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Mittwoch, 31. Mai 2017

Was ist dran an der "Benedict Option"? (Teil 3)

So, Freunde: Nach einem vorübergehenden Abstieg in die geistlichen Niederungen des Evangelischen Kirchentages wird es nun aber Zeit, dass ich meine Lektürenotizen zu Rod Drehers "The Benedict Option" fortsetze. Das zweite Kapitel des Buches trägt die Überschrift "Die Wurzeln der Krise". Darin wagt sich der Autor - nach der einleitenden Schilderung eines Verandagesprächs zwischen zwei alten Damen, die sprichwörtlich "die Welt nicht mehr verstehen" - an einen geistes- bzw. ideengeschichtlichen Abriss der Ursachen dafür, dass eine traditionell christliche Weltanschauung der modernen Gesellschaft zutiefst fremd geworden ist. Dabei greift er erheblich weiter in die Geschichte zurück, als man hätte annehmen können: 
"Der Verlust der christlichen Religion ist die Ursache dafür, dass der Westen seit geraumer Zeit dabei ist, sich zu fragmentieren - ein Prozess, der an Geschwindigkeit zunimmt. Wie ist es dazu gekommen? Im Laufe von sieben Jahrhunderten haben fünf bahnbrechende Ereignisse die westliche Zivilisation erschüttert und sie des Glaubens ihrer Vorväter beraubt:
  • im 14. Jahrhundert der Verlust des Glaubens an den integralen Zusammenhang zwischen Gott und Schöpfung - oder, in philosophischer Terminologie, zwischen transzendenter und materieller Realität; 
  • der Zusammenbruch von religiöser Einheit und religiöser Autorität in der protestantischen Reformation des 16. Jahrhunderts; 
  • die Aufklärung im 18. Jahrhundert, die die christliche Religion durch den Kult der Vernunft ersetzte, das religiöse Leben privatisierte und das Zeitalter der Demokratie einläutete; 
  • die Industrielle Revolution (ca. 1760-1840) und der Aufstieg des Kapitalismus im 19. und 20. Jahrhundert; 
  • die Sexuelle Revolution (1960-heute)." 
Freilich räumt Dreher ein: 
"Dieser Abriss westlicher Kulturgeschichte seit dem Hohen Mittelalter lässt zugegebenermaßen eine ganze Menge aus. Zudem ist er voreingenommen zugunsten eines intellektuellen Verständnisses historischer Kausalität. Tatsächlich ist es so, dass materielle Erscheinungen oft erst die Geburt von Ideen ermöglichen. Die Entdeckung der Neuen Welt und die Erfindung der Druckerpresse, beides im 15. Jahrhundert, und die Erfindung der Verhütungspille und des Internets im 20. Jahrhundert ermöglichte es Menschen, sich Dinge vorzustellen, die zuvor unvorstellbar waren, und somit neue Gedanken zu denken. Die Geschichte gibt uns keine sauberen und geraden kausalen Linien, die Ereignisse miteinander verbinden und sie in eine klare Ordnung bringen. Geschichte ist ein Gedicht, kein Syllogismus." 
William Hogarth: Tail Piece (1764) 

Historiker werden an dem Geschichtsbild, das Dreher auf den folgenden Seiten entwirft, sicherlich Manches zu bemängeln haben.  Gleichwohl betont der Autor: 
"Es ist wichtig, diese Darstellung - so unvollständig und übersimplifiziert sie auch sein mag - zu begreifen, um zu verstehen, warum der bescheidene benediktinische Weg eine so wirkungsvolle Gegenkraft zu den zersetzenden Strömungen der Moderne darstellt." 
Man könnte ergänzen: Wichtig ist diese Darstellung auch, um dem Leser, der vielleicht meint, Drehers düstere Prognosen über die nahe Zukunft der Christenheit in der westlichen Welt seien überdramatisiert und die Christenheit habe schon viel schlimmere Krisen er- und durchlebt, begreiflich zu machen, wie er zu der Auffassung gelangt, die moderne westliche Kultur habe sich nahezu völlig von ihren christlichen Wurzeln gelöst.

Dem vorhersehbaren Vorwurf, das christliche Mittelalter über Gebühr zu idealisieren, begegnet er mit der Feststellung: 
"Das mittelalterliche Europa stellte keinen christlichen Idealzustand dar. Die Kirche war in spektakulärem Ausmaß korrupt, und die gewaltsame Ausübung von Macht - zuweilen auch durch die Kirche selbst - schien die Welt zu regieren. Aber trotz der tiefgreifenden Gebrochenheit der Welt trugen die Menschen des Mittelalters in ihrer Vorstellung eine kraftvolle Vision von Ganzheit. Dem mittelalterlichen Konsens zufolge konstruierte der Mensch seine Realität auf eine Weise, die ihn in die Lage versetzte, alle Dinge in einer konzeptuellen Harmonie zu sehen und Sinn inmitten des Chaos zu finden." 
Diese mittelalterliche Weltsicht skizziert Dreher unter Berufung auf den kanadischen Philosophen Charles Taylor (*1931) und auf dessen Rezeption von Grundprinzipien der scholastischen Philosophie: 
"Zu den zentralen Lehren der Scholastik gehörte das Prinzip, dass alle Dinge unabhängig vom menschlichen Denken existieren und eine ihnen von Gott gegebene essentielle Natur haben. Diese Auffassung nennt man 'metaphysischen Realismus'. Aus diesem Prinzip leiten sich laut Charles Taylor die drei Grundpfeiler ab, auf denen die mittelalterliche christliche Vorstellungswelt - das heißt, die von allen rechtgläubigen Christen von der Zeit der frühen Kirche bis ins Hochmittelalter geteilte Wahrnehmung der Realität - ruhten:
  • Die Welt und alle Dinge in ihr sind Teil eines von Gott eingerichteten und mit Sinn erfüllten harmonischen Ganzen - und alle Dinge sind Zeichen, die auf Gott hindeuten. 
  • Die Gesellschaftsordnung ist in dieser höheren Ordnung verwurzelt. 
  • Die Welt ist aufgeladen mit spiritueller Kraft. 
Diese drei Pfeiler mussten erst zerbröckeln, ehe die moderne Welt sich aus den Trümmern erheben konnte, sagt Taylor. Und in der Tat zerbröckelten sie. Das geschah nicht auf einmal und nicht auf geradem Wege, aber es geschah." 
Wie Dreher, von dieser Feststellung ausgehend, einen Bogen vom Nominalismusstreit des 14. Jhs. über Renaissance-Humanismus, Reformation und Religionskriege, die Philosophie der Aufklärung und das Zeitalter der Revolutionen, die Industrialisierung und die Weltkriege bis zum Aufstieg der Psychologie und zur Sexuellen Revolution schlägt, ist bei aller modellhaften Vereinfachung faszinierend zu lesen, aber ich möchte mich nicht allzu lange dabei aufhalten, dies im Einzelnen nachzuzeichnen. Auch wenn die Auslassungen, die ich vornehme, womöglich wieder Missverständnissen Vorschub leisten. Lest das Kapitel einfach selber, Leute! -- Einige Punkte möchte ich dennoch besonders hervorheben. So stellt Dreher gleich eingangs, im Zusammenhang mit dem Nominalismusstreit, fest: 
"Das mittelalterliche Weltmodell erzitterte unter philosophischen Attacken, aber es wurde auch von grauenhaften Ereignissen von außerhalb der Welt der Künste und Ideen bis auf den Grund erschüttert. Krieg - besonders der Hundertjährige Krieg zwischen Frankreich und England - verwüstete das westliche Europa, das im 14. Jahrhundert obendrein von einer katastrophalen Hungersnot heimgesucht wurde. Am schlimmsten war aber der Schwarze Tod - eine Seuche, die zwischen einem Drittel und der Hälfte der europäischen Bevölkerung dahinraffte, ehe sie sich wie ein Buschfeuer selbst verzehrte. Wohl wenige Zivilisationen könnten solchen traumatischen Erschütterungen standhalten, ohne dass es zu gewaltigen Umbrüchen käme." 
(Vgl. dazu übrigens auch das Handout The Disastrous 14th Century der University of Wisconsin.)

-- Auch im weiteren Verlauf macht Dreher immer wieder deutlich, dass er die von ihm beschriebenen Phänomene wie Reformation, Aufklärung und Industrialisierung durchaus nicht schlichtweg "verteufeln" will; vielmehr zeigt er auf, dass es sich vielfach um folgerichtige und von guten Absichten getragene Reaktionen auf real existierende Missstände handelte - die aber im Endergebnis dennoch das kollektive Bewusstsein der westlichen Gesellschaften immer weiter von seinen christlichen Wurzeln entfernten. Ausgesprochen interessant sind Drehers Ausführungen zu dem scheinbar paradoxen Faktum, dass die USA trotz der starken christlichen Prägung ihrer Gesellschaft als säkularer Staat gegründet wurden: 
"Die Verfassung der USA, ein zutiefst von der Philosophie John Lockes geprägtes Dokument, privatisiert die Religion, indem sie sie vom Staat trennt. Jedes amerikanische Schulkind lernt, dies als einen Segen zu betrachten, und vermutlich ist es auch einer. Dennoch hatte diese Art der Trennung von sakraler und säkularer Sphäre tiefgreifende Auswirkungen auf die Ausformung des religiösen Bewusstseins der Amerikaner.
Bei allem Guten, das der Grundsatz religiöser Toleranz einem jungen Land bescherte, dessen Bevölkerung aus vielfältigen und miteinander zerstrittenen protestantischen Sekten und einer katholischen Minderheit bestand, legte diese Toleranz zugleich auch das Fundament für einen Ausschluss der Religion aus dem öffentlichen Raum, indem sie diese zu einer Frage privater, individueller Wahl erklärte. [...]
Wenn eine Gesellschaft durch und durch christlich geprägt ist, ist dies ein genialer Weg, den Frieden zu bewahren und allgemeines Florieren zu ermöglichen. Doch von einem christlichen Standpunkt aus gesehen enthielt der Liberalismus der Aufklärung bereits die Samenkörner für den Niedergang des Christentums." 
In diesem Zusammenhang zitiert Dreher einen Brief von John Adams - einem der Gründerväter der USA - an die Miliz des Staates Massachusetts vom 11. Oktober 1798: 
"Unsere Verfassung ist ausschließlich für ein moralisches und religiöses Volk gedacht. Um ein anderes zu regieren, wäre sie vollkommen ungeeignet." 
Zu einem prinzipiell ähnlichen Urteil kam Alexis de Tocqueville in seinem Werk Über die Demokratie in Amerika (1835): 
"Tocqueville kam zu dem Schluss, dass in der Demokratie die Zukunft Europas liege, stellte jedoch fest, dass sie mit ihrem Streben nach Gleichheit, das dazu tendierte, Normen vom Willen der Mehrheit abhängig zu machen, Gefahr laufe, ebenjene Tugenden zu eliminieren, die die Selbstregierung erst ermöglichten." 
(Denken wir an dieser Stelle kurz an das zu Recht berühmte Diktum des Staats- und Verfassungsrechtlers Ernst-Wolfgang Bockenförde: "Der freiheitliche, säkulare Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann".) -- Demokratien, so Tocqueville, können
"nur erfolgreich sein, wenn 'vermittelnde Institutionen' - darunter die Kirchen - in ihnen gedeihen." 
Nun spule ich aber mal ein Stück vor, mitten hinein in die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg: 
"Dies war eine Zeit, in der der Westen nach den Worten des Soziologen Zygmunt Bauman von der 'soliden Moderne' - einer Phase, in der der gesellschaftliche Wandel noch einigermaßen vorhersehbar und beherrschbar war - zur 'liquiden Moderne' überging - unserem gegenwärtigen Zustand, in dem Veränderungen so rasch vor sich gehen, dass gesellschaftliche Institutionen keine Zeit haben, sich zu verfestigen." 
Als bedeutenden Paradigmenwechsel in dieser Phase der Kulturgeschichte benennt Dreher - unter Berufung auf den Soziologen und Kulturkritiker Philip Rieff - den Siegeszug der Psychologie, insbesondere der Freudschen Psychoanalyse. Dreher zitiert Rieff, der mehrere Bücher über Freud verfasst hat, mit den Worten:
"Der Religiöse Mensch war dazu geboren, erlöst zu werden. Der Psychologische Mensch ist dazu geboren, befriedigt zu werden." 
Daran anknüpfend führt Dreher aus:
"Die 1960er waren das Jahrzehnt, in dem der Psychologische Mensch voll und ganz zu seinem Recht kam. In diesem Jahrzehnt wurde die Freiheit des Individuums, der Erfüllung seiner eigenen Begierden nachzujagen, zu unserem kulturellen Leitstern, und in der Folge begann der rapide Abfall der Moral Amerikas von ihrem christlichen Ideal. Trotz eines konservativen Backlashs in den 1980ern hat der Psychologische Mensch auf ganzer Linie gesiegt und beherrscht nun unsere Kultur - einschließlich der meisten Kirchen - so sicher, wie einst die Ostgoten, Westgoten, Vandalen und andere Eroberervölker die Überreste des Weströmischen Imperiums beherrschten." 
Und damit ist Mr. Dreher auf seinem tollkühnen Ritt durch die Geistesgeschichte auch schon in der Gegenwart angekommen. Natürlich habe ich sehr viel übersprungen, und sicherlich leidet die Stringenz darunter nicht unwesentlich. Lest das Kapitel nach! Es lohnt sich. Schauen wir nun aber auf die Gegenwart und absehbare Zukunft:
"Das romantische Ideal des sich selbst erschaffenden Menschen findet seine Erfüllung in der neuesten Avantgarde der Sexuellen Revolution: den Transgender-Personen. Diese lehnen es ab, sich durch biologische Fakten definieren zu lassen, und haben dabei eine Elite-Bewegung hinter sich, die die neuen Generationen lehrt, Gender sei einzig das, was das Individuum sein zu wollen entscheidet." 
Hui! Muss ich fürchten, dass gleich die Hate-Speech-Polizei an die Tür klopft? Ich hoffe nicht. Schließlich stellt Dreher lediglich einen Sachverhalt dar, der als solcher - wie man ihn auch bewerten mag - kaum zu leugnen ist: nämlich, dass Transgenderismus mit einem auf Bibel und Tradition gestützten christlichen Geschlechter- und überhaupt Menschenbild schlechthin unvereinbar ist. -- Sagte ich gerade, dieser Widerspruch sei kaum zu leugnen? Nun, natürlich gibt es Theologen, die leugnen ihn doch - beziehungsweise meinen, um diesen Widerspruch aufzulösen, müsse die Kirche ihre Lehre eben ändern. Zu dieser Sorte von Kirchenleuten sagt Dreher - natürlich - auch noch was, aber vorher will ich noch eins meiner Lieblingszitate aus diesem Kapitel der "Benedict Option" anbringen:
"Natürlich gibt es zu allen Zeiten moralisch laxe Menschen und solche, die Idealen und höheren Zielen abschwören, um stattdessen den Begierden ihres Herzens nachzujagen. Tatsächlich ist jeder von uns Christen zuweilen so. Man nennt das Sünde." 
Und wie verhalten sich nun die Kirchen dazu? Nun, da gibt es natürlich solche und solche, aber Dreher hat ja schon früher deutlich gemacht, dass er von vielen von ihnen keine besonders hohe Meinung hat.
"Kirchen - gleich welcher Konfession -, die nichts anderes sind als lockere Vereinigungen von Individuen, die danach streben, ihre jeweilige individuelle 'Wahrheit' zu finden, hören auf, in irgendeinem sinnvollen Verständnis Kirche zu sein - denn es gibt in ihnen keinen gemeinsamen Glauben mehr." 
Ich würde mal behaupten, das konnte man auf dem Evangelischen Kirchentag nun wirklich in idealtypischer Grausigkeit beobachten. Aber ob es sich dafür gelohnt hat, da hinzugehen? -- Kommen wir zum Fazit des Kapitels:
"In diesem Sinne mögen Christen heutzutage meinen, sie stünden in Opposition zur säkularen Kultur, aber in Wahrheit sind wir ebenso Geschöpfe unserer Zeit wie die säkularen Leute auch. [...] Wir mögen bestreiten, dass Gott tot sei, aber wenn man den religiösen Individualismus und seinen theologischen Überbau, den Moralistisch-Therapeutischen Deismus, akzeptiert, dann läuft das auf das Bekenntnis hinaus, Gott sei vielleicht noch nicht ganz tot, aber in Hospizpflege und ans Bett gefesselt." 
Tja. Was nun? Im dritten Kapitel, "Eine Regel zum Leben", führt der Autor aus, wie man aus den Kern- und Leitgedanken der Benediktinischen Ordensregel Impulse für eine geistliche Erneuerung beziehen kann, die ein christliches Leben inmitten einer feindlichen Umwelt ermöglichen sollen. Das Kapitel ist ziemlich umfangreich - das zweitlängste des Buches; noch länger ist nur Kapitel 7, in dem es um das Bildungs-, insbesondere das Schulwesen geht -, und auch ohne allzu sehr ins Detail zu gehen, wird es da erheblich mehr zu exzerpieren geben als in Kapitel 2. Deshalb mache ich an dieser Stelle erst mal einen Punkt. Fortsetzung folgt!


16 Kommentare:

  1. Tja, da kann man wohl kaum meckern.

    Außer dann beim Fazit. Und ein wenig beim Begriff von der "Kirche".

    (Detailliertere Würdigung und vielleicht doch nochn paar Detailwidersprüche folgen vielleicht später.)

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  2. Okay jetzt doch.

    Also es ist zumindest nicht so kritisch *gemeint* wie bisher das meiste :D

    Jetzt doch etwas detaillierter.

    Wie gesagt, an der Krisenbeschreibung ist wenig auszusetzen. Sie kommt einem freilich *bekannt* vor, aber das soll ausdrücklich nicht *falsch* heißen. Falls jemand this line of argumentation nicht kennt, sei hier kurz angemerkt, daß je nach Sozialisation jeder schon weiß, was gemeint ist, wenn er die Jahreszahlen 1317 – 1517 – 1717 – 1917 hört (wobei die erste hin und wieder auch weggelassen wird).

    Also:

    - 1317: Ockham beginnt seine Vorlesungen. Nominalismuskrise. „Kirche ja, Wahrheit nein“ (oder so).
    - 1517: Thesenanschlag Luthers. „Christus ja, Kirche nein“.
    - 1717: Gründung der ersten (eigentlichen) Freimaurerloge zu London. „Gott ja, Christus nein.“
    - 1917: Oktoberrevolution des sich als angewandten Atheismus verstehenden Kommunismus. „Nein zu Gott“ (oder so).

    In dem Zusammenhang wird dann in der Regel erwähnt, daß 1917 auch die Erscheinungen der Muttergottes in Fatima stattfanden und am Ende das Unbefleckte Herz der Gottesmutter siegen wird. Bisweilen wird auch erwähnt, daß im selben Jahr zum erstenmal das Hochfest der Gottesmutter als Landespatronin in Bayern begangen wurde und die Mariensäule auf dem gleichnamigen Platz in München in der Mitte zwischen Fatima und Moskau liegt.

    Das ist mancherorts ein alter Hut, und dürfte zum Gutteil stimmen, ich sage es ausdrücklich *nicht* mit spöttischem Unterton, stelle nur mit durchaus einem gewissen Erstaunen fest:

    Mr. Dreher goes Tradi!

    Der Unterschied ist nur, daß bei ihm in der Liste der Kommunismus fehlt und dafür die industrielle und sexuelle Revolution drinsteht. Gut, mancherort nennt man die sexuelle Revolution auch Kulturmarxismus, wie mir scheint ohne rechten Grund.

    Speziell warum er die *industrielle* Revolution drinstehen hat, die ich wenigstens mit bleibendem Effekt durchaus nicht als glaubensberaubend und zivilisationserschütternd ansehen würde, sehe ich so nicht. Die industrielle Revolution stellt sich zunächst einmal (wie die ja auch bei Mr. Dreher fehlende digitale) schlicht als technischer Fortschritt dar, die natürlich – übrigens laut Hilaire Belloc unter anderem deswegen, weil im Kernland der industriellen Revolution England das Ausrauben der Klöster die Balance an Kapitalbesitz durcheinandergebracht hatte – ihre Probleme, für den einzelnen ganz gewichtige Probleme, aus Wut über die tatsächliche oder vermeintliche Gier der Kapitalisten ein Abdriften in den Kommunismus und für den Glauben eine fern desselben sozialisierte Arbeiterklasse hervorbrachte: aber durch den eben auch noch *weiter* gehenden wirtschaftlichen Fortschritt, der die Verteilungsmasse erhöhte, durch die kirchliche Soziallehre und durch sicherlich mancherorts geradezu heroische Evangelisierungstätigkeit konnten diese Probleme doch bis Mitte des 20. Jahrhunderts behoben werden. Der spätere halb- oder ganze, faktische oder auch formelle Glaubensabfall war eben später.

    Ähnlich der Nominalismus: wie die Linie von 1317 nach 1517 genau führt, ist mir – auch bei den Traditionalisten – nicht ganz klar. Im 14. Jahrhundert brach sicherlich eine ganze Menge zusammen, das erstaunliche ist aber, wie sich der Orbis catholicus danach wieder aufrappelte. Der Nominalismus war verdammt und zu den Akten gelegt, das Schisma besiegt und zwar übrigens auch nicht 1447, wie man in Wisconsin meint, sondern for all practical effects 1418 mit der Wahl von Papst Martin; es zog sich danach noch ein vom Historiker zwar zu notierender, geistesgeschichtlich aber unbedeutender Rattenschwanz an Formalitäten bezüglich der Obödienz von Avignon hintennach, die mittlerweile auch nicht mehr in Avignon, sondern in einem Dörflein bei Valencia (?, jedenfalls im Königreich Aragon) ihren Papstsitz hatte. Am Ende ging der Gegenpapst aus dem Zimmer raus, kleidete sich zum Dompropst von Valencia um und empfahl seinen Kardinälen, den Papst zum Papst zu wählen. Das war 1429.

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  3. Das Schisma des Basler Konzils war auch hier eben wieder ein *anderes*, hinter dem auch ein ganz anderes Problem steht, nämlich nicht die ehemalige babylonische Gefangenschaft der Kirche, sondern die Konziliarismusfrage. Als Amadeus vom Konzil (vom aufgelösten Konzil, das seine Auflösung bestritt, recte also ein Konventikel) zum Gegenpapst Felix V. gewählt worden war, meinte er mit einer gewissen Logik, er solle das Konzil jetzt leiten. „Von wegen“, sagte das Konzil, „das wäre ja dasselbe in grün.“ Darum ging es hier. Es führte auch nie zu derart kirchenspalterischen Problemen wie das große abendländische Schisma, war nach zehn Jahren vorbei, und der vormalige Kontrahent, Herzog a. D. von Savoyen, wurde vom Papst in aller Freundschaft zum Kardinalbischof von Sabina und Fürstbischof von Genf ernannt.

    Und ebenso ist die Philosophie der Aufklärung durchaus teilweise in Nominalismus zurückgefallen, dies stellt aber eben wieder ein neues Problem dar (und auch Luther kann man Nominalismus wohl nicht nachsagen, man nagle mich auf diese Aussage aber nicht fest).

    - Wir halten in passing kurz fest, daß Mr. Dreher
    >>die Erfindung der Verhütungspille und des Internets im 20. Jahrhundert
    in einem Atemzuge nennt. Und

    >> Geschichte ist ein Gedicht, kein Syllogismus."

    Nun, nachdem er ausgiebig über Kausalitäten der Geschichte gesprochen hat, gibt er ein Lippenbekenntnis zur Unkausalität derselben ab. Das ist völlig unnötig: tatsächlich hatte er mit dem Nachdenken über Kausalitäten schlicht und einfach *völlig recht*; wohl mit dem meisten, was er gedacht hat; sicher mit der Tatsache, daß er gedacht hat. Woher der Leser jetzt einen nicht nur kausalen, sondern auch mechanisch-unausweichlichen Zusammenhang nehmen soll, den Mr. Dreher (ebenfalls zu Recht) nicht angedeutet hat, so daß man das jetzt wieder korrigieren müßte, sehe ich nicht… zumal das „Geschichte ist ein Gedicht“ doch ein klein wenig romantisierend wirkt. Es sei denn, das sollte eine Anspielung auf den Spruch „history does not repeat itself, but it does rhyme“ sein.

    >>"Es ist wichtig, diese Darstellung […] zu begreifen, um zu verstehen, warum der bescheidene benediktinische Weg eine so wirkungsvolle Gegenkraft zu den zersetzenden Strömungen der Moderne darstellt."

    Nur daß in der Darstellung bisher gar nichts an eine Benedict Option denken hat lassen, zumal Benedikt seine Regel – als Verfassung von sich am christlichen Eremitentum und den Wüstenvätern orientierenden Mönchen! - um die Mitte des ersten Jahrtausends geschrieben hatte, als an all das noch überhaupt nicht zu denken war. Dies bei aller Wertschätzung für die benediktinischen (und zisterziensischen) Mönche sowohl in sich als auch in ihrer glaubenserhaltenden Funktion doch viel eher an eine Dominic Option denken, an ein contemplari et contemplata aliis tradere, zumal viel von der Misere und den Mitteln dagegen doch an das erinnert, was G. K. Chesterton in seinem unter vielen guten wohl bestem Buch, der Biographie des hl. Thomas von Aquin, schreibt und wie er den hl. Thomas als Gegenmittel empfiehlt.

    >>De[n] vorhersehbaren Vorwurf, das christliche Mittelalter über Gebühr zu idealisieren,
    lassen wir aus; wenn überhaupt, geht Mr. Dreher in seiner Distanzierung von der Kirche des Mittelalters zu weit. Daß diese schlechterdings korrupt war, stimmt so für den unfreundlichen Beobachter *vielleicht* für das ausgehende 15. Jahrhundert am päpstlichen Hof (der freundliche wird auch hier eine Menge von durchaus legitimen Beweggründen für die damaligen Verantwortlichen finden, warum sie so handelten, wie sie handelten), aber keineswegs das ganze Mittelalter hindurch.

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    1. Luther war wie das Gros der akademischen Theologie um 1500 nominalistisch geprägt. Der modifizierte Nominalismus war grob gesagt so etwas wie der theologische Mainstream der Zeit. Mancherorts - gerade in der älteren Forschung - aber auch in Whaleys Monumentalwerk zum HRR wird diskutiert in wie weit der Verlust an absoluten Wahrheiten durch den Nominalismus zu Luthers neurotischer Verzweiflung beigetragen haben könnte. Letztendlich schafft sich Luther dann aber bekanntermaßen seine eigene Theologie. Ich vermute hier besteht die Verbindung zwischen 1317 und 1517 im Tradi Narrativ, das ich zwar wegen der Zahlenmystik irgendwo auch skurril aber durchaus nicht ohne Reiz finde. Persönlich würde ich die "Schuld" des Nominalismus an der Reformation aber nicht überbetonen, ist doch nicht jeder Nominalist zur Reformation gewechselt, da spielen genug andere Faktoren hinein.
      - Ein Tradi und Historiker

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    2. Danke, interessant.

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  4. >>Aus diesem Prinzip leiten sich laut Charles Taylor die drei Grundpfeiler ab, auf denen die mittelalterliche christliche Vorstellungswelt - das heißt, die von allen rechtgläubigen Christen von der Zeit der frühen Kirche bis ins Hochmittelalter geteilte Wahrnehmung der Realität – ruhten: (i) Die Welt und alle Dinge in ihr sind Teil eines von Gott eingerichteten und mit Sinn erfüllten harmonischen Ganzen - und alle Dinge sind Zeichen, die auf Gott hindeuten. (ii) Die Gesellschaftsordnung ist in dieser höheren Ordnung verwurzelt. (iii) Die Welt ist aufgeladen mit spiritueller Kraft. – Diese drei Pfeiler mussten erst zerbröckeln, ehe die moderne Welt sich aus den Trümmern erheben konnte, sagt Taylor. Und in der Tat zerbröckelten sie. Das geschah nicht auf einmal und nicht auf geradem Wege, aber es geschah."

    Diese Pfeiler werden von der modernen Philosophie nicht gestützt und das ist schlimm genug. Dennoch scheint mir der heutige Mensch wenigstens die (ii) und die (iii) doch – bei aller häretischen und/oder abergläubischen Verirrung gerade in letzterem – durchaus noch fürwahrzuhalten.

    >>„Wohl wenige Zivilisationen könnten solchen traumatischen Erschütterungen standhalten, ohne dass es zu gewaltigen Umbrüchen käme."

    Ohne Zweifel. Umso erstaunlicher, daß es die mittelalterliche Gesellschaft weitgehend geschafft hat. Sie ging in die Renaissance über, zu welcher Veränderung die Umwerfungen allenfalls beigetragen haben. Doch ist Dante, wenn er unseren lieben Heiland in der Divina Commedia mit „o sommo Giove!“ anredet, bereits ein Vertreter der Renaissance.

    >>Ausgesprochen interessant sind Drehers Ausführungen zu dem scheinbar paradoxen Faktum, dass die USA trotz der starken christlichen Prägung ihrer Gesellschaft als säkularer Staat gegründet wurden:

    Wohl wahr.

    >>"Die Verfassung der USA, ein zutiefst von der Philosophie John Lockes geprägtes Dokument, privatisiert die Religion, indem sie sie vom Staat trennt. Jedes amerikanische Schulkind lernt, dies als einen Segen zu betrachten, und vermutlich ist es auch einer. Dennoch hatte diese Art der Trennung von sakraler und säkularer Sphäre tiefgreifende Auswirkungen auf die Ausformung des religiösen Bewusstseins der Amerikaner. Bei allem Guten, das der Grundsatz religiöser Toleranz einem jungen Land bescherte, dessen Bevölkerung aus vielfältigen und miteinander zerstrittenen protestantischen Sekten und einer katholischen Minderheit bestand, legte diese Toleranz zugleich auch das Fundament für einen Ausschluss der Religion aus dem öffentlichen Raum, indem sie diese zu einer Frage privater, individueller Wahl erklärte. […]
    Wenn eine Gesellschaft durch und durch christlich geprägt ist, ist dies ein genialer Weg, den Frieden zu bewahren und allgemeines Florieren zu ermöglichen. Doch von einem christlichen Standpunkt aus gesehen enthielt der Liberalismus der Aufklärung bereits die Samenkörner für den Niedergang des Christentums."

    Das ist soweit völlig korrekt. Auch der Verweis auf das Böckenförde-Diktum ist an der Stelle angebracht, wobei ich anmerken möchte, daß er genaugenommen das krachende Eingeständnis eine Unfähigkeit ist (was nur, wenn man es nur stolz genug sagt, heute vielen schon als Lösung gilt).

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  5. Allerdings legt es nahe, daß Mr. Dreher, wenn er „die westliche Welt“ sagt, „die Vereinigten Staaten von Amerika“ meint. Wie schon weiter oben übrigens, wenn er, als handle es sich um eine Selbstverständlichkeit, mit der Aufklärung zugleich die Hinwendung zur Demokratie nennt, obwohl die Aufklärung in Europa vielmehr eine scharfe Hinwendung zum Absolutismus, und zwar zunächst zum Monarchischen Absolutismus, erst später zum (naja fast) demokratischen Absolutismus der Revolution führte, welchletzterer wieder zurückgeschlagen wurde. Außerhalb Amerikas kam die Einführung parlamentarischer Rechte und die Verallgemeinerung der Wahl schrittweise, die Abschaffung der Monarchie kam in Frankreich 1871 (und zwar weil man sich auf keine Dynastie einigen konnte!), in Rußland 1917 mehr oder weniger zugleich mit dem Kommunismus, im übrigen nach den Kriegsniederlagen auf Wunsch der Sieger, ansonsten gibt es sie noch. Die Parlamentsrevolution der Engländer schließlich trat *vor* der Hoch-Zeit der Aufklärung auf und war ein Ausläufer des Reformationsgeschehens, und das fragliche Parlament kann man erst hundertfünfzig Jahre später in Ansätzen demokratisch nennen. Ein „Anfang 18. Jahrhundert Aufklärung, Ende 18. Jahrhundert dann Demokratie als Ergebnis“ ist keine generelle Entwicklung, sondern ein us-amerikanischer Sonderweg.

    Und entsprechend hat man andernorts auch andere Probleme. Teilweise durchaus *größere*; aber der spezielle hier gemeinte Liberalismus hat sich zwar in die Gesetze, aber nicht in die Mentalitäten der Länder durchgeschlagen. Übrigens ausdrücklich auch nicht in Frankreich oder in der DDR: Dort ist der Laizismus (Frankreich) und der leicht atheistisch eingeschlagene Agnostizismus (Ex-DDR) mittlerweile *Staatsreligion*, in ersterem Fall offiziell, in letzterem inoffiziell; der Ausdruck „laissez faire“ ist nur der Sprache nach französisch.

    >>"Die 1960er waren das Jahrzehnt, in dem der Psychologische Mensch [der danach strebt, befriedigt zu werden ] voll und ganz zu seinem Recht kam. In diesem Jahrzehnt wurde die Freiheit des Individuums, der Erfüllung seiner eigenen Begierden nachzujagen, zu unserem kulturellen Leitstern,

    Jetzt muß ich aber schon mal einhaken: kultureller Leitstern hinüber, kultureller Leitstern herüber. Wollte der Mensch denn vorher *nicht* seinen Begierden nachjagen?
    Zumal er es – in legitimis et cum moderatione – auch *darf*. Sagt die katholische Lehre. Die ältere Frau in der dritten Kirchenbank von vorn, die auf die Jugend von heute schimpft, sagt es nicht unbedingt, zumal wenn sie nicht Katholikin ist.

    >>und in der Folge begann der rapide Abfall der Moral Amerikas von ihrem christlichen Ideal.

    Daß es so ist, ist unstrittig. Die Frage wäre freilich sicher zu stellen, zumal hier von „der Moral Amerikas“ die Rede ist, ob es hier nicht eine Reaktion auf ein spezifisch amerikanisches Problem und eine naturgemäß zu erwartende *Gegenreaktion* auf eine Übertreibung gehandelt hat. In dem Sinne wollte ich zunächst „oder von dem, was es für ihr christliches Ideal hielt“ schreiben – aber daß Amerika auch vom *tatsächlichen* christlichen Ideal sich zumindest im Vergleich mit früher entfernt hat, ist ja unstrittig. Nur: liegt das daran, zum Teil wenigstens, daß man vorher zuviel verlangt hat?

    You can shut yourselves in, but you cannot for ever shut the world out, heißt es im Herrn der Ringe. In dem Fall wäre es nämlich kontraproduktiv, auf irgendeine Weise, zum Beispiel durch inselartige Gemeinschaften, zu versuchen, einfach die alte „Moral Amerikas“ irgendwie wieder zu errichten. In dem Sinne erlaube ich mir mal, ausnahmsweise mal nicht das ebenso einschlägige The Sin of Prohibition, sondern On American Morals zu zitieren, von Chesterton, vierzig Jahre vor dem von Mr. Dreher angesprochenen Moralverfall und von *äußerster* Aktualität:

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    1. Falls der Kommentar technisch untergegangen ist:

      >>Der Liberalismus hat sich ... nicht in die Mentalitäten der Länder durchgeschlagen.

      Mir ist beim Darübernachdenken so gekommen, daß es möglicherweise eine seltsame Ausnahme gibt: Tschechien nach der samtenen Revolution. (Aber nicht die Slowakei.)

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  6. „Amerika bietet man uns bisweilen, sogar Amerikaner (die es besser wissen sollten) tun das, als moralisches Vorbild an. Es gibt tatsächlich ganz echte amerikanische Tugenden, aber diese tugendsame Haltung ist kaum eine davon. Und wenn jemand wissen will, was für ein Chaos von Schwäche und Inkonsequenz der moralische Kompaß Amerikas manchmal sein kann, dann möge er nicht so sehr auf die Kriminalitätsflut oder den Charleston-Tanz schauen, sondern auf die ernsten, idealistischen Essays der Intellektuellen und Kulturkritiker, z. B. Eines von Miss Avis D. Carlson mit dem Titel: 'Gesucht: ein Ersatz für Rechtschaffenheit'. Mit 'Rechtschaffenheit' meint sie natürlich die engstirnigen Tabus von Neuengland, aber das weiß sie nicht. Denn die Folgerung, die sie zieht, ist daß wir frank und frei anerkennen sollen, daß 'der abstrakte Standard von Richtig und Falsch moribund ist'. Diese Feststellung wird weniger wahnsinnig klingen, wenn wir einmal darüber nachdenken was, etwas seltsamerweise, mit abstrakter Standard von Richtig und Falsch gemeint ist, wenigstens in ihrer Gegend der Staaten. Es ist ein Blick in eine unglaubliche Welt.
    Sie nimmt den Fall eines jungen Mannes, großgezogen 'in einem Heim, wo man versuchte, eine dogmatische Scheidung von Richtig und Falsch vorzunehmen.' Und worin bestand die dogmatische Scheidung? Ach, worin denn schon! Seine Erzieher verzählten ihm, daß die einen Dinge richtig und die anderen Dinge falsch seinen, und eine Zeitlang akzeptierte er diese komische Behauptung auch. Aber wenn er sein Daheim verläßt, findet er heraus, daß 'anscheinent vollkommen nette Leute die Dinge tun, die man ihm beigebracht hat für böse zu halten. Darauf folgt eine Offenbarung: 'Das blumenartige Mädchen, das er mit einem Nebel romantischer Idealisation umhüllt, raucht wie ein Schlot und knutscht wie ein Vamp aus einem Film. Der Kumpel, nach dem sich sein Herz ausstreckt, hat einen Flachmann, usw.' Und das ist das, was die Verfasserin eine dogmatische Scheidung von Richtig und Falsch ist!
    Der abstrakte Standard von richtig und falsch ist anscheinend das folgende. 1. Ein Mädchen, das eine Zigarette raucht, macht sich dadurch zur Gefolgschaft der Dämonen aus der Hölle. 2. Eine solche Handlung ist ziemlich die gleiche wie die eines sexuellen Vampirs. 3. Ein junger Mann, der weiterhin geistige Getränke zu sich nimmt, ist mit Notwendigkeit „böse“ und muß sogar die Existenz irgendeines Unterschieds zwischen Richtig und Falsch ableugnen. - Das ist der 'abstrakte Standard von Richtig und Falsch', der anscheinend im amerikanischen Zuhause beigebracht wird. Und ist ist vollkommen offensichtlich, es liegt auf der Hand, daß es überhaupt kein abstrakter Standard von Richtig und Falsch ist. Das ist präzise, was es nicht ist. Das ist das letzte, was irgendein klar denkender Mensch es nennen würde. Es ist nicht abstrakt; es ist kein Standard; es hat nicht die geringste Ahnung von dem, was man mit Richtig und Falsch meint. Es ist ein Chaos von sozialen und sentimentalen Zufällen und Assoziationen, manche davon snobhaft, alle provinziell, aber vor allem alle konkret und mit einem materialistischen Vorurteil gegen bestimmte Materialien behaftet. Einen Horror gegenüber dem Tabak zu haben ist kein abstrakter Standard von Richtig und Falsch, sondern das glatte Gegenteil. Es heißt, überhaupt keinen Standard des Richtigen zu haben, und gewisse lokale Vorlieben und Abneigungen zu einem Ersatz zu machen. Wir brauchen nicht überrascht zu sein, wenn der junge Mann diese bedeutungslosen Vetos übertritt, sobald er kann; aber wenn er denkt, daß er damit die Moral zurückweist, dann ist er fast so meschugge wie sein Vater. Und doch schlägt die Verfasserin in aller Seelenruhe vor, daß wir alle Ideen von Richtig und Falsch abschaffen und den ganzen menschlichen Begriff von einem abstrakten Standard der Gerichtigkeit verlassen sollten, weil ein Bursch in Boston nicht dazu gebracht werden kann zu glauben, daß ein nettes Mädel eine Teufelin ist, wenn sie eine Zigarette raucht.

    [wird im Zitat fortgesetzt]

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    1. großgezogen in einem Heim: falsch übersetzt, gemeint "in einem Zuhause"

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  7. (im Chesterton-Zitat weiter)

    […] Ich denke, diese Episode ist erwähnenswert, allein weil sie einen Lichtstrahl wirft auf den moralischen Zustand der amerikanischen Kultur im Niedergang des Puritanismus.“

    >>"Das romantische Ideal des sich selbst erschaffenden Menschen findet seine Erfüllung in der neuesten Avantgarde der Sexuellen Revolution: den Transgender-Personen. Diese lehnen es ab, sich durch biologische Fakten definieren zu lassen, und haben dabei eine Elite-Bewegung hinter sich, die die neuen Generationen lehrt, Gender sei einzig das, was das Individuum sein zu wollen entscheidet."

    In der Beziehung erlaube ich mir, ein wenig optimistischer zu sein. Diese ganze Transgenderei ist, zumindest soweit ich das mit meinem zugegeben beschränkten Einblick sehe, nichts weiter als (das aber schon) eine *Fiktion* des politischen (z. B. feministischen) Kampfes, der zumal hier noch ein wenig befeuert, daß Transsexualität (z. B. XY-Frauen) ein tatsächlich existierendes Phänomen (als Behinderung) ist.
    *Nicht* als Fiktion empfunden wird die moralische Einwandfreiheit homosexuellen Geschlechtsverkehrs; was durchaus noch ein ziemlich kritisch werdendes Problem werden kann. In bezug auf cis-Frauen und cis-Männer und wie sie alle heißen und auch die Bezeichnung der Homo-Ehe als Ehe kann man auch dem modernen Menschen immer noch sagen: „also mal im Ernst jetzt“ - zumindest wenn sie sich nicht gerade im Kampfmodus befinden und deshalb ihre natürliche Reaktion, mitzulachen, unterdrücken.
    >>"Natürlich gibt es zu allen Zeiten moralisch laxe Menschen und solche, die Idealen und höheren Zielen abschwören, um stattdessen den Begierden ihres Herzens nachzujagen. Tatsächlich ist jeder von uns Christen zuweilen so. Man nennt das Sünde."

    Das stimmt so, wie es dasteht. Auch. Natürlich ist die christliche Moral *auch* ein Ideal. Natürlich hat jede Sünde irgendwo in den Begierden des Herzens den Auslöser, sonst würde sie ja nicht getan.

    Aus gewissen Zusammenhängen heraus beschleicht mich allerdings der Verdacht, daß Mr. Dreher hier zumindest unterschwellig der durchaus verbreiteten Vorstellung anhängt, christliche Moral bestehe im spezifischen und wesentlichen in einem *Mehr*, nämlich, mehr zu tun als man muß (daß das ein Selbstwiderspruch ist, wird ignoriert); insofern seinen gegen die modernen sexuellen Verirrungen natürlicherseits gar keine Einwendungen zu machen, nur ein Christ müsse eben mehr leisten usw. und dazu gehöre eben usw.

    Das hat Mr. Dreher nicht ausdrücklich gesagt. Ich will es nur zur Abgrenzung erwähnen. Dann wäre es nämlich falsch.

    >>"Kirchen - gleich welcher Konfession -, die nichts anderes sind als lockere Vereinigungen von Individuen, die danach streben, ihre jeweilige individuelle 'Wahrheit' zu finden, hören auf, in irgendeinem sinnvollen Verständnis Kirche zu sein - denn es gibt in ihnen keinen gemeinsamen Glauben mehr."

    Nun: die katholische Kirche bleibt auch dann Kirche, wenn viele ihrer sich vielleicht noch nicht durch formelle Häresie von ihr getrennt habenden Mitglieder nicht viel mehr machen als das, und die übrigen sind zwar vielleicht in „irgendeinem [halbwegs] sinnvollen“ Verständnis, aber egal wie gläubig auch immer nicht im eigentlich richtigen Verständnis Kirche, mit den Orthodoxen mit Sakramenten und Bischofsstruktur irgendwo in der Mitte. Schwamm drüber.

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  8. Nun kommt es dann allerdings zum Fazit, und hier wird’s gleich kritischer:

    >>"In diesem Sinne mögen Christen heutzutage meinen, sie stünden in Opposition zur säkularen Kultur, aber in Wahrheit sind wir ebenso Geschöpfe unserer Zeit wie die säkularen Leute auch.

    Geschöpfe nein, geprägt ja; Schwamm drüber. Aber: Und wenn? Die Problematiken der Moderne bestreitet niemand oder sollte zumindest bestreiten; aber auch ihnen gegenüber kann doch der Christ, der als solcher zeitlos ist, zumindest mit Hilfe der Kirche präzise und zuweilen durchaus feingliedrige Urteile sprechen: hier ist es falsch, hier richtig. Usw. Prüfet alles, und das Gute behaltet. Gerade als von der modernen Welt geprägte Geschöpfe des Herrgotts haben wir mindestens das Recht und eigentlich sogar – unbeschadet des größeren Werts Einzelner, die durch darüber hinausgehenden Verzicht mehr leisten wollen – die *Aufgabe*, das an ihr nicht Taufbare auszumerzen und den Rest zu taufen. Wie in allen Zeiten zuvor. Der Wolf muß nicht Schaf werden, Hund reicht auch.

    >>Wir mögen bestreiten, dass Gott tot sei, aber wenn man den religiösen Individualismus und seinen theologischen Überbau, den Moralistisch-Therapeutischen Deismus, akzeptiert, dann läuft das auf das Bekenntnis hinaus, Gott sei vielleicht noch nicht ganz tot, aber in Hospizpflege und ans Bett gefesselt."

    Lassen wir das mal so stehen und gehen davon aus, mit Akzeptieren sei hier speziell gemeint, ausdrücklich zu akzeptieren, daß es außer den Tenets des sogenannten MTD *nichts zu glauben gebe* (was wir ja schon in vorangegangenen Diskussionen als das eigentliche Problem herausgestellt haben) – was ist jedenfalls darauf die Lösung?

    Genau: dasselbe eben *nicht* zu akzeptieren.

    Das ist erstmal eine geistige Entscheidung, die man einfach so trifft. Die Gemeinschaft mit denen, die es doch tun, aufkündigen folgt daraus durchaus zunächst *nicht*, hin und wieder wird man ihnen freilich ein „stimmt nicht“ entgegensetzen müssen.

    (So, das war's auch "schon".)

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  9. Diesmal keine Kritik, sondern nur ein zusätzlicher Gedanke, der mir gekommen ist:

    Kann man nicht auch sagen, dass spätere Epochen nicht nur falsche Entwicklungen der früheren Epochen weiterführten (z. B., etwas vereinfacht: Reformation: Kein Papst, Aufklärung: Kein Christus, Kommunismus: Kein Gott), sondern dass sie in gewissen Fällen auch auf Fehler der ihnen vorausgehenden Epochen mit dem genau entgegengesetzten Fehler reagierten (anstatt zur Lösung zurückzukehren)?
    Am auffälligsten finde ich das bei den Aufklärern mit ihrem "Jeder soll nach seiner Facon selig werden" - ihrem Zeitalter ging ja das Zeitalter der Religionskriege voraus, in dem sich Katholiken und Protestanten theologisch und physisch unnachgiebig bekriegten und am Ende keiner gewann; da zogen die dann praktisch genervt den Schluss "Das sind doch eh alles nur kleinkarierte Streitigkeiten um Unwichtiges, Hauptsache, man glaubt überhaupt an Gott und ist ein guter Mensch [oder, bei den wenigen atheistischen Aufklärern, nur: "ist ein guter Mensch"], solche Differenzen um Rechtfertigungslehre und Kirchenautorität schaden doch nur der richtigen Frömmigkeit und Moral, das alles ist Blödsinn und Aberglaube, den wir abschaffen sollten".

    - Crescentia.

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    1. Das kann man ohne Zweifel.

      Ob allerdings Dein spezielles Beispiel dafür passend ist, weiß ich nicht bzw. bezweifle es eher, denn zum einen waren die seinerzeitigen Religionskriege eben vielschichtiger und bei aller Grausamkeit der damaligen Kriegsgebräuche auch geistlich weniger fanatisch, als man sich das modern so vorstellt, gerade dort wurde das Kompromißlertum, ob man es gut findet oder nicht, nun einmal durchaus gepflegt. Ich sage nur: Kaiser [kath.] und katholische Liga [kath.] (was durchaus nicht einfach dieselbe Partei ist) verbündet sich mit Kursachsen [luth.] nebst protestantischen Reichsständen, um sich gemeinsamen Reichsfeinde Schweden [luth.] und Frankreich [kath.] zu erwehren, welche als zwar nicht wichtigster Punkt nebenbei auch für eine Restitution des Pfälzers [ref.] eintreten.

      Zum anderen wären die Religionskriege, wenn es denn reine solche gewesen wären, durchaus nicht unbedingt einfach als "Übertreibungen im Sinne von zu viel Religiosität" zu klassifizieren. Weder objektiv auf der Seite, die Recht hat (als uns), noch subjektiv auf der anderen.

      In diesem speziellen Fall dürfte das ganze eher auf einen ehrlich empfundenen Ökumenismus zurückzuführen sein, der aus dem Dreißigjährigen Krieg nicht etwa folgte (wie in einem der schlechteren Argumente für den europäischen Einigungsprozess "wir müssen uns vereinen, weil sonst bekriegen wir uns und das ist gar zu schrecklich"), sondern gleich mit der Reformation selbst auftrat, wo man die aufgeworfenen Fragen als Streitfragen auffaßte, für die es eine gesamtchristliche Lösung geben würde.

      Da die (dem Augenscheine nach) ausblieb, war es in gewisser Hinsicht nur naheliegend, wenn auch falsch, à la Kindergarten mit "wenn zwei sich streiten, ist beiden Unrecht zu geben" zu reagieren.

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  10. Lieber Kingbear, kann man Sie persönlich anschreiben? Herzlich, in UdP SCM

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    1. Sicher. Sie können mir gern hier im Kommentarfeld Ihre Kontaktdaten hinterlassen (Kommentar wird nicht freigeschaltet und also nur für mich sichtbar), dann melde ich mich bei Ihnen.

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