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Sonntag, 25. Februar 2018

Die Armen habt ihr immer bei euch



In diesem Jahr feiern die „Tafeln“[*] ihr 25-jähriges Bestehen in Deutschland. Das zentrale Anliegen dieser gemeinnützigen Hilfsorganisation ist es, Lebensmittel, die im Handel nicht mehr verkauft werden können und ansonsten entsorgt werden müssten, an Bedürftige zu verteilen. Die erste Initiative dieser Art wurde 1993 in Berlin gegründet, seit 1995 existiert ein bundesweiter Dachverband. Heute haben die Tafeln in Deutschland rund 60.000 ehrenamtliche Mitarbeiter, die in über 2.000 „Tafel-Läden“ und anderen Ausgabestellen wöchentlich etwa eineinhalb Millionen Menschen mit Lebensmitteln versorgen. Rund ein Viertel der Empfänger sind Kinder und Jugendliche. 


25 Jahre „Tafeln“ in Deutschland – ein Grund zum Feiern? Nicht alle sehen das so. Kritiker bemängeln, Hilfeleistungen, die Bedürftige in der Position von Bittstellern und Almosenempfängern belassen, seien keine Lösung für das Armutsproblem in Deutschland. Private Initiativen, die Armut lediglich lindern, trügen dazu bei, die Politik aus der Verantwortung zu entlassen, die strukturellen Ursachen von Armut zu bekämpfen. Die unverkennbar große Nachfrage nach den Leistungen der Tafeln beweise das Versagen des Sozialstaats. 

Diese Stoßrichtung der Kritik ist an und für sich nicht neu. In Deus caritas est, der ersten Enzyklika Papst Benedikts XVI., heißt es, „seit dem 19. Jahrhundert“ habe sich dieser „Einwand, der dann vor allem vom marxistischen Denken nachdrücklich entwickelt wurde“, auch und besonders gegen „die kirchliche Liebestätigkeit“ gerichtet:
„Die Armen, heißt es, bräuchten nicht Liebeswerke, sondern Gerechtigkeit. Die Liebeswerke – die Almosen – seien in Wirklichkeit die Art und Weise, wie die Besitzenden sich an der Herstellung der Gerechtigkeit vorbeidrückten, ihr Gewissen beruhigten, ihre eigene Stellung festhielten und die Armen um ihr Recht betrügen würden. Statt mit einzelnen Liebeswerken an der Aufrechterhaltung der bestehenden Verhältnisse mitzuwirken, gelte es, eine Ordnung der Gerechtigkeit zu schaffen, in der alle ihren Anteil der Welt erhielten und daher der Liebeswerke nicht mehr bedürften.“ (DCE 26)
An solchen Äußerungen ist, wie Benedikt XVI. lakonisch anmerkt, „zugegebenermaßen einiges richtig, aber vieles auch falsch“. Formuliert wurden sie ursprünglich in einer Zeit, als Armut in Deutschland noch ein Massenphänomen war; dass sie bis heute immer wieder laut werden, wirft nicht nur ein bezeichnendes Licht auf die beharrliche Fortdauer marxistisch inspirierter Gesellschaftstheorien, sondern auch ganz allgemein darauf, wie schwer sich eine inzwischen reich gewordene Gesellschaft damit tut, dass Armut und Hunger in ihren Reihen dennoch nicht gänzlich ausgerottet sind. In dem Unbehagen, das die bloße Existenz von Armut inmitten einer Wohlstandsgesellschaft auslöst, mag sich auch eine Angst vor dem eigenen sozialen Abstieg äußern, ein vages Bewusstsein dafür, dass der eigene relative Wohlstand möglicherweise auf tönernen Füßen steht.

Für Christen könnte und sollte gerade die Fastenzeit ein Anlass sein, sich zu fragen, welche Anforderung die Tatsache, dass in unserer eigenen Nachbarschaft Menschen nicht genug zu essen haben, an uns stellt. Wie die Evangelien berichten, ermahnte Jesus Christus Seine Jünger kurz vor dem Beginn Seiner Passion: „Die Armen habt ihr immer bei euch“ (Mt 26,11). Die Geschichte hat dieser Einschätzung Recht gegeben: Kein politisches und kein ökonomisches System hat es auf Dauer geschafft, Armut zu beseitigen. Und gerade diejenigen Ideologien, die dies am vehementesten versprochen haben, haben die katastrophalsten Ergebnisse erzielt. Es scheint, dass der Versuch, die Armut zu beseitigen, nur allzu leicht dazu verführt, die Armen beseitigen zu wollen.

So gesehen liegt es nahe, sich zu fragen, ob sich hinter der Forderung nach politischen Maßnahmen gegen Armut nicht zuweilen auch der Wunsch verbirgt, persönlich nicht mit der Armut vor der eigenen Haustür behelligt zu werden. Soll sich doch der Staat darum kümmern – wozu zahle ich schließlich Steuern? Peter Maurin, der Begründer der Catholic Worker-Bewegung in den USA, merkte dazu an, in einer solchen Haltung wiederhole sich „die Frage des ersten Mörders: 'Bin ich meines Bruders Hüter?'“

Aus christlicher Sicht ist dagegen zu bedenken, dass „die Hungrigen speisen“ nicht ohne Grund an erster Stelle unter den Werken derBarmherzigkeit steht, die Christus Seinen Jüngern in Seiner Endzeitrede in Matthäus 25 explizit und nachdrücklich aufträgt. Weiter werden genannt: den Dürstenden zu trinken geben; die Nackten bekleiden; die Fremden aufnehmen; Kranke und Gefangene besuchen. „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“, betont Jesus Christus; und diese Ermahnung richtet sich an jeden Einzelnen. Davon, die Werke der Barmherzigkeit an professionelle Dienstleister oder gar an staatliche Behörden zu delegieren, ist keine Rede. Damit soll nicht bestritten werden, dass auch der Staat Verantwortung für die Armen und Kranken zu tragen hat; dennoch können politische Maßnahmen ehrenamtliches Engagement nicht gänzlich überflüssig machen – und sollten es auch nicht. Um nochmals die Enzyklika Deus caritas est zu zitieren:
„Liebe – Caritas – wird immer nötig sein, auch in der gerechtesten Gesellschaft. Es gibt keine gerechte Staatsordnung, die den Dienst der Liebe überflüssig machen könnte. Wer die Liebe abschaffen will, ist dabei, den Menschen als Menschen abzuschaffen. Immer wird es Leid geben, das Tröstung und Hilfe braucht. Immer wird es Einsamkeit geben. Immer wird es auch die Situationen materieller Not geben, in denen Hilfe im Sinne gelebter Nächstenliebe nötig ist.“ (DCE 28)
Kehren wir zum konkreten Beispiel der „Tafeln“ zurück, fällt ein Aspekt ihrer Tätigkeit als besonders bemerkenswert ins Auge: die Herkunft der dort an Bedürftige ausgegebenen Lebensmittel. In der Hauptsache handelt es sich um Waren, die aus dem Handel aussortiert wurden – zumeist wegen eines nahen oder bereits abgelaufenen Mindesthaltbarkeitsdatums, zuweilen aber auch aufgrund von Verpackungsfehlern oder Beschädigungen. Dieser Umstand weist auf das Paradox hin, dass Menschen hungern, während gleichzeitig ein enormes Überangebot an Nahrungsmitteln herrscht: Obwohl pro Jahr etwa 100.000 Tonnen nicht verkäuflicher Lebensmittel an die Tafeln gespendet werden, werden in Deutschland Schätzungen zufolge immer noch 18 Millionen Tonnen Lebensmittel pro Jahr weggeworfen – in sozialer, wirtschaftlicher und nicht zuletzt auch in ökologischer Hinsicht ein Problem von gewaltigen Ausmaßen. Papst Franziskus weist in seiner Enzyklika Laudato si' darauf hin, dass weltweit sogar „etwa ein Drittel der produzierten Lebensmittel verschwendet wird“, und merkt dazu an, dass „Nahrung, die weggeworfen wird, gleichsam vom Tisch des Armen geraubt wird“ (LS 50). Angesichts des schieren Ausmaßes dieser Nahrungsmittelverschwendung ist es nicht verwunderlich, dass es neben den Tafeln auch noch andere Initiativen gibt, die sich darum bemühen, in Kooperation mit Lebensmittelgroß- und Einzelhändlern Nahrungsmittel vor der Mülltonne zu retten. So etwa das 2012 gestartete Projekt Foodsharing, das noch erheblich dezentraler organisiert und weniger institutionalisiert ist als die Tafeln und praktisch zur Gänze von der Eigeninitiative von Privatpersonen lebt. Koordiniert werden die Aktivitäten der einzelnen Beteiligten in der Hauptsache mittels einer Internetseite. Dort ist unter anderem nachzulesen, dass die Initiative bereits über 13 Millionen Tonnen Lebensmittel gerettet hat und dass fast 35.000 Menschen ehrenamtlich an diesem Projekt mitwirken. Wer im Rahmen von Foodsharing als „Lebensmittelretter“ tätig wird, ist im Wesentlichen selbst dafür verantwortlich, was er mit den vor dem Weggeworfenwerden bewahrten Lebensmitteln anfängt; für den Eigenbedarf sind die Mengen jedoch zumeist erheblich zu groß, weshalb sich im Prinzip jeder „Lebensmittelretter“ sein eigenes Netzwerk zur Weiterverteilung schafft. Vielfach werden auf diesem Wege auch kirchliche Projekte mit Lebensmittelspenden unterstützt – so etwa von Pfarreien oder Ordensgemeinschaften betriebene Suppenküchen oder andere Einrichtungen für Obdachlose und sonstige Bedürftige.

Nebenbei bemerkt macht die dezentrale Organisationsstruktur von „Foodsharing“ exemplarisch deutlich, dass Internetseiten und soziale Netzwerke ganz neue Möglichkeiten eröffnen, ehrenamtliche Initiativen von Einzelpersonen zu vernetzen und zu koordinieren, ohne dass es dazu großer Verbände oder bürokratischer Institutionen bedürfte. Was im Kampf gegen Lebensmittelverschwendung funktioniert, könnte auch in anderen Bereichen Schule machen. Konkurrenzdenken gegenüber bestehenden Wohlfahrtsverbänden ist dabei unangebracht: Es gibt mehr als genug zu tun.

Als Christen befinden wir uns in einer Zeit der Vorbereitung auf das Osterfest. Die Kirche hat den Aufruf zur persönlichen inneren Läuterung durch Fasten, Buße und Gebet in dieser Zeit des Kirchenjahres stets auch mit dem Aufruf zur Wohltätigkeit, zum Dienst an den Armen verbunden. Sicherlich ist es gut und richtig, dies in Form von Geld- oder auch Sachspenden an wohltätige Organisationen zu verwirklichen; ich möchte die genannten Beispiele aber auch als Anregung verstanden wissen, darüber hinaus im persönlichen Umfeld auch praktisch aktiv zu werden. Viele kleine, lokale Initiativen suchen ständig nach ehrenamtlichen Helfern für ihre Arbeit. Und was dabei besonders wichtig ist: Unser persönlicher Einsatz hilft nicht nur den Bedürftigen; er verändert auch uns selbst. Armut inmitten einer Wohlstandsgesellschaft ist selten rührend oder romantisch; oft bietet sie einen ausgesprochen unschönen Anblick, und so ist das Bedürfnis, sie lieber auszublenden, nur allzu verständlich. Aber nur wenn wir bereit sind, den Armen ins Gesicht zu sehen, können wir – wie es uns als Christen aufgetragen ist – Christus in ihnen erkennen.




[*] Dieser Kommentar war bereits fertiggestellt, bevor die "Tafeln" durch aktuelle Vorkommnisse in Essen und Bochum-Wattenscheid plötzlich in aller Munde (no pun intended) waren. Ich habe darauf verzichtet, nachträglich Bezüge zu diesen Vorgängen einzuarbeiten, da es mir hier um Grundsätzlicheres geht. 



Dienstag, 6. Februar 2018

Was habe ich eigentlich gegen das "Wort zum Sonntag"?

Gestern veröffentlichte das Erzbistum Berlin auf seiner Facebook-Seite einen Link zur aktuellen "Wort zum Sonntag"-Folge - weil eine Pastoralreferentin aus Neukölln, gegen die ich persönlich übrigens überhaupt nichts habe, die Sprecherin war. Zunächst ohne mir das Video angesehen zu haben (das habe ich später nachgeholt, und zum Inhalt dieser konkreten Folge ließe sich auch so Manches sagen, aber darum geht es mir hier eigentlich nicht), ließ ich mich zu dem Kommentar hinreißen: 
"Niemand, wirklich niemand braucht das 'Wort zum Sonntag'." 
Damit handelte ich mir natürlich wieder mal Ärger ein. "Einseitig" sei diese Stellungnahme, wurde mir vorgehalten. Ja, sorry. Wenn eine Sichtweise "einseitig" ist, ist sie darum falsch? Wenn jemand der Meinung ist, dass ich mit meiner Einschätzung Unrecht habe, dann soll er doch bitte versuchen, mich zu überzeugen, dass es auch etwas Gutes am "Wort zum Sonntag" gibt, und nicht von mir erwarten, die Gegenargumente gegen meine These gleich selber mitzuliefern. 

Aber okay, Argumente für meine These habe ich zunächst auch nicht geliefert. Dann reiche ich die jetzt mal nach. 

Was also ist, unabhängig von der Qualität der einzelnen Folgen, an der Sendereihe "Das Wort zum Sonntag" so Kacke? Nicht mehr und nicht weniger als der Umstand, dass diese Sendereihe das (konfessionsübergreifende) Flaggschiff und Paradebeispiel einer dominierenden medialen Selbstdarstellungsstrategie der Großkirchen in Deutschland ist, die ich für fatal halte. Es ist eine Selbstdarstellungsstrategie, die auf die - zugegebenermaßen sehr große - Zielgruppe der "Distanzierten" abzielt; also derer, die zwar Kirchensteuer zahlen, aber ansonsten "mit der Kirche nicht viel am Hut haben". Na, das ist aber doch eigentlich gut, dass man die erreichen will, oder? 

Nun ja: Das kommt darauf an, warum und wozu man sie erreichen will. 

Wir alle - das setze ich einfach mal voraus - kennen von Kindesbeinen an das pastoraltheologische Mantra, man müsse "die Leute da abholen, wo sie stehen". Klingt erst mal plausibel: Wo sollte man sie denn sonst abholen? In Wirklichkeit will die kirchliche PR-Strategie, für die das "Wort zum Sonntag" so unschön typisch ist, aber gar niemanden irgendwo abholen; die sollen schön da stehenbleiben, wo sie stehen, denn genau da will man sie haben. Das einzige, was man von diesen Leuten haben will, ist ihr Geld

Symbolbild, Quelle: Pixabay 

Das klingt jetzt nach einer bösen Unterstellung, und bis vor kurzem hätte ich selber nicht geglaubt, dass es gar so arg ist. Die Lektüre eines Bündels religionssoziologischer Analysen und daraus abgeleiteter Handlungsempfehlungen an die Kirche(n) hat mich diesbezüglich eines Besseren bzw. Schlimmeren belehrt. Einflussreiche Kirchenberater wie z.B. Detlef Pollack argumentieren ganz offen, die Kirche müsse sich vor allem um die Distanzierten bemühen, da diese für die institutionelle Stabilität notwendig seien. Sich um die Distanzierten zu bemühen, heißt aber gerade nicht, zu versuchen, sie aus ihrer Distanziertheit herauszuholen. Das Risiko, sie bei diesem Versuch ganz zu verlieren, ist viel zu groß, denn offenbar wollen die Leute ja distanziert sein. Also muss man sie darin bestärken. Klingt komisch, is' aber so - auch wenn es in offiziellen Verlautbarungen wie dem EKD-Impulspapier "Kirche der Freiheit" (2006) notdürftig mit wohlklingendem Pastoraltheologen-Sprech  ("Treue in Distanz", "Kirche bei Gelegenheit" u. dergl.) verbrämt wird. Polemisch könnte man sagen, der Unterschied zwischen einem Pastoraltheologen und einem für die Kirche tätigen Unternehmensberater liege nur darin, dass der letztere nicht einmal so tut, als ginge es ihm um etwas anderes als die Unternehmensbilanz. 

Also, nochmals: Man braucht die Mitgliedsbeiträge der Distanzierten, und deshalb will man ihnen vermitteln, dass sie, indem sie die Kirche weiter mitfinanzieren, etwas Gutes tun. Um dieses Ziel zu erreichen, muss man ihnen vorführen, dass die Kirche sich für Dinge einsetzt, die sie - die Zuschauer - gut und richtig finden. Keinesfalls darf man ihnen mit etwas kommen, was sie in irgendeiner Weise herausfordert bzw. ihre Auffassungen über Gut und Schlecht, Richtig und Falsch in Frage stellt. Und genau deswegen ist dem institutionellen Apparat der Kirche(n) nichts so suspekt wie missionarischer Eifer und/oder ein Bekenntnis zum Glauben, das über wohlklingende Gemeinplätze hinausgeht und womöglich gar "unpopuläre" Glaubenslehren einschließt. Wenn man sich das einmal klargemacht hat, wundert man sich über so Manches in der medialen Selbstrepräsentation der Kirche(n) nicht mehr.