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Mittwoch, 31. Mai 2017

Was ist dran an der "Benedict Option"? (Teil 3)

So, Freunde: Nach einem vorübergehenden Abstieg in die geistlichen Niederungen des Evangelischen Kirchentages wird es nun aber Zeit, dass ich meine Lektürenotizen zu Rod Drehers "The Benedict Option" fortsetze. Das zweite Kapitel des Buches trägt die Überschrift "Die Wurzeln der Krise". Darin wagt sich der Autor - nach der einleitenden Schilderung eines Verandagesprächs zwischen zwei alten Damen, die sprichwörtlich "die Welt nicht mehr verstehen" - an einen geistes- bzw. ideengeschichtlichen Abriss der Ursachen dafür, dass eine traditionell christliche Weltanschauung der modernen Gesellschaft zutiefst fremd geworden ist. Dabei greift er erheblich weiter in die Geschichte zurück, als man hätte annehmen können: 
"Der Verlust der christlichen Religion ist die Ursache dafür, dass der Westen seit geraumer Zeit dabei ist, sich zu fragmentieren - ein Prozess, der an Geschwindigkeit zunimmt. Wie ist es dazu gekommen? Im Laufe von sieben Jahrhunderten haben fünf bahnbrechende Ereignisse die westliche Zivilisation erschüttert und sie des Glaubens ihrer Vorväter beraubt:
  • im 14. Jahrhundert der Verlust des Glaubens an den integralen Zusammenhang zwischen Gott und Schöpfung - oder, in philosophischer Terminologie, zwischen transzendenter und materieller Realität; 
  • der Zusammenbruch von religiöser Einheit und religiöser Autorität in der protestantischen Reformation des 16. Jahrhunderts; 
  • die Aufklärung im 18. Jahrhundert, die die christliche Religion durch den Kult der Vernunft ersetzte, das religiöse Leben privatisierte und das Zeitalter der Demokratie einläutete; 
  • die Industrielle Revolution (ca. 1760-1840) und der Aufstieg des Kapitalismus im 19. und 20. Jahrhundert; 
  • die Sexuelle Revolution (1960-heute)." 
Freilich räumt Dreher ein: 
"Dieser Abriss westlicher Kulturgeschichte seit dem Hohen Mittelalter lässt zugegebenermaßen eine ganze Menge aus. Zudem ist er voreingenommen zugunsten eines intellektuellen Verständnisses historischer Kausalität. Tatsächlich ist es so, dass materielle Erscheinungen oft erst die Geburt von Ideen ermöglichen. Die Entdeckung der Neuen Welt und die Erfindung der Druckerpresse, beides im 15. Jahrhundert, und die Erfindung der Verhütungspille und des Internets im 20. Jahrhundert ermöglichte es Menschen, sich Dinge vorzustellen, die zuvor unvorstellbar waren, und somit neue Gedanken zu denken. Die Geschichte gibt uns keine sauberen und geraden kausalen Linien, die Ereignisse miteinander verbinden und sie in eine klare Ordnung bringen. Geschichte ist ein Gedicht, kein Syllogismus." 
William Hogarth: Tail Piece (1764) 

Historiker werden an dem Geschichtsbild, das Dreher auf den folgenden Seiten entwirft, sicherlich Manches zu bemängeln haben.  Gleichwohl betont der Autor: 
"Es ist wichtig, diese Darstellung - so unvollständig und übersimplifiziert sie auch sein mag - zu begreifen, um zu verstehen, warum der bescheidene benediktinische Weg eine so wirkungsvolle Gegenkraft zu den zersetzenden Strömungen der Moderne darstellt." 
Man könnte ergänzen: Wichtig ist diese Darstellung auch, um dem Leser, der vielleicht meint, Drehers düstere Prognosen über die nahe Zukunft der Christenheit in der westlichen Welt seien überdramatisiert und die Christenheit habe schon viel schlimmere Krisen er- und durchlebt, begreiflich zu machen, wie er zu der Auffassung gelangt, die moderne westliche Kultur habe sich nahezu völlig von ihren christlichen Wurzeln gelöst.

Dem vorhersehbaren Vorwurf, das christliche Mittelalter über Gebühr zu idealisieren, begegnet er mit der Feststellung: 
"Das mittelalterliche Europa stellte keinen christlichen Idealzustand dar. Die Kirche war in spektakulärem Ausmaß korrupt, und die gewaltsame Ausübung von Macht - zuweilen auch durch die Kirche selbst - schien die Welt zu regieren. Aber trotz der tiefgreifenden Gebrochenheit der Welt trugen die Menschen des Mittelalters in ihrer Vorstellung eine kraftvolle Vision von Ganzheit. Dem mittelalterlichen Konsens zufolge konstruierte der Mensch seine Realität auf eine Weise, die ihn in die Lage versetzte, alle Dinge in einer konzeptuellen Harmonie zu sehen und Sinn inmitten des Chaos zu finden." 
Diese mittelalterliche Weltsicht skizziert Dreher unter Berufung auf den kanadischen Philosophen Charles Taylor (*1931) und auf dessen Rezeption von Grundprinzipien der scholastischen Philosophie: 
"Zu den zentralen Lehren der Scholastik gehörte das Prinzip, dass alle Dinge unabhängig vom menschlichen Denken existieren und eine ihnen von Gott gegebene essentielle Natur haben. Diese Auffassung nennt man 'metaphysischen Realismus'. Aus diesem Prinzip leiten sich laut Charles Taylor die drei Grundpfeiler ab, auf denen die mittelalterliche christliche Vorstellungswelt - das heißt, die von allen rechtgläubigen Christen von der Zeit der frühen Kirche bis ins Hochmittelalter geteilte Wahrnehmung der Realität - ruhten:
  • Die Welt und alle Dinge in ihr sind Teil eines von Gott eingerichteten und mit Sinn erfüllten harmonischen Ganzen - und alle Dinge sind Zeichen, die auf Gott hindeuten. 
  • Die Gesellschaftsordnung ist in dieser höheren Ordnung verwurzelt. 
  • Die Welt ist aufgeladen mit spiritueller Kraft. 
Diese drei Pfeiler mussten erst zerbröckeln, ehe die moderne Welt sich aus den Trümmern erheben konnte, sagt Taylor. Und in der Tat zerbröckelten sie. Das geschah nicht auf einmal und nicht auf geradem Wege, aber es geschah." 
Wie Dreher, von dieser Feststellung ausgehend, einen Bogen vom Nominalismusstreit des 14. Jhs. über Renaissance-Humanismus, Reformation und Religionskriege, die Philosophie der Aufklärung und das Zeitalter der Revolutionen, die Industrialisierung und die Weltkriege bis zum Aufstieg der Psychologie und zur Sexuellen Revolution schlägt, ist bei aller modellhaften Vereinfachung faszinierend zu lesen, aber ich möchte mich nicht allzu lange dabei aufhalten, dies im Einzelnen nachzuzeichnen. Auch wenn die Auslassungen, die ich vornehme, womöglich wieder Missverständnissen Vorschub leisten. Lest das Kapitel einfach selber, Leute! -- Einige Punkte möchte ich dennoch besonders hervorheben. So stellt Dreher gleich eingangs, im Zusammenhang mit dem Nominalismusstreit, fest: 
"Das mittelalterliche Weltmodell erzitterte unter philosophischen Attacken, aber es wurde auch von grauenhaften Ereignissen von außerhalb der Welt der Künste und Ideen bis auf den Grund erschüttert. Krieg - besonders der Hundertjährige Krieg zwischen Frankreich und England - verwüstete das westliche Europa, das im 14. Jahrhundert obendrein von einer katastrophalen Hungersnot heimgesucht wurde. Am schlimmsten war aber der Schwarze Tod - eine Seuche, die zwischen einem Drittel und der Hälfte der europäischen Bevölkerung dahinraffte, ehe sie sich wie ein Buschfeuer selbst verzehrte. Wohl wenige Zivilisationen könnten solchen traumatischen Erschütterungen standhalten, ohne dass es zu gewaltigen Umbrüchen käme." 
(Vgl. dazu übrigens auch das Handout The Disastrous 14th Century der University of Wisconsin.)

-- Auch im weiteren Verlauf macht Dreher immer wieder deutlich, dass er die von ihm beschriebenen Phänomene wie Reformation, Aufklärung und Industrialisierung durchaus nicht schlichtweg "verteufeln" will; vielmehr zeigt er auf, dass es sich vielfach um folgerichtige und von guten Absichten getragene Reaktionen auf real existierende Missstände handelte - die aber im Endergebnis dennoch das kollektive Bewusstsein der westlichen Gesellschaften immer weiter von seinen christlichen Wurzeln entfernten. Ausgesprochen interessant sind Drehers Ausführungen zu dem scheinbar paradoxen Faktum, dass die USA trotz der starken christlichen Prägung ihrer Gesellschaft als säkularer Staat gegründet wurden: 
"Die Verfassung der USA, ein zutiefst von der Philosophie John Lockes geprägtes Dokument, privatisiert die Religion, indem sie sie vom Staat trennt. Jedes amerikanische Schulkind lernt, dies als einen Segen zu betrachten, und vermutlich ist es auch einer. Dennoch hatte diese Art der Trennung von sakraler und säkularer Sphäre tiefgreifende Auswirkungen auf die Ausformung des religiösen Bewusstseins der Amerikaner.
Bei allem Guten, das der Grundsatz religiöser Toleranz einem jungen Land bescherte, dessen Bevölkerung aus vielfältigen und miteinander zerstrittenen protestantischen Sekten und einer katholischen Minderheit bestand, legte diese Toleranz zugleich auch das Fundament für einen Ausschluss der Religion aus dem öffentlichen Raum, indem sie diese zu einer Frage privater, individueller Wahl erklärte. [...]
Wenn eine Gesellschaft durch und durch christlich geprägt ist, ist dies ein genialer Weg, den Frieden zu bewahren und allgemeines Florieren zu ermöglichen. Doch von einem christlichen Standpunkt aus gesehen enthielt der Liberalismus der Aufklärung bereits die Samenkörner für den Niedergang des Christentums." 
In diesem Zusammenhang zitiert Dreher einen Brief von John Adams - einem der Gründerväter der USA - an die Miliz des Staates Massachusetts vom 11. Oktober 1798: 
"Unsere Verfassung ist ausschließlich für ein moralisches und religiöses Volk gedacht. Um ein anderes zu regieren, wäre sie vollkommen ungeeignet." 
Zu einem prinzipiell ähnlichen Urteil kam Alexis de Tocqueville in seinem Werk Über die Demokratie in Amerika (1835): 
"Tocqueville kam zu dem Schluss, dass in der Demokratie die Zukunft Europas liege, stellte jedoch fest, dass sie mit ihrem Streben nach Gleichheit, das dazu tendierte, Normen vom Willen der Mehrheit abhängig zu machen, Gefahr laufe, ebenjene Tugenden zu eliminieren, die die Selbstregierung erst ermöglichten." 
(Denken wir an dieser Stelle kurz an das zu Recht berühmte Diktum des Staats- und Verfassungsrechtlers Ernst-Wolfgang Bockenförde: "Der freiheitliche, säkulare Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann".) -- Demokratien, so Tocqueville, können
"nur erfolgreich sein, wenn 'vermittelnde Institutionen' - darunter die Kirchen - in ihnen gedeihen." 
Nun spule ich aber mal ein Stück vor, mitten hinein in die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg: 
"Dies war eine Zeit, in der der Westen nach den Worten des Soziologen Zygmunt Bauman von der 'soliden Moderne' - einer Phase, in der der gesellschaftliche Wandel noch einigermaßen vorhersehbar und beherrschbar war - zur 'liquiden Moderne' überging - unserem gegenwärtigen Zustand, in dem Veränderungen so rasch vor sich gehen, dass gesellschaftliche Institutionen keine Zeit haben, sich zu verfestigen." 
Als bedeutenden Paradigmenwechsel in dieser Phase der Kulturgeschichte benennt Dreher - unter Berufung auf den Soziologen und Kulturkritiker Philip Rieff - den Siegeszug der Psychologie, insbesondere der Freudschen Psychoanalyse. Dreher zitiert Rieff, der mehrere Bücher über Freud verfasst hat, mit den Worten:
"Der Religiöse Mensch war dazu geboren, erlöst zu werden. Der Psychologische Mensch ist dazu geboren, befriedigt zu werden." 
Daran anknüpfend führt Dreher aus:
"Die 1960er waren das Jahrzehnt, in dem der Psychologische Mensch voll und ganz zu seinem Recht kam. In diesem Jahrzehnt wurde die Freiheit des Individuums, der Erfüllung seiner eigenen Begierden nachzujagen, zu unserem kulturellen Leitstern, und in der Folge begann der rapide Abfall der Moral Amerikas von ihrem christlichen Ideal. Trotz eines konservativen Backlashs in den 1980ern hat der Psychologische Mensch auf ganzer Linie gesiegt und beherrscht nun unsere Kultur - einschließlich der meisten Kirchen - so sicher, wie einst die Ostgoten, Westgoten, Vandalen und andere Eroberervölker die Überreste des Weströmischen Imperiums beherrschten." 
Und damit ist Mr. Dreher auf seinem tollkühnen Ritt durch die Geistesgeschichte auch schon in der Gegenwart angekommen. Natürlich habe ich sehr viel übersprungen, und sicherlich leidet die Stringenz darunter nicht unwesentlich. Lest das Kapitel nach! Es lohnt sich. Schauen wir nun aber auf die Gegenwart und absehbare Zukunft:
"Das romantische Ideal des sich selbst erschaffenden Menschen findet seine Erfüllung in der neuesten Avantgarde der Sexuellen Revolution: den Transgender-Personen. Diese lehnen es ab, sich durch biologische Fakten definieren zu lassen, und haben dabei eine Elite-Bewegung hinter sich, die die neuen Generationen lehrt, Gender sei einzig das, was das Individuum sein zu wollen entscheidet." 
Hui! Muss ich fürchten, dass gleich die Hate-Speech-Polizei an die Tür klopft? Ich hoffe nicht. Schließlich stellt Dreher lediglich einen Sachverhalt dar, der als solcher - wie man ihn auch bewerten mag - kaum zu leugnen ist: nämlich, dass Transgenderismus mit einem auf Bibel und Tradition gestützten christlichen Geschlechter- und überhaupt Menschenbild schlechthin unvereinbar ist. -- Sagte ich gerade, dieser Widerspruch sei kaum zu leugnen? Nun, natürlich gibt es Theologen, die leugnen ihn doch - beziehungsweise meinen, um diesen Widerspruch aufzulösen, müsse die Kirche ihre Lehre eben ändern. Zu dieser Sorte von Kirchenleuten sagt Dreher - natürlich - auch noch was, aber vorher will ich noch eins meiner Lieblingszitate aus diesem Kapitel der "Benedict Option" anbringen:
"Natürlich gibt es zu allen Zeiten moralisch laxe Menschen und solche, die Idealen und höheren Zielen abschwören, um stattdessen den Begierden ihres Herzens nachzujagen. Tatsächlich ist jeder von uns Christen zuweilen so. Man nennt das Sünde." 
Und wie verhalten sich nun die Kirchen dazu? Nun, da gibt es natürlich solche und solche, aber Dreher hat ja schon früher deutlich gemacht, dass er von vielen von ihnen keine besonders hohe Meinung hat.
"Kirchen - gleich welcher Konfession -, die nichts anderes sind als lockere Vereinigungen von Individuen, die danach streben, ihre jeweilige individuelle 'Wahrheit' zu finden, hören auf, in irgendeinem sinnvollen Verständnis Kirche zu sein - denn es gibt in ihnen keinen gemeinsamen Glauben mehr." 
Ich würde mal behaupten, das konnte man auf dem Evangelischen Kirchentag nun wirklich in idealtypischer Grausigkeit beobachten. Aber ob es sich dafür gelohnt hat, da hinzugehen? -- Kommen wir zum Fazit des Kapitels:
"In diesem Sinne mögen Christen heutzutage meinen, sie stünden in Opposition zur säkularen Kultur, aber in Wahrheit sind wir ebenso Geschöpfe unserer Zeit wie die säkularen Leute auch. [...] Wir mögen bestreiten, dass Gott tot sei, aber wenn man den religiösen Individualismus und seinen theologischen Überbau, den Moralistisch-Therapeutischen Deismus, akzeptiert, dann läuft das auf das Bekenntnis hinaus, Gott sei vielleicht noch nicht ganz tot, aber in Hospizpflege und ans Bett gefesselt." 
Tja. Was nun? Im dritten Kapitel, "Eine Regel zum Leben", führt der Autor aus, wie man aus den Kern- und Leitgedanken der Benediktinischen Ordensregel Impulse für eine geistliche Erneuerung beziehen kann, die ein christliches Leben inmitten einer feindlichen Umwelt ermöglichen sollen. Das Kapitel ist ziemlich umfangreich - das zweitlängste des Buches; noch länger ist nur Kapitel 7, in dem es um das Bildungs-, insbesondere das Schulwesen geht -, und auch ohne allzu sehr ins Detail zu gehen, wird es da erheblich mehr zu exzerpieren geben als in Kapitel 2. Deshalb mache ich an dieser Stelle erst mal einen Punkt. Fortsetzung folgt!


Dienstag, 30. Mai 2017

Big in Berlin - Ein Abgesang auf den #dekt2017

"Wir wissen nicht mehr, wo wir sind, und steigen lieber aus / 
Wir sind unterwegs und doch irgendwie zu Haus / 
Ein Himmel voller Lichter wärmt die Herzen hier / 
Ein Meer voll Attraktionen und dazwischen wir. / 

Wir sind viele und wir sind zu zweit / 
Wir sind big in Berlin tonight." 

(Die Sterne, "Big in Berlin", 1999) 



Eigentlich gehörte die sogenannte "Hamburger Schule" nie zu meinen bevorzugten Musikrichtungen, aber so langsam bin ich doch schwer beeindruckt von der Weisheit, die sich in diesem Genre verbirgt. Erst Kettcar und "Valerie und der Priester", jetzt Die Sterne und der Evangelische Kirchentag. Hier wie dort gilt: Auch über das obige Zitat hinaus passt der ganze Liedtext zum Anlass wie die Faust aufs Auge. Und schaut Euch unbedingt das Video an. Es ist großartig. Sänger Frank Spilker reitet als mit Lichterketten illuminierter Cowboy durch Berlin. Muss man gesehen haben. 

Außerdem an dieser Stelle ein Hat-Tip ans ZDF, dessen Eröffnungsbericht zum 36. Deutschen Evangelischen Kirchentag ich die Assoziation zu diesem Song letztlich verdanke. Der Beitrag trug nämlich den Titel "Wir sind viele"

Ansonsten bleibt mir eigentlich nur noch, auf einige lesenswerte Beiträge zum Kirchentag aus fremder Feder hinzuweisen: 

  • Josef Bordat beschrieb unter der Überschrift  "Kirchentagsvorglühen" schon im Vorfeld ausgesprochen treffend, was von diesem Event zu erwarten sein würde.  
  • "Mary of Magdala" widmet sich in "Rettet die Jugend!" dem soeben erwähnten ZDF-Beitrag, genauer gesagt: jenem Teil des Beitrags, in dem es um das "Zentrum Jugend" am Anhalter Bahnhof ging, und kommt zu dem Schluss: Was die Jugendlichen da zeigen, das ist ein Hilfeschrei. Ein Schrei nach Gott, aus der Tiefe der spirituellen Verblödung. 
  • Sebastian Baer-Henney, evangelischer Pfarrer in Köln, präsentiert seinen persönlichen Rückblick auf den Kirchentag unter der Überschrift "Augen, die nicht weinen können". Darin schreibt er zwar "Was ich gesehen habe, ist durchaus gut. Es ist gut für die Menschen, die noch kirchlich sind. Es ist gut für die Menschen, die kirchlich sozialisiert wurden. [...] Unsere theologisch korrekten Antworten, unsere politisch korrekten Aussagen – all das ist richtig", macht sich aber gleichwohl Sorgen, dass die auf dem Kirchentag gepflegte "Binnenkirchlichkeit" immer weniger Relevanz für die "Außenwelt" habe. Unnötig zu erwähnen, dass ich in Vielem grundsätzlich anderer Meinung bin als Pfarrer Baer-Henney, aber gerade deshalb finde ich die Schlussfolgerungen, die er zieht, höchst interessant. 
  • Wie jemand, der sich in der "Binnenkirchlichkeit" des Kirchentags fühlt wie ein Fisch im Wasser, die Veranstaltung erlebt hat, kann man auf dem Blog Kirchengeschichten von Holger Pyka - auch er evangelischer Pfarrer - unter der Überschrift "Was vom Tage übrig bleibt?" bewundern. Einige Kritikpunkte führt auch er an, aber das positive Wir-Gefühl überwiegt. Es lohnt sich, den Artikel zur Kenntnis zu nehmen. Was mir beim Lesen durch den Kopf ging: Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie wohltuend und fruchtbar Veranstaltungen sein können, bei denen Gleichgesinnte mehr oder weniger unter sich sind. Komisch nur, dass das bei Manchen als "sektiererisch" gilt und bei Anderen nicht
  • Und abschließend noch einmal Josef Bordat, diesmal ganz sachlich-seriös, mit einem Kommentar in der Tagespost (bitte schnell lesen, ehe der Artikel hinter der Bezahlschranke verschwindet): "Mehr Kant als Luther"

Und nun aber genug von diesem Thema! Mein heimlicher Manager W. hat sich mal wieder zu Wort gemeldet: Er meint, ich sollte mich nicht so viel an der doofen und langweiligen p.c.-Fraktion abarbeiten, sondern lieber positive Alternativen aufzeigen. Deshalb geht's hier demnächst weiter mit der "Benedict Option"... 





Montag, 29. Mai 2017

Sacropop-News: Wessen Gott ist "Mein Gott"?

In meiner Fotoreportage vom 36. Deutschen Evangelischen Kirchentag hatte ich am Rande erwähnt, dass meine Liebste und ich das neue Album von Miriam Buthmann & Band, "Mein Gott", erworben haben; und ich hatte dort auch schon zu Protokoll gegeben, ich hätte "den Verdacht, dass [es] nicht ganz so gut sein [werde] wie das Vorgängeralbum 'Mit einem anderen Blick'". Woher rührte dieser Verdacht? 

Nun, zunächst einmal hatte das vor zwei Jahren erschienene Album "Mit einem anderen Blick" die Messlatte ziemlich hoch gehängt. Zwölf Songs, von der musikalischen Seite her solider, eingängiger Pop mit Elementen von Rock, Reggae, Funk, Jazz und HipHop, vom Text her sämtlich Psalmen-Nachdichtungen in einer Sprache, die "heutig" wirkte, ohne banal zu sein oder zu allzu plumpen Aktualisierungen zu greifen. Insgesamt eine Scheibe, die ich stundenlang rauf und runter hören könnte. 

Demgegenüber enthält das neue Album "Mein Gott" nur neun Nummern, und darunter sind zwei Lieder, die jeweils in einer hoch- und einer plattdeutschen Version ("Du bist ein Gott, der mich anschaut"/"Du büst en Gott, de mi ankiekt"; "Allens, wat du bruukst"/"Das, was du brauchst") vertreten sind. Somit reduziert sich die Anzahl der verschiedenen Songs auf sieben; zwei davon habe ich bei Mires Auftritt auf der "Bühne im Sommergarten" live gehört, ein weiteres sogar schon beim letzten Kirchentag in Stuttgart vor zwei Jahren, und eins ist als YouTube-Video auf Mires Website verlinkt. Viel Raum für Überraschungen blieb da also nicht übrig. 



Nun gut: Fangen wir mal vorne an. Der erste Song des Albums ist jener, den ich schon vom Video auf der Website her kannte: "Du bist ein Gott, der mich anschaut" - ein Titel, der sicherlich nicht zufällig mit dem Kirchentagsmotto "Du siehst mich" korrespondiert. Im CD-Booklet trägt der Song den Untertitel "Hagars Lied". Aha, ein biblischer Bezug! Worin besteht er? - Hagar, das werden einige von uns wissen, ist die ägyptische Nebenfrau Abrahams, mit der er seinen ersten Sohn Ismael zeugt. In Genesis 16 kann man nachlesen, wie die schwangere Hagar aus Angst vor Abrahams Hauptfrau Sara in die Wüste flieht und dort einem Engel des Herrn begegnet, der sie zu Abraham zurückschickt, ihr aber immerhin eine Prophezeiung über ihre Nachkommenschaft mit auf den Weg gibt. "Da nannte sie den Herrn, der zu ihr gesprochen hatte: El-Roï (Gott, der nach mir schaut). Sie sagte nämlich: Habe ich hier nicht nach dem geschaut, der nach mir schaut?" (Gen 16,13). Tatsächlich ist auch das Kirchentagsmotto dieser biblischen Episode entnommen, und der Generalsekretärin des Kirchentags, Ellen Ueberschär, war es bei der Vorstellung des Mottos besonders wichtig, darauf hinzuweisen, dass diese Episode nicht nur in der Bibel, sondern auch im Koran vorkommt. Was an sich nicht besonders überraschend ist, da Hagars Sohn Ismael als Stammvater der Araber gilt. 

Ein Lied Hagars gibt es in der Bibel nicht, aber halb so wild: Jetzt gibt es eins. Den Text dazu hat - als einzigen des Albums - nicht Mire Buthmann selbst verfasst, sondern Susanne Brandt. Der Refrain lautet:
"Du bist ein Gott, der mich anschaut
Du bist die Liebe, die Würde gibt
Du bist ein Gott, der mich achtet
Du bist die Mutter, die liebt." 
Der letzte Vers klingt verdächtig nach einer Verbeugung in Richtung der feministischen Theologie und verursacht mir daher einen gewissen Juckreiz, aber vielleicht sehe ich das zu eng. Schließlich gibt es durchaus Bibelstellen, die die mütterlichen Eigenschaften Gottes hervorheben - exemplarisch sei Jesaja 66,13 genannt ("Wie eine Mutter ihren Sohn tröstet, so tröste ich euch"). -- Interessant ist allerdings auch, dass in diesem Refrain die Achtung, die Gott dem Menschen zu Teil werden lässt, betont wird - und nicht etwa umgekehrt. Merken wir uns das für später. 

Während der Text des Liedes also keine rechte Begeisterung bei mir aufkommen lässt, tut es die Musik noch weniger. Eine locker-flockige Uptempo-Nummer mit leichtem Country-Einschlag -- erinnert sich noch irgendwer an Deutschlands Beitrag zum Eurovision Song Contest 2006, "No no never" von Texas Lightning feat. Olli Dittrich? So ähnlich klingt das. Für ein geistliches Lied allzu banal, finde ich. 

Der zweite Titel, "Allens, wat du bruukst", war, wie ich soeben nachrecherchiert habe, schon auf dem Kirchentag 2013 in Hamburg vorgestellt worden und auch 2015 in Stuttgart im offiziellen Kirchentags-Liederbuch enthalten gewesen. Dass es jetzt, Jahre später, auf CD erscheint (und das auch noch in zwei Fassungen), verstärkt den Verdacht, dass es an neuem Material fehlte, um die CD einigermaßen voll zu kriegen. Der Song an sich ist aber so übel nicht: Musikalisch ein nettes, vielleicht etwas allzu harmloses Liedchen, vom Text her eine Mahnung zum Gottvertrauen, bei der der bibelkundige Hörer an Matthäus 6,31f. denken mag: 
"Macht euch also keine Sorgen und fragt nicht: Was sollen wir essen? Was sollen wir trinken? Was sollen wir anziehen? Denn um all das geht es den Heiden. Euer himmlischer Vater weiß, dass ihr das alles braucht." 
Ein bisschen schade ist es freilich, dass ein inhaltliches Äquivalent zum folgenden Vers - "Euch aber muss es zuerst um Sein Reich und um Seine Gerechtigkeit gehen; dann wird euch alles andere dazugegeben" - im Liedtext fehlt; aber man kann wohl nicht alles haben.

Es folgt der Titelsong des Albums: "Mein Gott". Er ist funky und tanzbar, hätte für meinen Geschmack im Mix ruhig noch etwas schärfer und kantiger rüberkommen können, aber okay. Richtig schlimm ist hier der Text
"Mein Gott steht auf Männer und auf Frau'n" - 
Was soll das? - Wollte man diesen Satz mit "Gottes Liebe gilt Männern und Frauen gleichermaßen" übersetzen, dann wäre die Aussage zweifellos richtig, allerdings nicht unbedingt originell. Die Formulierung klingt jedoch arg nach "Gott ist bisexuell", und ich kann mir kaum vorstellen, dass diese Assoziation nicht gewollt sein sollte. Ein Hat-Tip an die Regenbogenfraktion. Weiter geht's wie folgt: 
"steht auf alle, die sich trau'n" - 
"Trauen" im Sinne von "Trauung"? Ehe für alle? Okay, das mag jetzt eine Überinterpretation meinerseits sein. 
"steht auf Mut und Gerechtigkeit" - 
Fair enough
"Mein Gott steht auf für jede Minderheit,
für die Bedrängten dieser Zeit" - 
Dagegen ist nun inhaltlich nicht viel zu sagen, außer dass es auf enervierende Weise politically correct klingt. Womit es natürlich ausgezeichnet auf den Evangelischen Kirchentag passt. Und schließlich: 
"versteckt sich nicht hinter Heiligkeit". 
Und was soll der Scheiß jetzt? Inwiefern sollte Heiligkeit etwas sein, wohinter Gott sich "versteckt"? Auf dem Vorgängeralbum "Mit einem anderen Blick" gab es noch einen Song mit dem Titel "Denkt daran, dass Er heilig ist". Nun, so scheint es, wird ein "desakralisiertes" Gottesbild gepredigt. Nachdem der Refrain die soziale oder, wenn man so will, "sozialpolitische" Dimension seines Gottesbildes betont hat, kommt in den Strophen eine stark individualisierte Gottesbeziehung zum Ausdruck, was in Sätzen gipfelt wie "Und das, was ich verschieben will auf morgen / das macht Gott Sorgen". -- Unversehens gewinnt das Possessivpronomen "mein" im Titel des Songs - der ja zugleich der Titel des ganzen Albums ist - eine neue Bedeutung: Es scheint, als werde hier ein Gott gepriesen, der sich quasi in "Privatbesitz" befindet - ein Flaschengeist, den man zu Hause im Regal stehen hat und bei Bedarf hervorholt. Und dessen wesentliche Aufgabe darin zu bestehen scheint, das Selbstbild seines "Besitzers" zu bestätigen oder nötigenfalls aufzupolieren. Das ist ein Gottesbild, das perfekt zu jenem Phänomen passt, dem die US-Soziologen Christian Smith und Melinda Lundquist Denton den Namen "Moralistisch-Therapeutischer Deismus" (MTD) gegeben haben: eine "schwammige Pseudoreligion", deren Inhalt nicht wesentlich über "Gott hat uns alle lieb und möchte, dass wir nett zueinander sind" hinausgeht. Wenn man es recht bedenkt, sind auch die anderen Songtexte auf "Mein Gott" - und tendenziell oder zum Teil auch die auf dem Vorgängeralbum - mit diesem reduzierten Gottesbild kompatibel. Was wohlgemerkt nicht zwingend bedeutet, dass sie so gemeint sind. Dass es von Fall zu Fall so schwierig ist, MTD und authentisches Christentum voneinander zu unterscheiden, liegt ja nicht zuletzt daran, dass die Aussage "Gott hat uns alle lieb und möchte, dass wir nett zueinander sind" zwar arg harmlos und banal formuliert daherkommt, aber nicht direkt falsch ist. Das Problem ist vielmehr, dass eine Verengung des Gottesbildes auf allein diese Aussage wesentliche Aspekte des christlichen Glaubens unterschlägt. Von einem Liedtext wird man aber keine umfassende Theologie erwarten, und somit gibt es zweifellos eine Menge christliches Liedgut älteren wie jüngeren Datums, von dem man behaupten könnte, es sei durch und durch MTD-kompatibel. Das ist im Prinzip nicht schlimm. Aber die doch sehr ausgeprägte MTD-haftigkeit des Songs "Mein Gott" - moralistisch im Refrain, therapeutisch in den Strophen - gibt doch zu denken. Dass all dies nur allzu gut zum Evangelischen Kirchentag passt, auf dem ein über MTD-Plattitüden hinausgehendes Bekenntnis zum christlichen Glauben ja insgesamt eher unerwünscht zu sein schien, habe ich ja bereits angemerkt. 

Somit bleiben auf dem neuen Buthmann-Album noch vier Songs, die eine genauere Betrachtung verdienen - zwei in englischer und zwei in deutscher Sprache, und alle vier präsentieren sich als Nachdichtungen biblischer Texte: "Never ending story" basiert auf 1. Korinther 13 ("Die Liebe hört niemals auf"), "Seek Peace" - das auf das Motto des 101. Deutschen Katholikentags in Münster im kommenden Jahr, "Suche Frieden", vorausweist - auf Psalm 34, "Wo die Sonne aufgeht" auf Psalm 139 und "Gott, segne uns" auf Psalm 67. Musikalisch kommen diese vier Nummern eher ruhig und langsam daher, wenngleich "Seek Peace" einen dezidiert rockigen Gitarrensound aufweist. An den Texten gibt es - wohl auch dank der soliden biblischen Fundierung - nicht viel zu bemängeln; lediglich zu "Wo die Sonne aufgeht", das Mire und ihre Band gerade spielten, als ich an der Bühne im Sommergarten ankam, habe ich zwei kleine Anmerkungen zu zwei aufeinanderfolgenden Versen: 
"Du hast mich gewollt, so, wie ich bin" - 
Da wittere ich wieder einen Hauch von MTD, denn so ein Satz kann nur allzu leicht zur Rechtfertigung des eigenen Selbstbildes eingesetzt werden: Ich bin gut so, wie ich bin, schließlich hat Gott mich so geschaffen. Das Problematische an dieser Sichtweise ist, dass sie den Sündenfall und folgerichtig die Erbsünde ignoriert. Der Mensch nach dem Sündenfall ist eben nicht (mehr) so, wie Gott ihn gewollt hat. Gott liebt die Menschen zwar so, wie sie sind, aber gerade weil Er sie liebt, will Er nicht, dass sie so bleiben, wie sie sind. 
"Schon vor der Geburt hast du mich gesehn" - 
Da kann ich nun nur applaudieren. Klare Pro-Life-Message. Hätte ich so gar nicht erwartet. Aber das steht nun mal so drin in dem Psalm. 

Während "Gott, segne uns" - sparsam arrangiert mit Akustikklampfe und mehrstimmigem Gesang - ein bisschen an das gute alte böse alte NGL-Genre erinnert, würden die drei anderen zuletzt genannten Songs auf einer Compilation charismatischer Lobpreislieder - etwa im Rahmen der Reihe "Feiert Jesus!" oder in trauter Nachbarschaft zu Songs aus dem Gebetshaus Augsburg, der Bethel Church oder der Hillsong Church - nicht unbedingt aus dem Rahmen fallen. Ich würde diese drei Nummern definitiv als die Highlights des Albums bezeichnen; an Knüller des Vorgängeralbums wie "Dankt Ihm", "Du gibst Dich mit uns ab" oder "Beschützer der Welt"  reichen sie allerdings beiweitem nicht heran. 

Wie lautet also mein abschließendes Urteil? - Sagen wir so: Beim Titelsong "Mein Gott" ist der Text eine Zumutung und bei "Du bist ein Gott, der mich anschaut" die Musik; davon abgesehen ist die Scheibe nicht schlecht. Man kann sie sich anhören. 

Muss man aber nicht. 




Freitag, 26. Mai 2017

Die freudigen Christen und die Sektenmentalität

Heute morgen - ich war noch nicht ganz wach - las ich auf Twitter die folgenden Sätze
"Am frühen Morgen so viele glückliche Christen um einen rum. Dabei will ich nur Kaffee." 
Den Urheber dieses wohl scherzhaft gemeinten Tweets kenne ich aus dem Real Life. Er sagt von sich selbst, dass er "von Religion nichts versteht", und ich teile diese Einschätzung. Daher dachte ich mir, ich sag mal was dazu, und antwortete: 
"Christen, die glücklich über den #dekt2017 sind? Mindestens eins von beidem würde ich anzweifeln." 
Im Rückblick sehe ich ein, dass das ungeschickt war. Das sieht so nach "Christsein-Absprechen" aus, und wir wissen ja alle: Wer Anderen das Christsein abspricht, der ist selbst kein... öh, jetzt wird's paradox. Jedenfalls hatte ich in dem Moment, als ich das schrieb, überhaupt nicht auf dem Schirm, dass es Leute geben könnte, die sich davon persönlich angegriffen fühlen. Tja, war dumm von mir. Natürlich gibt's die. Und wie es die gibt. Ehe ich's mich versah, wurde mir eine 
"Mischung von traditionellem Katholizismus und evangelikaler Sektenmentalität" 
attestiert. Nicht dass ich mich damit nun gänzlich falsch charakterisiert fühlte, aber der Ausdruck "Sektenmentalität" ärgerte mich dann doch. Sollte er allerdings wohl nicht. Meist wird dieser Vorwurf ja von dem Lauen und den Laschen dazu genutzt, ihre eigene Lauheit und Laschheit als etwas Positives darzustellen. (Disclaimer: Das meine ich als allgemeine Feststellung und nicht persönlich auf den Verfasser des betreffenden Tweets bezogen.) - Die "Sektenmentalität", so wurde mir weiterhin beschieden, zeige sich, 
"wenn man lieber stänkern will, damit andere sich aufregen, um sich dann erst recht bestätigt zu fühlen". 
Parallel dazu regte ein anderer Twitterer an, ich solle doch 
"einfach frei raussagen, dass du uns nicht für Christen hältst. Kann ich mit leben, ist mir dann auch wurscht." 
Auf Nachfrage, wer denn mit "uns" gemeint sei, erfuhr ich
"Uns, die wir uns über den #dekt17 freuen und glücklich darüber sind." 
Hm. Was würde wohl passieren, wenn ich dieses Wir-Verständnis kurzerhand mit "Sektenmentalität!" kommentieren würde? 

Im Ernst: Dass der liberale Mainstream innerhalb der großen Kirchen mit dem Anspruch auftritt, wer nicht seiner Meinung ist, müsse sich dafür rechtfertigen, ist vielleicht ein Phänomen, das bei allen Mainstream-Positionen zu allen Zeiten und in allen Milieus auftritt. Aber wenn die Leute so überzeugt von ihrem Standpunkt sind und sich dabei auch noch als die Mehrheit, ja geradezu als die "Sieger der Geschichte" zu wissen meinen, wieso reagieren sie dann eigentlich so extrem empfindlich, wenn ihnen doch mal jemand widerspricht? Das gibt zu denken, scheint mir. 

Klar ist: Wenn Leute sich über ein Ereignis freuen und man selber tut es nicht - und hat für diese Freude kein Verständnis -, dann steht man schnell als Miesepeter da, und das ist keine sehr sympathische Rolle. Aber es liegt tatsächlich jenseits meiner Vorstellungskraft, was an diesem Kirchentag - oder schränken wir redlicherweise ein: an dem, was ich von diesem Kirchentag gesehen habe - für einen Christen Grund zur Freude sein sollte. Für mein Empfinden verkörpert diese Veranstaltung vielmehr exemplarisch den Niedergang des christlichen Glaubens nicht nur in der Gesellschaft als Ganzer, sondern auch und gerade innerhalb der großen Kirchen selbst. Klaus Kelle schreibt dazu in The GermanZ
"Die evangelische Amtskirche EKD hat ein Problem mit Gott. Nein, kein Problem, sie braucht Gott nicht mehr, sie hat Götzen und Propheten wie Obama und Käßmann, die selbst für banalste Aussagen frenetisch bejubelt werden. Es erfüllt sich, was der frühere Bundesverteidigungsminister Hans Apel von der SPD in seinem Buch 'Volkskirche ohne Volk' über den Niedergang des deutschen Protestantismus aufschrieb, von Pastoren, die nicht an Gott glauben, von Geistlichen, die Kirchen mit Anti-Nato-Gottesdiensten und schrägen Klampfenklängen entweihten. [...] Damit ich nicht falsch verstanden werde: Der Zustand der katholischen Kirche in Deutschland ist keinen Deut besser, angepasste Bischöfe ohne jeden Mut, dem Zeitgeist entgegenzutreten, ein Kardinal, der mit eine Sprühdose übers Kölner Straßenpflaster kriecht, um dem Wort 'Gutmensch' einen besseren Klang zu verschaffen. Man kann sich diesen Irrsinn gar nicht ausdenken." 
Gegen Kelles Einschätzung, "der Zustand der katholischen Kirche" sei "keinen Deut besser" als der der evangelischen, also exakt genauso schlecht, wird man aus katholischer Perspektive vielleicht mancherlei einwenden wollen und können, aber gut ist er jedenfalls auch nicht. -- Hätte ich ins Fazit meiner gestrigen Fotoreportage vom Kirchentag, wie ich zwischenzeitlich beabsichtigt hatte, den Satz "Und deshalb brauchen wir die Benedict Option!" eingebaut, dann hätte mich das wohl die uneingeschränkte Zustimmung von Leser Imrahil gekostet, und das wäre schade drum gewesen; aber dennoch bin ich entschieden dieser Meinung. Auf institutioneller Ebene - gerade auf der Ebene der Lauen-, äh: Laienverbände - sind unsere großen Kirchen dermaßen verkorkst, dass einem wirklich nicht mehr viel Anderes übrig bleibt, als von der lokalen Basis her eine Gegenstruktur aufzubauen. (Disclaimer für treue Katholiken: Nein, keine Gegenstruktur zur in der Nachfolge der Apostel stehenden kirchlichen Hierarchie. Aber zu dem vom emeritierten Papst Benedikt XVI. wiederholt, zuletzt in seinen "Letzten Gesprächen" mit Peter Seewald, beklagten "Überhang ungeistlicher Bürokratie".) 

Wenn Klaus Kelle den Evangelischen Kirchentag im Einleitungssatz seines Artikels allerdings als "eine Art frommes Woodstock" bezeichnet, dann muss mein innerer Hippie doch Protest anmelden. Diesen Vergleich hat Woodstock nicht verdient. In Woodstock war die Musik besser, die Menschen waren geschmackvoller gekleidet, und als ein linker Polit-Aktivist das Wort ergreifen wollte, wurde er von Pete Townshend mit der Gitarre von der Bühne geprügelt...


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(Ach ja, und abschließend hat mein innerer Hippie noch eine Musik-Empfehlung. Sähe der Evangelische Kirchentag so aus wie die Bilder im Video, würde ich das schon mal als erhebliche Verbesserung betrachten.) 


Donnerstag, 25. Mai 2017

Leistungsschau der Zivilreligion



Christi Himmelfahrt! Allerdings eben auch Deutscher Evangelischer Kirchentag, und zwar in Berlin. Was natürlich bedeutete: War ich vor zwei Jahren, als der DEKT in Stuttgart stattfand, noch freiwillig hingefahren, gab es diesmal praktisch kein Entrinnen. Schon auf dem Weg zur Kirche trafen wir mehrere Grüppchen von Leuten mit charakteristischen orangefarbenen Halstüchern. "Hier muss irgendwo ein Nest sein", meinte meine Liebste, und so war es auch: Die nahe Schule wurde offenbar als Unterkunft für Kirchentagsbesucher genutzt. 

(Ich sag's nicht gern, aber Leute, die mit ehrlicher Begeisterung zum Kirchentag anreisen, wecken in mir immer eine ganz sonderbare Mischung aus Mitleid und Verachtung.) 

In der Messe zu Christi Himmelfahrt wurde der Kirchentag nicht in der Predigt und auch nicht - wie ich es durchaus schon mal erlebt habe - im Eucharistischen Hochgebet, wohl aber in den Fürbitten erwähnt - und zwar in folgender, mir durchaus behagender Weise: 
"Möge es ein Fest des Glaubens sein und nicht nur ein Fest der Meinungen. Möge es ein Zeugnis für Jesus Christus sein, der in dieser Stadt so oft vergessen zu werden scheint."  
(Spoiler: Es blieb ein frommer Wunsch.)

Nach der Messe gab's erst mal Frühstück, und danach ging's auf zum Messegelände, wo der 36. Deutsche Evangelische Kirchentag unter dem Motto stattfand:

Oder so ähnlich. 

Und suche mich nicht in der Unterführung. 


Ich war übrigens schon im Vorfeld etwas konsterniert gewesen, dass der sogenannte "Markt der Möglichkeiten" nicht - wie die Kirchenmeile beim Katholikentag im Vorjahr - auf öffentlichen Plätzen stattfand und somit ohne Eintritt besucht werden konnte, sondern in den Messehallen untergebracht war. Um den Erwerb je einer Tageskarte kamen wir also schlechterdings nicht herum. Na gut. Eine junge Frau, die in der Organisation von sowohl Kirchen- als auch Katholikentagen arbeitet, hat uns mal erzählt, für die EKD sei es "ein Politikum", wie viele Leute zum Kirchentag kommen. Unter diesen Voraussetzungen leuchtet es natürlich ein, dass auf keinen Fall jemand aufs Kirchentagsgelände kommen sollte, ohne ein Ticket zu erwerben. Die wären ja für die Statistik verloren gewesen - vom Geld mal ganz zu schweigen. 

Am Souvenirshop rasch vorbei, der Eintritt war schon teuer genug. 

Ein Glück, dass wir Hosty, den lustigen Krümelkeks, mitgenommen hatten. Der konnte direkt als tragbares Kirchentagsmaskottchen durchgehen. 


Den "Sommergarten" erreichten wir gerade rechtzeitig, um noch ein bisschen was vom leider sehr schwach besuchten Auftritt von Miriam Buthmann & Band mitzubekommen. 


Anschließend kauften wir uns ihre neue CD "Mein Gott". Ich habe - aus Gründen - schon jetzt den Verdacht, dass sie nicht ganz so gut sein wird wie das Vorgängeralbum "Mit einem anderen Blick", aber vielleicht täusche ich mich ja. Rezension folgt demnächst. 

Mire-Plakat und Mire in echt. Letztere hier allerdings nur von hinten. 

Und dann erst mal wieder rein in die Messehallen. 

Älter werden ist nicht schwer, älter sein dagegen sehr. 

Verkitschte Kreuze

"I appreciate that they did wear verstments, but... well." 
Und hier übrigens der größte unfreiwillige Lacher des Tages. Ein junger Mann pries mir den neuen 0-€-Luther-Geldschein an, über den ich schon auf der Facebook-Seite meines allerzweitliebsten Bistums etwas gelesen hatte
"Der soll symbolisieren, dass Gottes Gnade nichts kostet. Weil, früher haben die Leute ja geglaubt, sie müssten dafür Geld bezahlen." 
"Ach so", erwiderte ich. "Antikatholische Geschichtsklitterung." 
"Ja, genau." 
-- Ich glaube, der junge Mann hatte meinen Einwand nicht so richtig gehört oder verstanden. Aber das war noch nicht der Lacher des Tages. Sondern: 

Der 0-€-Schein kostet 2,50 €. 


Kritik am Luther-Kult gab es durchaus auch:


Andererseits aber auch dies:

Das, sollte man denken, ist schon nicht mehr parodierbar.


Oder vielleicht doch? 
So richtig originell war die Idee mit den Thesen allerdings nicht - die SPD hatte dieselbe Idee gehabt: 


Und die LINKE ooch.


Fehlte eigentlich nur noch eine Thesenanschlagsäule der AfD. Das hätte interessant werden können. 

Merke: Wenn die LINKE sich "religiöse Diversity" auf die Fahnen schreibt, dann gute Nacht. 



Linker als links geht's allerdings auch. 


Am Stand der SPD sprach, als wir da vorbeikamen, gerade Eva Högl, unermüdliche Kämpferin für Abtreibung (nicht im Bild). Wir gingen schnell weiter, um nicht der Versuchung zu erliegen, Streit anzufangen. 

Ruft doch mal Martin! 

(Oder ist Euch dieser Herr lieber?) 
 Die wahre Revolution gab's derweil am Waffelstand:


Okay, das Motto würde theoretisch auch zum "Dinner mit Gott" des Mittwochsklubs passen. 

Und noch ein Geheimtipp: An Fressbuden mit Fleisch... 



...ist beim Kirchentag die Warteschlange signifikant kürzer als bei solchen mit politisch korrektem Essen. 


Warum bloß? -- Tja, weil: 







Das hier fällt wohl ein bisschen aus dem Rahmen. Aber man ist ja tolerant. 
Der einzige Engel, an den Protestanten glauben. 

Zeitweilig fand ich, diese Bezeichnung träfe recht gut auf die ganze Veranstaltung zu...

Boah, ist das 80er.
Insgesamt fand ich die Konsequenz, mit der explizite christliche Bekenntnisse vermieden wurden, bemerkenswert. 




Stattdessen ging es munter multireligiös zu. 


Nanu, was ist aus den anderen sieben geworden? 


Kommt ja nicht so drauf an, welches Buch. 

Den wortspielerischen Variationen zum Motto der Veranstaltung waren übrigens keine Grenzen gesetzt.

Immerhin fand Plüschesel Pepe neue Freunde_ 



Aber so sehr man sich auch über Manches amüsieren mochte: Alles in allem hatte die extreme geistliche Leere dieser Veranstaltung schon auch etwas Belastendes. Da war der Katholikentag in Leipzig letztes Jahr nicht halb so schlimm gewesen. Okay: Der Evangelische Kirchentag ist keine religiöse, sondern eine politische Veranstaltung. Dessen sind sich wohl so ziemlich alle Beteiligten mehr oder weniger bewusst. Aber wäre es dann nicht ehrlicher, man würde sich den notdürftigen religiösen Anstrich auch noch klemmen? 

Grässliches Vokabular.

Die Lauenfunktionäre proben den Aufstand. Mal wieder. Gähn.
("Lauenfunktionäre" war ursprünglich ein Tippfehler, aber jetzt lasse ich das so stehen. Passt schon.)
Ziemlich schwach besucht war's übrigens auch. Hat ja auch was Beruhigendes. 



Selfie vom Kirchentagsmaskottchen - draußen auf der Wiese ließ es sich aushalten. 

Aber gegen 17 Uhr kapitulierten wir dann doch. 

 Und was sonst noch zu sagen wäre...: