Gesamtzahl der Seitenaufrufe

Mittwoch, 3. Mai 2017

Gesucht: Ein (mindestens) zweidimensionales Modell

Neulich ist mir etwas Komisches passiert: An einem und demselben Tag, im Abstand von wenige Stunden, wurde ich in einer Facebook-Diskussion als "linksmodernistisches Arschloch" tituliert, und in einer anderen wurde mir unterstellt, ich würde "der AfD nahe stehen". Vive la difference, könnte man sagen - aber bei genauerem Hinsehen wird der Sachverhalt noch komischer: Während der Begriff des "Modernismus" sich ja eigentlich auf theologische Standpunkte bezieht, fiel die Bezeichnung "linksmodernistisches Arschloch" in einer Diskussion, in der es um Politik und dabei auch ganz konkret um die Haltung zur AfD ging; wohingegen in der Diskussion, in der mir eine Nähe zur AfD attestiert wurde, von Politik bis zu diesem Moment überhaupt keine Rede gewesen war - sondern lediglich von theologischen Fragen. 

Offensichtlich werden hier also fröhlich die Diskurse vermengt, und das ist im Grunde gar keine so neue Erfahrung. Es scheint eine recht verbreitete Annahme zu sein, dass jemand, der in theologischen und/oder "kirchenpolitischen" Fragen Standpunkte vertritt, die als "konservativ" wahrgenommen werden, auch im weltlich-politischen Bereich mit "rechten" Parteien sympathisieren müsse. Und umgekehrt, und umge-umge-kehrt

Jüngst wurde ich nun, wiederum via Facebook, auf einen von der Süddeutschen Zeitung bereitgestellten "Filterblasen-Test" aufmerksam gemacht, der in Aussicht stellt, anhand der "Likes", die man auf Facebook vergibt, die politische (und zwar auch explizit parteipolitische) Ausrichtung des virtuellen Umfelds zu ermitteln, in dem man sich bewegt. Angesichts der Tatsache, dass meine Facebook-Aktivität sich in erheblich größerem Umfang auf religiöse als auf im engeren Sinne politische Themen erstreckt, frage ich mich nun natürlich schon, was für eine politische Ausrichtung mir da wohl diagnostiziert werden würde. Aber ich glaube, ich probiere es lieber nicht aus. 

Alles in allem scheint mir allerdings die vielfach angenommene bzw. unterstellte "Zwangskopplung" von religiösen und politischen Einstellungen noch nicht der eigentliche Kern des Problems zu sein. Wenn man - wie ich vor einiger Zeit in der Tagespost ausgeführt habe - schon im explizit politischen Bereich begründete Zweifel daran haben kann, ob das aus dem vorletzten Jahrhundert stammende Rechts-Links-Schema überhaupt noch dazu geeignet ist, das heutige Meinungsspektrum sinnvoll abzubilden, dann gilt das im religiösen Bereich nur umso mehr. Es ist zwar durchaus gängig, widerstreitende Positionen innerhalb einer Konfession - im Folgenden beziehe ich mich konkret auf die Katholische Kirche - entlang einer eindimensionalen Achse zu sortieren oder sie, noch simpler, zwei großen "Lagern" namens "liberal" und "konservativ" zuzuordnen, aber wirklich überzeugend erscheint mir das nicht. Erst recht nicht, nachdem ich mal privatim einen Versuch unternommen habe, diese "Lager" auf der Basis meiner persönlichen Eindrücke genauer auszudifferenzieren und ihre, wenn man so will, "Untergruppen" auf einer Achse von "links" nach "rechts" aufzureihen. Das sah dann ungefähr so aus: 

"linke" Dissidenten (z.B. "Wir sind Kirche") - liberaler Mainstream - moderat-konservativer Mainstream - Traditionskatholiken - "Neocons" - Traditionalisten - "rechte" Dissidenten (z.B. Piusbruderschaft). 

Bevor ich darauf komme, warum mir diese Aufstellung letztlich unbefriedigend erscheint, muss ich wohl etwas zu der nicht unbedingt selbsterklärenden Unterscheidung zwischen "Traditionskatholiken" und "Traditionalisten" sagen. Ich gebe gleich zu, dass diese Einteilung nicht unbedingt doktorarbeitsreif ist, aber meinem Laienverständnis nach verhält es sich wie folgt: Unter "Traditionskatholiken" verstehe ich Kirchenmitglieder, die fest im Glauben und in der Praxis der Kirche verwurzelt aufgewachsen sind und zu keinem Zeitpunkt explizit mit dieser Verwurzelung gebrochen haben - und für die eine Glaubenspraxis, die nicht allein den regelmäßigen Besuch der Heiligen Messe (nach Möglichkeit auch an Werktagen) umfasst, sondern z.B. auch Rosenkranzgebet, Maiandachten, Kreuzwegandachten in der Fastenzeit etc., einen selbstverständlichen Bestandteil ihres alltäglichen Lebens darstellt. Dahingegen verstehe ich unter dem Begriff "Traditionalisten" auf eine im Wesentlichen ausgesprochen moderne Bewegung von Katholiken, die sich vor allem durch eine Vorliebe für die außerordentliche Form des Römischen Ritus auszeichnen. Unter diesen gibt es viele Konvertiten, Neu- und Wiederbekehrte, sie sind oft relativ jung, überdurchschnittlich gebildet und mobil. Schlicht auf den Punkt gebracht: Besucht man in einer "normalen" Pfarrkirche eine Werktags-Frühmesse oder eine Rosenkranzandacht, wird man dort überwiegend "Traditionskatholiken" antreffen - "Traditionalisten" eher nicht, denn die gehen, soweit sie die Möglichkeit haben, eher nicht in ihre Ortspfarrei, sondern lieber zu einer Gemeinschaft, die die außerordentliche Form pflegt. Also etwa zur Petrusbruderschaft oder in Berlin beispielsweise zum Institut St. Philipp Neri

Nun ist die von mir entworfene Aufreihung unterschiedlicher Strömungen innerhalb der Katholischen Kirche zwar zweifellos differenzierter als die bloße Gegenüberstellung eines "liberalen" und eines "konservativen Lagers", aber befriedigend finde ich sie, wie gesagt, trotzdem nicht. Im Wesentlichen sind mir an diesem Modell drei Mängel aufgefallen: 

  1. Ich wüsste gar nicht so genau, wo ich mich selbst da einsortieren sollte. (Das ist schon mal ein ziemlich schwerwiegender Einwand.) 
  2. Was ist eigentlich mit den Charismatikern? Die tauchen in dieser Aufstellung gar nicht auf, obwohl sie doch eigentlich eine Gruppe mit ziemlich spezifischen Charakteristika darstellen. 
  3. Für die meisten der genannten Gruppen könnte ich keine eindeutigen Kriterien benennen, die sie trennscharf von den anderen abgrenzen. 
(Bildquelle hier.)

Meine Schlussfolgerung daraus lautet: Das Modell ist schlicht zu eindimensional. Wenn ich versuche, mir eine graphische Darstellung der verschiedenen Strömungen innerhalb der Katholischen Kirche vorzustellen, sehe ich vor meinem geistigen Auge eher so amöben- oder kartoffelförmige "Bubbles" mit teils mehr, teils weniger großen Überschneidungsflächen. Also so ähnlich wie die berüchtigten "Sinus-Milieus". Amöben- oder kartoffelförmige Flächen lassen sich auf einer Rechts-Links-Achse aber nicht darstellen; man bräuchte mindestens noch eine zweite Achse. Wie beispielsweise beim Politischen Kompass


(Bildquelle hier.)
Ich würde vorschlagen: Auf der X-Achse notiere man - und zwar, um der liebgewonnenen Gewohnheit entgegenzukommen, in Kategorien von "links" und "rechts" zu denken, in Leserichtung von "liberal" nach "konservativ" sortiert - die doktrinelle Position, nach Maßgabe des Katechismus der Katholischen Kirche. Je mehr jemand der Meinung ist, die im Katechismus niedergelegte Glaubens- und Sittenlehre sei zu strikt oder einfach "nicht mehr zeitgemäß", desto weiter links landet er auf der X-Achse; je mehr er findet, die Lehre der Kirche sei seit dem II. Vaticanum zu lasch und zu schwammig geworden und das Tridentinum habe einfach viel mehr gerockt, desto weiter rechts wird er einsortiert. 

Und was machen wir mit der Y-Achse? -- Auf der würde ich gern die Haltung zu kirchlichen Strukturen abbilden - im Minus-Bereich "strukturkonservativ", im Plus-Bereich "strukturinnovativ". Das könnte nämlich für einige Überraschungen sorgen. Meinem persönlichen Eindruck zufolge ist z.B. ein nicht unwesentlicher Teil des "liberalen Mainstreams" ausgesprochen strukturkonservativ - und das aus gutem Grund, nämlich weil es Vertretern dieses Spektrums in einem "Langen Marsch durch die Institutionen" über die letzten vier bis fünf Jahrzehnte gelungen ist, Strukturen zu besetzen und zu dominieren; und folgerichtig kämpfen sie deshalb jetzt für die Erhaltung dieser Strukturen. Demgegenüber sind Traditionalisten - im oben beschriebenen Sinne des Begriffs - tendenziell strukturinnovativ, aus dem einfachen Grund, dass es für ihr Anliegen keine oder kaum etablierte Strukturen gibt und sie diese selbst schaffen müssen. 

Das ist sicher alles mehr oder weniger unausgegoren, aber ich bin ja auch kein Fachmann. Im Grunde bräuchte man jemanden, der sich sowohl mit Statistik als auch mit IT auskennt und der so ein zweidimensionales Modell basteln könnte - und am besten auch gleich eine Umfrage dazu. Es wäre bestimmt spannend zu sehen, wie sich verschiedene Kirchenfunktionäre, Protagonisten kirchenamtlicher und privat betriebener katholischer Medienportale oder auch sonstige "prominente Katholiken" da einsortieren... 



10 Kommentare:

  1. Wenn mir die blöde Bemerkung gestattet ist, die Differenzmenge wird so gut wie nie wie hier im Bild mit A Gedankenstrich B, sondern mit "A\B" bezeichnet...

    AntwortenLöschen
  2. Hiermit oute ich mich als fest im traditions-humanistischen säkularen Bereich aufgewachsene, täglich zur Messe und zur Anbetung gehende, Maiandachten liebende Traditionskatholikin, die sich in der katholischen Charismatischen Erneuerung heimisch fühlt. Watt nu?

    AntwortenLöschen
  3. - liberaler Mainstream: ich sag's nicht gern, aber vermutlich würden einige mich gerne dorthin moralisch und/oder politisch einordnen, ersteres weil ich auf dem Grundsatz "man muß nicht mehr tun, als man tun muß" bestehe, zweiteres weil ich eine gewisse Partei für ein gegen die Konservativen und Traditionalisten gerichtetes trojanisches Pferd halte.
    - moderat-konservativer Mainstream: ja, aber soweit das übrige dem nicht entgegensteht
    - Traditionskatholik: ja, aber ohne praktizierendes Elternhaus und derzeit leider teilweise ohne so viel formelles Gebet (alltäglich wäre es mir aber dennoch).
    - Neocon: gar nicht
    - Traditionalist: ja, aber leider nicht mit soviel Einsatz (zur Zeit), wie man von einem Traditionalisten erwarten könnte.
    - rechter Dissident: teilweise, aber auch wieder kritisch...

    jajajaja, schwierig.

    AntwortenLöschen
  4. Wobei "Neocon" ja erstmal nicht genau definiert ist (wie würdest Du das tun?)?. Ich habe es intuitiv so in Richtung "stimmt in allem mit George Weigel überein" verstanden, insofern dann mein "gar nicht".

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Nun ja, George Weigel ist wohl noch mal ein Thema für sich - wobei ich zugeben muss, dass ich mich mit dem noch gar nicht sooo viel beschäftigt habe, wie es für jemanden mit meinen Anschauungen und Neigungen vielleicht (?) naheliegend wäre.

      Wirklich trennscharfe Definitionen habe ich, wie schon angemerkt, nicht anzubieten; aber was ich mir unter "Neocons" vorstelle, wäre in etwa:

      Diejenigen, deren Kirchenbild sich - im Unterschied zu den Traditionalisten - nicht so sehr an vorkonziliaren Verhältnissen orientiert als an einer konservativen, sprich: kontinuitätsorientierten Lesart des II. Vaticanums und des nachkonziiaren Lehramts; in biographischer Hinsicht oft (aber nicht zwingend) Konvertiten, Neu- oder Wiederbekehrte, aber auch "cradle Catholics" ohne allzu ausgeprägten "traditionskatholischen" Background (sonst wären sie nämlich *da* einzusortieren).

      ...Wenn ich's mir recht überlege, bin ich wohl doch ziemlich "neocon"... ;)

      Löschen
  5. Traditionskatholik mit Hang zum Traditionalismus ohne Berührung zum Zwischenglied Neocon mit aggresivem Dissidententum in Viele Richtungen. Am Rhein sagen wir dazu: Normaal!

    AntwortenLöschen
  6. Was die AfD angeht: Hat die nicht sowieso auch (neben ihren vielen anderen Tendenzen) eine gewisse antireligiöse Tendenz? Ich meine, Aufruf zum Kirchenaustritt, und Diskussion über ein Beschneidungsverbot auf dem letzten Parteitag (letztlich abgelehnt, weil man damit ja auch antisemitisch erscheinen könnte, was dann in der Hinsicht schlecht aussähe, dass man sich ja eigentlich als Beschützer der Juden gegen den Islam präsentieren möchte (nicht, dass der islamische Antisemitismus nicht dringend mehr beachtet gehört))... Die Frage ist ja: Wollen die dem Islam eigentlich ein christliches Abendland entgegensetzen oder ein gründlich säkularisiertes?

    - Crescentia.

    PS: Interessante Milieueinteilung. Ich schätze, ich wäre irgendwo zwischen moderat konservativ, traditionskatholisch und neocon (nach der obigen Definition). (Schon irgendwie katholisch sozialisiert, aber die einzige regelmäßige Kirchgängerin in der Familie, in der Novus-Ordo-Pfarrei daheim und noch nie in einer alten Messe gewesen, aber dafür auch ein Fan von Gregorianik, gotischen Kirchen (NICHT von barocken!) und dem hl. Thomas, außerdem vom hl. Johannes Paul II. und Benedikt XVI., dazu kommt andererseits auch eine gewisse persönliche Verehrung für den sel. Paul VI....)

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Bezüglich der Haltung der AfD zur Religion stimme ich Dir zu. Es gibt zwar die "Christen in der AfD" ("ChrAfD" - "Sie möchten gern 'Kraft' ausgesprochen werden", habe ich mal eine Referentin bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung sagen hören), und die erfüllen auch eine strategische Funktion für die Partei, nämlich christlich geprägte Konservative anzusprechen, die von der CDU enttäuscht sind. Aber im Ganzen herrscht in der AfD wohl doch eher ein aggressiver Säkularismus vor, der dem Christentum nicht viel weniger feindlich gesonnen ist als dem Islam.

      Löschen
  7. Ich habe diese Erfahrungen bzgl. der ganz unterschiedlichen, aber immer abwertenden Einordnungen meiner Ansichten auch erlebt. Abgesehen davon: Zur Identifizierung verschiedener Strömungen in der katholischen Kirche, was die Ansichten zu verschiedenen aktuellen Themen angeht, könnte man versuchen, einen Fragebogen zu entwickeln und anhand der Daten verschiedene Dimensionen und Gruppen zu identifizieren. Prinzipiell habe ich dazu die notwendige statistische Expertise. http://www.walter-statistics.com

    AntwortenLöschen