbiger ist dem Verfasser die Co-Heldin Coralina geraten; nur dass er sich nicht recht entscheiden kann, ob er sie als rehäugige Kindfrau, als scharfzüngige Zicke oder als souveräne 'Frau der Tat' zeichnen will. Vielleicht meinte er aber auch, bei einer jungen Frau von Mitte Zwanzig seien solche charakterlichen Ambivalenzen ganz natürlich, und ich würde nicht einmal völlig ausschließen, dass da was Wahres dran ist.

Gegen Ende mutiert Coralina dann gänzlich zur Actionheldin im Comic-Format, deren Verve der phlegmatische Jupiter hilflos hinterher eiert. An Action fehlt es dem Roman insgesamt nicht, es gibt Verfolgungsjagden zu Fuß durch unterirdische Wasserleitungen und über baufällige Dächer und mit dem Auto durch das berüchtigte Verkehrschaos Roms, es gibt Schießereien und Explosionen, und zuweilen driftet der Roman geradezu ins Genre der Actionkomödie ab, wo die Helden, wie weiland Chuck Norris und Louis Gossett jr., noch in größter Bedrängnis stets einen flotten Spruch auf den Lippen haben müssen - so etwa, wenn Coralina mit ihrem Lieferwagen durch eine Schranke brettert und dies mit den Worten kommentiert: "Das wollte ich schon immer mal tun" (S. 333). Das Problem ist, dass all das auf einer Buchseite längst nicht so wirkt wie auf der Leinwand. Gut möglich, dass Das Haus des Daedalus als Film besser funktionieren würde als in Buchform; womit ich aber wahrhaftig niemandem nahe legen möchte, dieses Machwerk zu verfilmen.

Die völlige Unfähigkeit des Autors, Spannung anders als durch Action zu erzeugen, und seine ebenso große Unfähigkeit, auch nur einem einzigen der auf dem Wege liegenden Klischees auszuweichen, machen Das Haus des Daedalus über weite Strecken zu einer sehr zähen Lektüre. Kai Meyer hat seither eine Vielzahl weiterer Romane publiziert, und ich kann ihm nur wünschen, dass sie ihm besser gelungen sein mögen; noch einen davon zu lesen, ist mir die Lust allerdings gründlich vergangen. Alles in allem habe ich den Verdacht, dass gerade der populäre, um nicht zu sagen populistische Antiklerikalismus des Romans die einzige 'Qualität' ist, die dieses Buch zu einem Verkaufsschlager machen konnte; die oben angesprochene Titeländerung für die Taschenbuchausgabe, die dem prospektiven Käufer und Leser diesen Aspekt geradezu ins Gesicht klatscht, scheint jedenfalls dafür zu sprechen.

(Und jetzt bin ich froh, mit diesem Buch fertig zu sein. Allerdings warten in meiner Klobibliothek noch andere Romane ähnlich fragwürdiger Qualität darauf, von mir rezensiert zu werden; der Stoff für Beiträge wie diesen dürfte mir also nicht so bald ausgehen...)

Donnerstag, 6. Dezember 2012

Bärtige Männer mit komischen Kopfbedeckungen

Na, meine Lieben - habt Ihr gestern Abend auch brav Eure Stiefel vor die Tür gestellt? Und, war heute Morgen was Schönes drin - oder waren die Stiefel geklaut? Ich jedenfalls habe mein Schuhwerk schön in der Wohnung behalten, denn ich verspüre ein gewisses Misstrauen gegenüber bärtigen Gestalten mit Zipfelmützen, die Gerüchten zufolge nachts um die Häuser schleichen. Denken wir nur mal ans Sandmännchen. Seit Jahrzehnten wird diese mythische Gestalt den Kindern in Ost und West als liebenswerter kleiner Gesell verkauft, der ihnen noch eine hübsche Gutenachtgeschichte mitbringt, ehe sie ins Bett müssen - was aber liest man in E.T.A. Hoffmanns Novelle Der Sandmann (1817) über diese Gestalt?
"Das ist ein böser Mann, der kommt zu den Kindern, wenn sie nicht zu Bett gehen wollen und wirft ihnen Händevoll Sand in die Augen, daß sie blutig zum Kopf herausspringen, die wirft er dann in den Sack und trägt sie in den Halbmond zur Atzung für seine Kinderchen; die sitzen dort im Nest und haben krumme Schnäbel, wie die Eulen, damit picken sie der unartigen Menschenkindlein Augen auf."
Mich schaudert! Wer garantiert mir da, dass der Nikolaus nicht eine ähnlich zwielichtige Figur ist? Nun, wenigstens hatte ich letzte Nacht nicht zu befürchten, dass er oder sein dämonischer Sidekick Knecht Ruprecht zum Kamin hereinkämen - zum Glück hab' ich Zentralheizung.

Nun aber mal Scherz beiseite: Wie in der volkstümlichen Überlieferung aus dem Hl. Nikolaus von Myra (oder von Bari) der nächtliche Geschenkebringer der Vorweihnachtszeit wurde, mag ein kulturhistorisch interessantes Thema sein, aber darauf will ich hier nicht groß eingehen; zumal man davon ausgehen darf, dass zumindest hierzulande der Nikolaus in seiner Funktion  als Kinderbeschenker schon seit Langem im Schatten seines säkularen Doppelgängers, des Weihnachtsmanns, steht. Ein Stiefel voller Süßigkeiten am Morgen des 6. Dezember mag geeignet sein, den lieben Kleinen die Wartezeit auf Weihnachten zu verkürzen, aber die richtig große Bescherung gibt's dann ja wohl doch erst am Heiligabend. Man geht wohl kaum fehl, anzunehmen, dass der Weihnachtsmann gewissermaßen aus der volkstümlichen Figur des Hl. Nikolaus, kombiniert mit Zügen seines oben erwähnten Begleiters, entstanden ist, aber ohne Zweifel hat der rotbemäntelte Rauschebart ein Eigenleben entwickelt, das den christlichen Hintergrund der Nikolaus-Figur längst abgeschüttelt hat - und ebenso auch die düsteren Züge des Knecht Ruprecht, oder kennt jemand ein Kind, das in den letzten Jahren eine Rute (und nur eine solche) zu Weihnachten bekommen hat?

Unter Kritikern der Kommerzialisierung des Weihnachtsfest hält sich hartnäckig die Behauptung, der (insgesamt wohl nicht zu Unrecht) als Symbolfigur dieser Entwicklung betrachtete Weihnachtsmann sei in den 1930er Jahren von Coca Cola erfunden worden; es ist ja auch sehr auffällig, das seine mit weißem Pelz verbrämte rote Kleidung so perfekt zum corporate design dieses Braune-Brause-Herstellers passt. Tatsächlich setzt Coca Cola den Weihnachtsmann seit 1931 als Werbeträger ein, und man kann wohl davon ausgehen, dass diese Werbung sehr erheblich zur weltweiten Vereinheitlichung der Weihnachtsmann-Ikonographie beigetragen hat. Hoffmann von Fallerslebens bis heute populäres Weihnachtslied "Morgen kommt der Weihnachtsmann" entstand allerdings schon 1840, und da gab es Coca Cola noch gar nicht; bereits aus dem Jahr 1823 datiert das anonym veröffentlichte Gedicht The Night Before Christmas, in dem Santa Claus mit seinem von Rentieren gezogenen fliegenden Schlitten auftritt; alle acht Rentiere haben Namen - Dasher und Dancer, Prancer und Vixen, Comet und Cupid, Donner und Blitzen -; das (heute wohl berühmteste) neunte Rentier, der rotnasige Rudolph, wurde hingegen erst 1939 erfunden, als Werbeträger für die Kaufhauskette Montgomery Ward aus Chicago - so viel zum Thema Kommerzialisierung.

Wie dem auch sei: Unlängst erinnerte mich ein Beitrag auf dem Blog Das hörende Herz , in dem zu Recht betont wurde, dass es an Weihnachten doch eigentlich um etwas ganz Anderes als "um einen dickbäuchigen, rotgewandeten und -bemützten alten Mann geht, der am Nordpol lebt und für die Spielzeug- bzw. Geschenkeindustrie arbeitet", an ein interessantes Fernseherlebnis, das ich vor einigen Jahren hatte; es handelte sich um die Weihnachtsepisode der im Ganzen durchaus charmanten Cartoonserie "Disneys Große Pause". (Ja, ich bekenne mich dazu, dass ich bis weit ins Erwachsenenalter hinein sehr gern Zeichentrickserien gesehen habe, die eigentlich für Kinder gedacht sind, und zuweilen habe ich noch heute Spaß daran. Und das, obwohl ich keine eigenen Kinder habe, mit denen zusammen ich mir diese Sendungen ansehen könnte. Zu meiner Verteidigung kann ich vorbringen, dass ich sie natürlich aus einem anderen Blickwinkel betrachte als die primäre Zielgruppe. Und wer mir das nicht glaubt, der wird mir dafür umso eher glauben, dass ich irgendwo tief in meinem Innern ein unverbesserlicher Kindskopf bin.) Die Serie, wie gesagt, finde ich gar nicht übel; sie stellt Kinder mit ganz unterschiedlichen Charakteren,  Interessen, Fähigkeiten und ethnischen Hintergründen dar und demonstriert, dass sie trotz all dieser Unterschiede gute Freunde sein können, und zudem hat die Serie einige hübsch skurrile Züge - so wird der Pausenhof von einem Sechstklässler als "König" beherrscht, der auf dem Klettergerüst thront und einen Hockeyschläger als Zepter trägt, und die Kinder des angrenzenden Kindergartens werden als archaischen Riten frönender Barbarenstamm dargestellt. - Die besagte Weihnachtsfolge entlockte mir aber doch das eine oder andere Stirnrunzeln. Zu Beginn der Episode verliert ein Weihnachtsmanndarsteller vor den Augen der Kinder Mütze und Bart und weckt damit verstörende Zweifel an der Existenz des Weihnachtsmanns - derartige Zweifel und ihre Widerlegung sind speziell in der US-amerikanischen Weihnachtsfolklore ein beliebtes Thema, wofür der berühmte Leitartikel "Is There a Santa Claus?", der 1897 in der New York Sun erschien, ein ebenso prägnantes Beispiel darstellt wie der Spielfilm Das Wunder von Manhattan (1947, Remake 1994). Doch zurück zur Große Pause-Episode: Diese gipfelt in einer multikulturellen Schul-Weihnachtsfeier, bei der die jüdischen Kinder das Brauchtum des Chanukka-Fests und die afroamerikanischen Kinder jenes des ebenfalls Ende Dezember gefeierten Fests Kwanzaa vorstellen; ein irgendwie keltisch/germanisch sein sollendes Sonnenwendritual kommt ebenfalls vor. Den Höhepunkt der Feier bildet jedoch der Auftritt eines Schülers in der Verkleidung des - ausdrücklich als Repräsentant des christlichen Weihnachtsfests bezeichneten! - Weihnachtsmanns. Vom Jesuskind, von Maria und Joseph, von Ochs und Esel keine Spur. Man muss wohl nicht unbedingt besonders christlich gesonnen sein, um das zumindest sonderbar zu finden. Sicher ist es nett, dass die Zuschauer der Sendung etwas über Chanukka und Kwanzaa lernen, und den Hinweis auf das heidnische Sonnenwendfest lasse ich mir auch noch gefallen; den impliziten Hinweis darauf, dass kulturelle Vielfalt auch religiöse Vielfalt bedingt, finde ich vom Ansatz her durchaus lobenswert. Aber warum wird ausgerechnet der christliche Gehalt von Weihnachten unterschlagen und durch die Symbolfigur des säkularisierten und kommerzialisierten Weihnachtsfests ersetzt? Soll man daraus lernen, dass lediglich Minderheiten ihre pittoresken religiösen Traditionen öffentlich zelebrieren dürfen, während die christlich geprägte Bevölkerungsmehrheit sich mit einer 'weltanschaulich neutralen' Symbolfigur bescheiden soll, durch die sich kein Andersgläubiger auf die Füße getreten fühlen muss?

Noch eine andere Erinnerung kommt mir dabei in den Sinn: Vor einigen Jahren, und nicht zur Weihnachtszeit, war ich bei einem türkischstämmigen - muslimisch erzogenen, aber atheistischen - Freund zum Essen eingeladen. Dieser Freund hatte zwei kleine Töchter, die es sehr spannend fanden, dass ein Christ zum Essen kommt; und die jüngere der beiden Töchter konfrontierte mich allen Ernstes mit der Frage, ob ich an den Weihnachtsmann glaube. Auch wenn ich wohl davon ausgehen konnte, dass mein Freund seine Kinder nicht zum Glauben an den Weihnachtsmann erzogen haben dürfte, hatte ich irgendwie Hemmungen, diese Frage, wenn ein Kind sie mir stellte, schlicht zu verneinen; ich gab mir jedoch alle Mühe, den Mädchen zu erläutern, worum es im Christentum an Weihnachten eigentlich geht. - Tatsächlich scheint es auch bei durchaus erwachsenen Atheisten - oder allgemeiner gefasst: Nichtchristen - einigermaßen verbreitet zu sein, den christlichen Glauben mit dem Glauben an den Weihnachtsmann in Verbindung zu bringen, dies aber wohl weniger in der Annahme, der Weihnachtsmann sei eine Gestalt des Christentums, sondern eher in der Absicht, den Glauben an "Höhere Mächte", deren Wirken und Walten sich dem naturwissenschaftlich orientierten Verstand entzieht, allgemein lächerlich zu machen. Darauf, was den Glauben an den Weihnachtsmann vom christlichen Verständnis des Glaubens an Gott unterscheidet, ist erst kürzlich Josef Bordat eingegangen, sodass ich mich damit begnügen kann, hier auf seinen diesbezüglichen Beitrag zum Blog Das Ja des Glaubens zu verweisen.

Zu Pfingsten machen sich diverse Fernsehsender alle Jahre wieder einen Spaß daraus, Passanten zu befragen, worum es bei diesem Fest denn gehe - stets mit demselben Ergebnis: Die meisten Befragten - jedenfalls soweit ihre Antworten denn im Fernsehen gezeigt werden - haben keine Ahnung. Ich nehme mal an, zu Weihnachten gibt es die entsprechenden Umfragen ebenfalls, und bin verhalten optimistisch, dass die Antworten zu diesem Fest aus christlicher Sicht tendenziell befriedigender ausfallen dürften. Aber eben auch nur tendenziell. Und befriedigend, das weiß jedes Schulkind, heißt noch lange nicht gut. Die christliche Botschaft von Weihnachten im öffentlichen Bewusstsein zu halten, ist - trotz "Stille Nacht" und "Kommet Ihr Hirten" - in unseren Tagen offenkundig eine keineswegs gering zu schätzende Aufgabe.