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Samstag, 30. September 2017

Wenn das Brot, das wir teilen... oder: Voll Stulle

Morgen ist Erntedank, und vierzehn Tage später ist der Gedenktag der Hl. Hedwig, einer der Berliner Bistumsheiligen und Patronin der Berliner Kathedrale. Hedwig von Andechs wurde schon knapp 24 Jahre nach ihrem Tod heiliggesprochen, und das ist heuer 750 Jahre her; ein Grund für das Erzbistum Berlin, ihren Gedenktag in diesem Jahr besonders zu feiern, und wenn man das aus saisonalen Gründen irgendwie auch noch mit dem Erntedankfest verknüpft kriegt, tant mieux

Soviel zu den Hintergründen der Aktion "Teilen macht glücklich", die das Erzbistum Berlin vor rund zwei Wochen per Pressemitteilung ankündigte und die morgen startet. "Eine Kampagne gemeinsam mit der Bäcker-Innung von Erntedank bis Hl. Hedwig", lautete die Titel-Unterzeile des Pressetexts, und schon an dieser Stelle schweifte ich gedanklich ein bisschen ab. Man mag es naiv-optimistisch von mir finden oder als déformation professionelle belächeln, aber angesichts einer Kooperation zwischen dem Erzbistum und der Bäckerinnung, noch dazu einer, die unter dem Motto "Teilen macht glücklich" steht, dachte ich spontan an so etwas wie Foodsharing bzw. Foodsaving. Meine praktischen Erfahrungen in diesem Bereich sind zwar insofern noch vergleichsweise überschaubar, als ich bislang erst an drei Foodsaving-Aktionen eigenhändig beteiligt war, aber in zweien dieser drei Fälle handelte es sich bei den "geretteten" Lebensmitteln um die Überreste der Tagesproduktion einer Bäckerei, und was ich da abgriff, war fast mehr als ich tragen konnte. Aufgrund dieser Erfahrung glaube ich ermessen zu können, dass es in Berlin gerade im Bäckereigewerbe eine enorme Überproduktion gibt - und dass folglich Tag für Tag beträchtliche Mengen an Backwaren, wenn sich nicht Initiativen wie eben Foodsharing um die Abholung und Weiterverteilung kümmern, aller Wahrscheinlichkeit nach im Müll landen. Das, so finde ich, wäre doch ein dankbares Betätigungsfeld für engagierte Christen. Zumal es ja auch allerlei kirchliche Einrichtungen gibt, die z.B. Suppenküchen für Obdachlose und andere Bedürftige betreiben. Die hätten sicherlich Verwendung für Brote und Brötchen, die nicht mehr frisch genug für den Verkauf, aber ansonsten noch total okay sind. 



Kurz, ich malte mir aus, eine gemeinsame Aktion von Erzbistum und Bäckerinnung hätte irgendwas damit zu tun, die Backwaren-Überproduktion für wohltätige Zwecke zu nutzen. Aber ach, die Realität ist viel banaler. 
"In mehr als 50 Bäckerei-Filialen in Berlin werden vom Erntedankfest bis zum Namenstag der Patronin der Berliner Bischofskirche 'Hedwigs-Brötchen' verkauft", 
verrät die Pressemitteilung. Ach je. Also nur schnödes Merchandising. Oder? 
"Die süßen doppelten Brötchen sind nach der Heiligen benannt, die sich um die Armen und Kranken und bei Hungersnöten um eine gerechte Verteilung von Lebensmitteln kümmerte. Sie hat aus der Geste des Teilens eine Lebensphilosophie gemacht." 
Gerechte Verteilung von Lebensmitteln ist ja, siehe oben, eigentlich ein interessantes Stichwort. Der Satz mit der Lebensphilosophie ist hingegen schlicht Bullshit, vermittelt aber einen Eindruck davon, wie man auf die abgefahrene Idee kommen kann, die Heilige durch ein nach ihr benanntes Brötchen zu ehren statt dadurch, ihrem Vorbild nachzueifern. 
"Aufsteller und Brötchentüten werben in den Bäckerei-Filialen für die Aktion: 'Teilt es, damit es Euch noch besser schmeckt!'" 
Och, Leute. 

Im exakt selben Zeitraum läuft übrigens eine fast identische Aktion in Niedersachsen. Die heißt "Backen für Gerechtigkeit", und auch dort sind "über 50 Innungsbäcker" beteiligt, die jedoch keine "Hedwigsbrötchen" backen, sondern "Reformationsbrötchen". Am Aufback... äh: -takt der Aktion nahm neben Landesinnungsmeister Dieter Baalk, dem evangelischen Landesbischof Ralf Meister, dem katholischen Domkapitular Propst Martin Tenge vom Bistum Hildesheim und Hannovers Bürgermeister Thomas Hermann auch "die frühere First Lady und jetzige Reformationsbotschafterin Bettina Wulff" teil. Momentchen, mag man sich jetzt fragen wieso backt ein katholischer Domkapitular Reformationsbrötchen? -- Weil, man höre und staune, die Aktion ökumenisch ist. Je verkauftem Brötchen werden 20 Cent an Brot für die Welt und das bischöfliche Hilfswerk Misereor gespendet. 

Was nun auch wiederum eine Frage aufwirft, nämlich, welchem guten Zweck eigentlich die Berliner "Hedwigsbrötchen"-Aktion zugute kommt. 

*... Grillenzirpen im Hintergrund...* 

Wie jetzt -- überhaupt keinem? 
Nee, anscheinend nicht, denn sonst würde das ja wohl an hinreichend auffälliger Stelle in der Pressemitteilung stehen. Die Frage, die dieser Umstand nun wiederum aufwirft, lautet: "UND WAS SOLL DER GANZE QUATSCH DANN?" Und es drängt sich leider der Verdacht auf, dass genau diese Frage im Planungsprozess der Aktion von niemandem gestellt wurde. 

Das Prinzip "Merchandising für einen guten Zweck", wie es in Niedersachsen mit den "Reformationsbrötchen" betrieben wird, finde ich nicht unbedingt besonders innovativ, aber immerhin noch überzeugender als "Merchandising OHNE guten Zweck". Das sollte die Kirche doch bitte Adidas oder Apple oder sonstwem überlassen. Die können das auch besser. 

Wenn das Erzbistum Berlin nun aber zu Marketingzwecken partout dazu beitragen muss, die Überproduktion von Backwaren noch weiter zu verstärken, bleibt zu hoffen, dass die daran beteiligten 50 Bäckereifilialen wenigstens mit dem Foodsharing-Netzwerk kooperieren. Damit die Brötchen, wenn sie nicht verkauft werden, wenigstens nicht im Müll landen. 


Hier geht's übrigens zu einem Spendenaufruf von foodsharing e.V. -- falls Ihr zum Erntedankfest etwas wirklich Sinnvolles mit Eurem Geld anfangen wollt... 


Mittwoch, 27. September 2017

Ist Bloggen "relevant"?

Zu diesem Thema wollte ich schon länger - das heißt, seit ungefähr zwei Monaten - mal etwas schreiben; aber heute ist der 6. Jahrestag der Eröffnung meines Blogs, da wird also ein Jubiläumsartikel fällig, und mir scheint, dafür eignet sich dieses Thema ziemlich gut. 

Wider die Versuchung des Hochmuts. 
Während ich mit meiner Liebsten in Lourdes war, wurde ich auf Umwegen auf einen Artikel auf katholisch.de aufmerksam, in dem es um "theologisches Feuilleton im Internet" ging. Nanu, dachte ich: katholisch.de schreibt über Blogs? Und das auch noch mit unverkennbarem Wohlwollen? Normalerweise betrachtet die Redaktion von katholisch.de die katholische Bloggerszene doch - aus Gründen - als ihren natürlichen Feind und spricht ihr gern mal die "publizistische Relevanz" ab. Okay, in dem besagten Artikel geht es nicht einfach um irgendwelche Blogs, sondern wie gesagt um theologisches Feuilleton im Internet. Also nicht um dahergelaufene Feld-, Wald- und Wiesenkatholiken, die ihre persönlichen Herzensergießungen über Gott und die Welt, die Kirche und den ganzen Rest in die virtuelle Öffentlichkeit hinausposaunen und sich dabei zuweilen sogar erdreisten, eine Meinung darüber zu haben, was die publizistischen Berufskatholiken so alles treiben; sondern um gepflegte Publikationen studierter Leute, die auf der Höhe des akademischen Diskurses stehen. Das ist natürlich etwas völlig Anderes. (Das ist es tatsächlich, das meine ich nicht [nur] ironisch.) 

Der von Felix Neumann gezeichnete Artikel stellt exemplarisch drei theologisch-feuilletonistische Blogs vor: Feinschwarz, Dei Verbum und y-nachten. Mit Feinschwarz habe ich mich hier schon ein paarmal auseinandergesetzt, mit y-nachten immerhin einmal; mit Dei Verbum hingegen noch nicht, was zum Teil dadurch bedingt ist, dass ich es trotz mehrerer Anläufe bisher nicht geschafft habe, auch nur einen auf dieser Seite erschienenen Artikel zu Ende zu lesen. Weil mich die Schreibe der beiden dort publizierenden Autoren einfach zu sehr nervt. Aber darum soll es hier nicht gehen, jedenfalls nicht primär. Begnügen wir uns damit, festzuhalten, dass, während Feinschwarz sich (meinem zweifellos unvollständigen Eindruck zufolge) hauptsächlich mit Pastoraltheologie befasst (und in diesem Bereich gern diverse Ansätze dazu diskutiert, die Kirche grundlegend "neu zu erfinden"), Dei Verbum und y-nachten eher darauf ausgerichtet scheinen, die Lehre der Kirche zu dekonstruieren: erstere v.a. durch eine entschlossen gegen den Strich der Lehrtradition bürstende Lesart der Bibel, letztere hingegen mittels Gender, Intersektionalität und sonstigem Hipstergequatsche. Dass y-nachten in einem Atemzug mit den beiden anderen Blogs genannt wird, erscheint schon in Hinblick auf das intellektuelle Niveau etwas befremdlich, aber auch damit will ich mich hier nicht groß aufhalten.

Was ich an dem katholisch.de-Artikel wirklich interessant fand, war der Umstand, dass bei y-nachten und Dei Verbum - bei Feinschwarz hingegen nicht - auch konkrete Angaben zur Reichweite gemacht wurden. Und da stellte ich - staunend, da ich es auch nach sechs Jahren immer noch gewohnt bin, mich als ein eher kleines Licht der katholischen Bloggerszene einzuschätzen - fest: Ich hab' mehr. Oder zumindest nicht weniger. "Gut 9000 Leser finden die Texte mittlerweile pro Monat", wird mit Bezug auf Dei Verbum verraten; weniger als das hatte ich zuletzt im August 2016, als ich auf dem Jakobsweg war und deshalb keine neuen Beiträge erschienen. Und über y-nachten heißt es: "Um die tausendmal wird ein erfolgreicher Artikel gelesen". Ein erfolgreicher. Nach diesem Maßstab hatte ich im laufenden Jahr bislang 24 "erfolgreiche Artikel", darunter einige, die weit über 1000 Aufrufen liegen. Ich erwähne das nicht aus Gründen der Selbstbeweihräucherung, auch wenn das so aussehen mag; im Gegenteil möchte ich damit die Frage aufwerfen, ob Reichweite gleichbedeutend mit Relevanz ist oder wie sich beide Größen zueinander verhalten. Immerhin habe ich es mit meiner Reichweite noch nicht zu einem Feature auf katholisch.de gebracht. Und wo wir schon davon reden: Insgesamt habe ich schätzungsweise 5% der Reichweite von katholisch.de. Wenn ich mir vorstelle, ich hätte auch 5% ihres Budgets... Oha. Da würde ich aber noch ganz andere Sachen anstellen.

Wie dem auch sei: Die genannten Zahlen zeigen wohl, dass, wenn Reichweite der einzige Indikator für "Relevanz" wäre, der Gesamtbereich der Internetpräsenzen mit dezidiert katholischen Content - einschließlich katholisch.de selber - vor dem Maßstab einer breiten Öffentlichkeit kaum der Rede wert wäre. Wer "katholisch schreibt", egal in welchem Medium, schreibt für ein Nischenpublikum; darüber sollte man sich keine Illusionen machen. Für die Frage nach der "Relevanz" ist somit eigentlich nur von Interesse, für welche Nische man eigentlich schreibt und inwieweit da die Resonanz den Aufwand rechtfertigt. Und es dürfte auf der Hand liegen, dass Formate wie Feinschwarz, Dei Verbum oder y-nachten eine wesentlich andere Nische ansprechen als Blogs wie zum Beispiel dieser hier. "[D]ie Rückmeldungen von Kommilitonen und Professoren sind positiv", freuen sich beispielsweise die Initiatoren von y-nachten; das sei ihnen gegönnt.

Nun sollte ich mich aber anlässlich meines sechsjährigen Bloggerjubiläums vielleicht mal fragen: Welches ist meine Nische? Der Witz ist ja, dass man sich, wenn man wie ich eher zufällig und aus einer Laune heraus mit dem Bloggen anfängt, diese Frage zunächst einmal überhaupt nicht stellt. Man schreibt einfach das, wonach einem der Sinn steht, und wenn Leute das lesen und es vielleicht sogar gut finden: bestens. Wenn nicht, ist das zwar ein bisschen schade, aber in erster Linie schreibt der Privatblogger ja nicht für die Leser, sondern zu seinem eigenen Spaß. Wenn man das eine Weile gemacht hat, stellt man allerdings irgendwann fest, dass positive Leserresonanz durchaus etwas ist, was zum "eigenen Spaß" beiträgt; beziehungsweise, dass das Ausbleiben positiver Leserresonanz einem den Spaß auch verderben kann. Noch entscheidender ist aber: Schreibt man über Dinge, die einem wichtig sind, dann hofft man natürlich, dass es "irgendwo da draußen" Leute gibt, denen diese Dinge auch wichtig sind. Und die will man erreichen. -- Was aber sind das für Leute, in meinem Fall? Über die tatsächliche Leserschaft kann man natürlich nur insoweit Aussagen treffen, wie man Feedback von ihr erhält, sei es durch Kommentare im Blog selbst, in den Sozialen Netzwerken oder auf anderen Kanälen. Und da kann ich sagen, die in diesem Sinne "aktive Leserschaft" meines Blogs scheint tatsächlich ungefähr so gestrickt zu sein, wie ich mir die Leute vorstelle, für die ich schreibe. Positives oder wohlwollend-abwägendes Feedback erhalte ich, je nach konkretem Thema, von einem durchaus breit gefächerten Spektrum von Katholiken (von "moderat-konservativ" über "traditionell" - nicht zu verwechseln mit "traditionalistisch"! - bis hin zu "Neocons" und Charismatikern; Traditionalisten im engeren Sinne sind da eher selten, und ausgesprochene Liberale erst recht), zuweilen auch von Evangelikalen und auch von Nichtchristen, die aber "dem Phänomen Religion gegenüber aufgeschlossen" sind; nicht wenige meiner regelmäßigen Leser bloggen selber auch, das muss diese interne Vernetzung sein, von der immer alle reden. Kritisches, entschieden negatives oder grob beleidigendes Feedback gibt es schwerpunktmäßig bei Artikeln mit besonders hohen Zugriffszahlen, was natürlich bedeutet, dass es stark vom jeweiligen Thema abhängt, wer sich da beschwert. Das können liberale Katholiken oder Protestanten sein, Ultra-Tradis, Berliner oder Nordenhamer Lokalpatrioten, professionelle Meckerköppe, Abtreibungsbefürworter oder Neuheiden. Während besonders die beiden letztgenannten Gruppen sich für gewöhnlich nur zu "ihren" Themen äußern, gibt es auch regelmäßige Leser, die in vielen wesentlichen Punkten ganz und gar nicht mit mir übereinstimmen und mir von Zeit zu Zeit mitteilen, dass sie das nach wie vor nicht tun. Dass sie trotzdem regelmäßige Leser sind, finde ich schon auch erfreulich. Von wegen Filterblase und so.

Ich sprach weiter oben von "erfolgreichen Artikeln" ab 1000 Lesern. Auf meinem Blog gibt es auch immer mal wieder "weniger erfolgreiche" Artikel, die vielleicht nur 200-300 Leser finden. Nicht selten sind das ausgerechnet solche Artikel, die mir persönlich wichtiger sind als manche, die in Hinblick auf die Zugriffszahlen so richtig "abgehen". Okay, sage ich mir dann: 200 bis 300 Leute; da hätte ich eine Menge zu tun gehabt, um das, was ich zu diesem Thema zu sagen gehabt habe, einer entsprechenden Anzahl von Leuten im persönlichen Gespräch mitzuteilen. So gesehen schon mal ein Erfolg. Ein noch weit größerer und schönerer Erfolg ist es, wenn - was hin und wieder mal vorkommt - sich Leser persönlich bei mir bedanken, etwa, weil einer meiner Artikel ihnen eine neue Perspektive auf bestimmte Themen eröffnet oder ihnen eine langgehegte Frage überzeugend beantwortet hat, oder einfach nur, weil das, was ich schreibe, sie berührt hat. Diese Art von Feedback ist absolut unbezahlbar und durch keine noch so stolze Zugriffsstatistik aufzuwiegen.

Meine Motivation zum Bloggen ist also auch nach sechs Jahren ungebrochen. Trotzdem, und auch trotz der Tatsache, dass sich die Zugriffszahlen, abgesehen von gewissen saisonalen Schwankungen, über die Jahre insgesamt konstant nach oben bewegt haben, treibt mich in jüngerer Zeit zunehmend die Frage um, wie relevant dieses ganze Geblogge eigentlich ist. Nein, keine Sorge, ich denke überhaupt nicht daran, mit dem Bloggen aufzuhören, und eigentlich noch nicht einmal daran, weniger zu bloggen (wozu es "aus Gründen" eventuell trotzdem kommen wird, aber dazu später). Aber woran ich sehr wohl denke, ist, dass Bloggen alleine nicht genügt. Dass es Anderes und Wichtigeres für mich zu tun gibt, um dem Reich Gottes zu dienen. Beeinflusst sowohl durch Rod Drehers "Benedict Option" als auch durch Schriften von Dorothy Day - was für mein Empfinden hervorragend zusammenpasst, auch wenn man Rod Dreher und Dorothy Day, politisch gedacht, in entgegengesetzten "Lagern" vermuten könnte -, neige ich immer mehr zu der Auffassung, dass lokale Basisarbeit das Gebot der Stunde ist, und wiewohl ich in den letzten Monaten bereits erste Schritte in diese Richtung unternommen habe, sehe ich da noch viel Luft nach oben. Ich bin durchaus der Meinung, dass das Bloggen eine sinnvolle und nützliche "flankierende Maßnahme" zur lokalen Basisarbeit sein kann, aber das würde bzw. wird erfordern, dass sich der inhaltliche Schwerpunkt dieses Blogs tendenziell verschiebt. Gut, das hat sich wohl schon seit einigen Monaten abgezeichnet, wenn auch nicht ganz konsequent. Ich vermute mal, so - also nicht ganz konsequent - wird das auch weitergehen.

Und dann - ein paar verstreute Andeutungen dazu gab es schon - werde ich in ein paar Wochen Vater. Dass das meine Prioritäten gründlich neu sortieren wird, dürfte jedem klar sein. Wie sagte die Hl. Mutter Teresa? "Wenn du die Welt verändern willst, geh nach Hause und liebe deine Familie." Auch darüber dürfte es eine Menge zu bloggen geben - sofern Zeit und Energie es erlauben. So oder so, auch dies wird den Schwerpunkt dieses Blogs verändern. Seien wir gespannt.



Freitag, 22. September 2017

Die menschliche Natur, als Käsekugel betrachtet

Dem Adverb "bekanntlich" wohnt eine erstaunliche Kraft inne, noch die aberwitzigsten Behauptungen mit einer Aura des Beglaubigten, nicht Bezweifelbaren zu umkleiden. Würde jemand beispielsweise schreiben "Die katholischen Kirchenoberen haben über Jahrhunderte behauptet, die Erde bestehe aus einer Scheibe Schweizer Käse", würde sich wohl so mancher Leser am Kopf kratzen und sich fragen, ob das wohl stimmen kann. Schreibt man hingegen "Die katholischen Kirchenoberen haben bekanntlich über Jahrhunderte behauptet, die Erde bestehe aus einer Scheibe Schweizer Käse", dann bleibt dem kritischen Leser nur noch, sich zu fragen, wie es sein kann, dass ihm diese allgemein anerkannte Tatsache bislang unbekannt war. 

Aus welcher Kultur stammt dieses Kosmos-Modell? Tipp: Nicht aus der christlichen!
(Bildquelle hier.)  

Der zitierte Satz steht in einem Leserbrief einer Yvonne W. aus N. an die Tagespost, die so freundlich war, dieses bemerkenswerte Stück Prosa tatsächlich zu drucken - wobei ich einräumen muss, dass der "Schweizer Käse" auf das Konto von Bloggerkollege Peter geht, der mich erst auf Frau W.s Leserbief aufmerksam gemacht hat. Ansonsten steht der Satz aber wortwörtlich so da. 

Worum geht's aber denn nun eigentlich in dem Leserbrief? - Das ist gar nicht so leicht zu erkennen und auf den Punkt zu bringen, aber der Anlass ist jedenfalls der Abschied Friedhelm Hofmanns von seinem Amt als Bischof von Würzburg. Dem scheidenden Bischof Hofmann ruft Yvonne W. nach, er habe "sich bis heute nicht mit der Lebenswirklichkeit angefreundet" und "also nichts hinzulernen" gekonnt. Ah ja. Aber was hätte er denn, Yvonne W.'s bescheidener Auffassung nach, hinzulernen können oder sollen

Nun, zum Beispiel, dass "der Schöpfergott, so es ihn gab beziehungsweise gibt [!], uns Menschen nicht ausschließlich als heterosexuelle Wesen geschaffen hat, sondern auch als Menschen mit homosexueller oder anderweitiger Orientierung". Hat man so ähnlich auch anderswo schon gehört oder gelesen -- aber ist es nicht interessant, wie sich Frau W. auf einen Schöpfergott beruft, von dem sie gleichwohl nicht ganz überzeugt ist, dass es ihn überhaupt gibt? Man könnte sagen, das verweise in aller wünschenswerten Deutlichkeit auf die Aporie des handelsüblichen "Wenn es Gott gibt, dann muss er aber auch so und so sein"-Geschwafels: Einen Gott, der genau so ist, wie man ihn gerne hätte, den kann man sich vielleicht vorstellen, aber so richtig echt an dessen objektive Existenz zu glauben, das ist schwer. Denn objektive Existenzen haben es im Allgemeinen so an sich, dass sie sich nicht meinen Vorstellungen darüber, wie sie zu sein hätten, anpassen. 

Gleich darauf folgt dann der Punkt mit der Erde als Scheibe. Was soll der in diesem Zusammenhang beweisen? Dass die Kirche keinen besonders tiefen Einblick in das objektive Wesen der Dinge habe, dass von "göttlicher Erleuchtung oder Eingebung" also "keine Rede sein" könne. Denn während die Kirche noch an der Lehre von der Scheibenform der Erde festgehalten habe, habe die "moderne Wissenschaft [...] längst erkannt, dass der Erdball kugelförmig strukturiert ist". Äh, Moment. Die moderne Wissenschaft hatte längst erkannt... Seit wann gibt es denn überhaupt eine moderne Wissenschaft? (Noch dazu eine, die von der Kirche unabhängig war... Aber stopp, dieses Argument könnte nach hinten losgehen.) Es kommt aber noch besser: 
"So dürfte es eines Tages auch bei der Frage der menschlichen Sexualität kommen." 
Das heißt dann wohl: Eines Tages wird die moderne Wissenschaft erkennen, dass die menschliche Sexualität kugelförmig strukturiert ist. Was ja beispielsweise Aristophanes schon vor rund zweieinhalb Jahrtausenden wusste. 
"Ähnlich wird es sich mit der Frauenordination entwickeln." 
Ach so? Heißt das, die ist auch kugelförmig? Oder vielleicht doch eher aus Käse? 

Aber mal im Ernst. Falls jetzt der eine oder andere Leser kritisch anmerken möchte, es sei doch ein bisschen billig, sich über Yvonne W.s ungelenke Formulierungen und unausgegorene Gedankengänge lustig zu machen, muss ich einräumen: Ja, stimmt. Dieses Phänomen, kraft der eigenen Wassersuppe viel besser über Gott, die menschliche Natur, Gut und Böse und alle Dinge überhaupt bescheid zu wissen, als die Kirche es in 2000 Jahren hingekriegt hat, findet man schließlich auch bei erheblich gebildeteren und eloquenteren Leuten als der guten Yvonne, die sich ihre gesammelten Weisheiten schwerlich ganz allein ausgedacht haben wird. Etwa, dass "Jesus aus Nazareth, der Wanderprediger, [...] keinerlei 'schriftliche Erklärungen'" hinterlassen habe, "denn die sogenannten Evangelien wurden etwa 50 bis 150 [!] Jahre nach seinem Tod verfasst, in griechischer Sprache, also nicht in Galiläa oder Palästina" [wo natürlich kein Mensch Griechisch sprach oder gar schrieb, schon klar]. Das hat sie doch bestimmt von irgendwelchen "fortschrittlichen" Theologen! "Es handelt sich also immer nur um Menschenwerk, ob nun gut gemeint oder nur schlecht gemacht", schlussfolgert sie. Nun wird's aber schon wieder aporetisch. Versucht man, den "historischen Jesus", den "Wanderprediger aus Nazaret", von dem Christus, den die Kirche verkündet und zu dem sie sich bekennt, zu unterscheiden und gegen diesen auszuspielen, stößt man schnell an das Problem, dass man über diesen geheimnisvollen Wanderprediger überhaupt nichts weiß und auch nichts wissen kann. Denn die "sogenannten Evangelien" und sonstigen Überlieferungen der Kirche sind dann ja schon aus Prinzip unglaubwürdig, und andere Quellen... gibt es nicht

Was mich übrigens an einen Blogartikel von Antje Schrupp erinnert, den ich neulich zu meinem Ärger gelesen habe. Antje Schrupp ist übrigens keine Theologin, auch wenn sie manchmal ganz gern so tut (dasselbe könnte man auch von mir behaupten, daher ist es nicht ganz so böse gemeint, wie es vielleicht klingt). Wie dem auch sei: Unter der Überschrift "Kein Argument gegen den historischen Jesus" setzte Frau Schrupp sich jüngst mit der Behauptung auseinander, "immer mehr" Wissenschaftler würden "die historische Existenz Jesu in Frage stellen". Das hauptsächliche Argument für solche Zweifel an der Historizität Jesu sei der Umstand, "dass es keine nicht-christlichen zeitgenössischen Zeugnisse über Jesus gebe". Das, meint Antje Schrupp, sei allerdings "kein wirkliches Argument"; soweit würde ich ihr noch zustimmen. Weiter führt sie jedoch aus: 
"Jesus selbst war quasi 'nur' ein Wanderprediger unter vielen. Er war zwar der 'Erlöser', aber wegen seiner Ethik, seiner Lehre [...]. Die Erlösung, die 'gute Nachricht', war [...] ein Vorschlag, das Leben auf der Erde anders zu gestalten und sich nach anderen Kriterien zu verhalten als die ansonsten üblichen[.]"
Die christliche Religion, so meint Antje Schrupp, sei 
"natürlich inspiriert von Jesu Lehre. Aber Jesus selbst war an der Ausarbeitung dieser Theologie und dieses Gottesverständnisses nicht mehr persönlich beteiligt. Er war ja schon tot." 
Wie ich an anderer Stelle schon mal schrieb: Bei Manchem, was so an Thesen und Deutungsmustern durch den theologischen Diskurs geistert, würde ich mir ein Warnschild oder auch eine Lautsprecherdurchsage wünschen, welche besagt: 
"Achtung, Sie verlassen soeben den Boden des Christentums. Bitte achten Sie auf Ihr Gepäck." 
Leserbrief-Autorin Yvonne W. aus N. braucht diesen Hinweis freilich nicht: Die hat sich schon vor längerer Zeit dazu entschlossen, "dem offiziellen Christentum den Rücken zu kehren". Wohingegen Antje Schrupp meint (oder jedenfalls anno 2014 meinte): 
"Alles, was sich so nennt, ist das Christentum, ob uns das passt oder nicht. Man darf der Versuchung nicht nachgeben, festlegen zu wollen, was rechtmäßig dazu gehört und was nicht." 
 Also, ich muss sagen: Im direkten Vergleich zu solchen Weisheiten ziehe ich es dann doch vor, mich vom Honigtau der Erkenntnisse einer eingestandenermaßen ex-christlichen Leserbriefschreiberin erquicken zu lassen... 



Donnerstag, 21. September 2017

Die Störche und das Blaue vom Himmel

Im Vorfeld des diesjährigen Marschs für das Leben hatte ich, wie schon in den Jahren zuvor, auf meinem persönlichen Facebook-Profil einige Beiträge mit Bezug auf diese Veranstaltung geteilt, die unschwer und mit Recht als Werbung für den Marsch verstanden werden konnten. Auf einen dieser Beiträge erhielt ich eine kritische Reaktion von einer Freundin, die sich mit Blick auf die nahe Bundestagswahl - ohne sich explizit für eine bestimmte Partei auszusprechen - stark gegen die AfD engagiert, beispielsweise mit einer Reihe von Kurzfilmen, die sie gedreht und auf YouTube veröffentlicht hat. Diese Freundin äußerte sich - sagen wir mal - unzufrieden darüber, dass ich für eine Demonstration warb (und selbst daran teilzunehmen beabsichtigte), bei der - den Erfahrungen der Vorjahre nach zu urteilen - voraussichtlich auch die prominente AfD-Politikerin und Europaparlamentarierin Beatrix von Storch mit von der Partie sein würde. Ich erwiderte, falls Beatrix von Storch auch dieses Jahr wieder am Marsch für das Leben teilnehmen würde, würde sie ja auch das Grußwort des Berliner Erzbischofs Heiner Koch zu hören bekommen, in dem dieser mehrfach betont, der Einsatz für das bedingungslose Lebensrecht aller Menschen schließe auch ein, "zur Lebensgefährdung etwa in der Flüchtlingsfrage nicht [zu] schweigen"; und diese Ermahnung zur Kenntnis zu nehmen würde Frau von Storch gewiss nicht schaden. Ganz zufrieden war meine Freundin mit dieser Erwiderung nicht, aber sie ist eben eine Freundin und kennt mich gut genug, um zu wissen, dass meine Übereinstimmung mit Positionen der AfD sich in sehr engen Grenzen hält, und so verlief die Diskussion im Ganzen friedlich. 

Ob Beatrix von Storch dieses Jahr tatsächlich beim Marsch für das Leben war, weiß ich übrigens nicht; gesehen habe ich sie nicht, vielleicht hatte sie so kurz vor der Bundestagswahl Anderes zu tun. Richtig ist, dass sie in den vergangenen Jahren mehrmals dabei war, mindestens einmal an sehr prominenter Stelle: Da ging sie an der Seite hochrangiger Vertreter des Bundesverbands Lebensrecht an der Spitze des Zuges und trug zusammen mit diesen das Haupttransparent des Marsches. Das war noch vor der Flüchtlingskrise, mithin zu einem Zeitpunkt, als die AfD sich noch in erster Linie als wirtschaftsliberale Partei mit steilen Thesen gegen die EU, den Euro und die Griechenlandrettung profilierte. "Umstritten" war die Partei aber damals natürlich auch schon, und auch davon abgesehen gab es von "außen" wie von "innen" einige Kritik daran, einer bekannnten Parteipolitikerin beim Marsch für das Leben eine so auffällige Bühne zu bieten. In der Folge ging Beatrix von Storch dann nur noch als eine unter Vielen beim Marsch mit. 

Der Vorwurf, der Marsch für das Leben sei eine verkappte AfD-Veranstaltung oder zumindest AfD-nah, hält sich dennoch hartnäckig; das zeigte sich auch in den Reaktionen auf den diesjährigen Marsch mal wieder. So zum Beispiel in Kommentaren auf der Facebook-Seite des Erzbistums Berlin und jener der Tagespost. Und einige dieser Kommentare kamen um einige Grade aggressiver daher als diejenigen meiner eingangs erwähnten Freundin. 

Noch einigermaßen zivil im Umgangston, dafür aber umso schärfer in der Sache gab sich ein Kommentator auf der Seite des Erzbistums: 
"Hm, gab es nicht einmal Jahre, in denen sich das Erzbistum mit Empfehlungen für diesen Fundi-Marsch, wo sich AfD, Evangelikale und fragwürdige rechtsaußen Gruppierungen mit rumgetrieben haben, zurückgehalten hat? Würde ich besser finden." 
(Ich frage mich übrigens, was Evangelikale wohl von ihrer nonchalanten Erwähnung in dieser Aufzählung halten mögen, aber das nur nebenbei.) 
"Aber gut, jeder macht sich gemein mit wem er es für richtig hält. Da braucht man sich aber auch nicht über Gegenproteste wundern, wenn man Veranstaltungen promoted, die von Rechtspopulisten und -radikalen gefördert werden." 
Einwände des Inhalts, Personen, die selbst am Marsch für das Leben teilgenommen hätten, könnten diesen womöglich zutreffender beurteilen als er, wies der Kommentator zurück: 
"Wie der Lemming irgendwo mitzulatschen hat in Deutschland erfahrungsgemäß noch nie zu sonderlich reflektierten Schlussfolgerungen geführt." 
Schließlich wies ein Moderator der Bistumsseite den kritischen Kommentator darauf hin, die Spandauer Kirchengemeinden hätten unlängst schließlich auch eine Demonstration gegen einen Nazi-Aufmarsch unterstützt -- sei da etwa auch der Vorwurf angemessen, man habe sich "mit den Linksradikalen 'gemein' gemacht, die dort nun wahrlich zahlreicher vertreten waren, als böse Rechte beim Marsch für das Leben?" Aber bei diesem Einwand hörte für den Kommentator endgültig der Spaß auf: 
"Oh, eine links-rechts-Gleichsetzung. Keine weiteren Fragen." 
Merke: Rechte und linke Extremisten auf eine Stufe stellen, das darf man nicht. Schließlich sind die Linken gut, während die Rechten böse sind. Diese Argumentation kennen wir beispielsweise auch von SPD-Vize Ralf Stegner. Ich werfe da mal kurz das Stichwort "Tribalismus!" in den Raum -- merken wir uns das für später. 

Was diese Grafik (Bildquelle: Pixabay) uns ursprünglich mal sagen wollte, ist mir nicht ganz klar, aber irgendwie finde ich sie recht beziehungsreich. 

"Wie steht ihr eigentlich dazu, dass jedes Jahr Beatrix von Storch mitmarschiert? Die Frau, die Schiessbefehl auf Flüchtlingskinder gutheisst! Zudem die Identitäre Bewegung und noch andere rechte Gruppen laufen auch bei eurem Marsch mit! Schämt ihr euch nicht? Pfui, wie verlogen!" 
Der Dame, die sich solcherart äußerte, stellte ich mal direkt eine Gegenfrage:
"Wenn Sie sich für eine Sache engagieren, die Ihnen wichtig ist, und zufällig unterstützen auch Personen oder Gruppen, mit denen Sie lieber nichts zu tun haben würden, dieselbe Sache. Geben Sie Ihr Engagement dann deswegen auf?" 
Die Reaktion hierauf ließ erkennen, dass meine Debattengegnerin mit dieser Anforderung an ihr Abstraktionsvermögen überfordert war: 
"Das beantwortet nicht meine Frage. Mit Rechte hatte /habe ich nichts zu tun und werde ich auch in Zukunft nichts zu tun haben! Für die Sachen, für die ich mich engagiere, erst recht nicht! Ich lehne alles Rechte ab!" 
Merkste, lieber Leser? Da ist der Tribalismus wieder! "Ich lehne alles Rechte ab", das heißt offenbar: Ich bin nicht deshalb gegen Rechte, weil diese bestimmte Standpunkte vertreten, die ich ablehne; sondern ich lehne bestimmte Standpunkte ab, weil sie von Rechten vertreten werden. Klingt doof? Finde ich auch, aber gleichzeitig bin ich überzeugt, dass eine sehr große Zahl von Menschen sich ihre politische Meinung auf diese Weise bildet. Also wohlgemerkt auch umgekehrt, im Sinne von "Ich lehne alles Linke ab". Darauf, was an diesem Tribalismus, egal von welcher Seite, so unvernünftig ist, komme ich später noch einmal zurück. Erst einmal noch etwas Anderes: Man kann aus einer dem Marsch für das Leben grundsätzlich wohlgesonnen Haltung heraus Kritik an der Teilnahme rechtspopulistischer Politiker üben. Etwa mit Blick auf die Gefahr, dass diese Politiker das Anliegen des Marsches in der öffentlichen Wahrnehmung in ein schiefes Licht rücken und ihn für ihre eigene politische Agenda instrumentalisieren könnten. Man kann die Teilnahme solcher Politiker aber auch als Keule benutzen, um auf den Marsch und seine Unterstützer einzudreschen. Zu letzterem bin ich geneigt zu sagen, der Hinweis auf die politische Gesinnung einzelner Teilnehmer tauge kaum dazu, das Anliegen des Marsches in Bausch und Bogen zu diskreditieren. Wird das dennoch versucht, kann man zumeist davon ausgehen, dass diese Argumentation mehr oder weniger bloß vorgeschoben ist und sich dahinter ganz andere Gründe verbergen, dem Marsch für das Leben ablehnend gegenüberzustehen. So auch im Fall der oben zitierten FB-Nutzerin: 
"Jetzt mal Klartext, von mir als Frau: Keine Frau treibt einfach so aus Spass ab. Würden die Fundis nicht den neuen Aufklärungsunterricht an Schulen boykottieren, gäbe es meiner Meinung nach auch weniger ungewollte Schwangerschaften. Das ist Punkt 1". 
Echt jetzt? Das würde ja bedeuten, dass ungewollte Schwangerschaften schwerpunktmäßig Kinder aus "Fundi"-Familien betreffen, weil diese vom "Aufklärungsunterricht" ferngehalten wurden... Oder verstehe ich da was falsch? Vermutlich. Irgendwie hat dieser "Punkt 1" wohl mit der Demo für Alle und Bildungsplänen zum Thema "Sexuelle Vielfalt" zu tun, und mit Zeitreisen anscheinend auch, denn wie sonst sollten die neuen Bildungspläne, würden sie nicht von "Fundis" be- oder verhindert, rückwirkend die Zahl ungewollter Schwangerschaften reduzieren können? Aber es gibt ja auch noch einen
"Punkt 2, Abtreibungen hat es schon immer gegeben und wird es auch immer geben. Sollen Frauen eurer Meinung nach etwa wieder gezwungen sein, zu einem Engelmacher zu gehen? Wofür haben unsere Mütter gekämpft? Für die Gleichberechtigung und das Recht über den eigenen Körper! Als Frau gehört mein Bauch nur mir!" 
Allright-a, das ist nun wirklich best of bullshit. Geht aber noch weiter:
"Die Gegendemonstranten wollen eben keinen Rückschritt in dunkle Zeiten, wo Abtreibung verboten war. Sehen Sie sich die Zustände in Polen an, was dort das Abtreibungsverbot durch die PIS-Regierung bewirkt hat. Die polnischen Frauen sind gezwungen ins Ausland zu gehen, um abzutreiben. Soll das die Lösung sein? Ich glaube nicht, auch die Dunkelziffer der Abtreibungen sind in Polen höher geworden und haben das Gegenteil bewirkt. Was Deutschland betrifft, sollen noch mehr "Sozialfälle" durch ein Abtreibungsverbot produziert werden? Wir haben hier genug Kinderarmut und diese Kinder haben nie eine Chance aus diesem Teufelkreis raus zu kommen. Und was ist mit den Kindern, die zwar in die Welt gesetzt werden, aber von ihren Eltern vernachlässigt, misshandelt und sogar getötet werden? Mit diesen Fällen beschäftigt sich komischerweise kein Abtreibungsgegner. Und genau das ist nach meinem Empfinden ein krasser Widerspruch!" 
Ich antwortete: 
"Ich fasse mal Ihre Argumente zusammen: 
- Kinderarmut, Vernachlässigung und Misshandlung von Kindern kann man verhindern, indem man die Kinder rechtzeitig umbringt. 
- Wenn es legal nicht möglich ist, Kinder umzubringen, dann wird es illegal trotzdem getan; also sollte es legal sein. 
Das ist Ihr Ernst, ja?" 
Auch meine Liebste meldete sich zu Wort und betonte,
"dass es eine sehr sozialdarwinistische Sichtweise ist, Armut dadurch bekämpfen zu wollen, dass man Arme einfach beseitigt - dieses Argument ist mir echt zu rechtsextrem, sorry." 
Mit diesem Stichwort erwischte meine Liebste die, siehe oben, "alles Rechte ablehnende" Kommentatorin natürlich mit voller Absicht auf dem ganz falschen Fuß: 
"Ich und rechtsextrem? 'laut lach'. [...] Aber mal ehrlich, wer wünscht sich als Eltern für die Zukunft seiner Kindern ein Leben in Armut? Kleiderkammern, HartzIV und Null Perspektiven? Tolle Argumentation, ganz grosses Kino!" 
Nun wohl: Zurück zum Thema Tribalismus. Wir haben es in dieser Diskussion mit einer Person zu tun, die für sich selbst definiert, sie "lehne alles Rechte ab" -- und die daher überzeugt ist, es könne ja per definitionem gar nicht sein, dass ihre Ansichten irgend etwas mit rechtsextremem Gedankengut gemein hätten. Die Plumpheit ihrer Argumentation macht sie zu einem guten Anschauungsbeispiel, aber grundsätzlich, so möchte ich behaupten, ist diese Art zu denken weit verbreitet, auch unter Menschen, die man nicht unbedingt als dumm einschätzen würde. Wenn ich in diesem Zusammenhang den Begriff Tribalismus verwende, dann meine ich damit die Tendenz, die Zugehörigkeit zu einem politischen "Lager" höher zu bewerten als die Frage, wofür dieses Lager eigentlich inhaltlich steht. Inhaltliche Positionen können sich wandeln oder gar in ihr Gegenteil verkehren, bestimmte Einstellungen können sogar von einem Lager ins andere wechseln - Antisemitismus z.B. war früher rechts, heute ist er zunehmend links -, aber die Loyalität des Tribalisten bleibt davon unberührt. Die eigenen Leute haben immer Recht, und sollten sie plötzlich das Gegenteil von dem behaupten, was sie gestern behauptet haben, dann hätten sie auch damit Recht. Ich sagte es bereits, wiederhole es aber gern noch einmal: Dieses Phänomen ist keineswegs auf eine bestimmte politische Richtung oder ein bestimmtes Milieu beschränkt, sondern ist insgesamt stark im Kommen. Ich finde das beunruhigend.

Ungefähr zeitgleich mit der oben geschilderten Diskussion lief in den Weiten von Facebook eine andere Debatte ab, die ich eher zufällig zu sehen bekam - weil ein FB-Freund von mir sich dort eingeschaltet hatte. Es handelte sich um eine Debatte um ein Plakat der AfD mit Bezug zum Oktoberfest, und der besagte FB-Freund hatte sich deshalb dort eingeklinkt, weil er einer Ordensschwester zu Hilfe kommen wollte, die sich kritisch über die AfD geäußert hatte und deswegen massiv angegriffen wurde. Eine Frau setzte der Schwester besonders heftig und hartnäckig zu; im Wesentlichen griff sie die Schwester dafür an, dass sie Ordensschwester ist, und kramte dazu ein buntes Sammelsurium aus altbekannten Vorurteilen, Halb- und Falschwissen über die Katholische Kirche heraus. Was ich daran so frappierend fand, war der Umstand, dass sich die Wortmeldungen dieser Dame hinsichtlich ihres sprachlichen und argumentativen Niveaus, ihrer Fülle von Fehlschlüssen und ihrer mehr oder weniger offenen Aggressivität gegenüber anderen Diskussionsteilnehmern kaum von denen unterschieden, mit denen ich mich zeitgleich auf der Tagespost-Seite auseinandersetzte. Komisch, dachte ich, die beiden Frauen müssten sich eigentlich sehr gut verstehen. Obwohl die eine offenbar AfD-Anhängerin ist und die andere "alles Rechte ablehnt". Ein weiteres Indiz dafür, dass es gar nicht so besonders viel über einen Menschen aussagt, wo er sich politisch verortet.

Im Ernst: Ich glaube immer weniger daran, dass eine Einteilung politischer Standpunkte in "links" und "rechts" irgend etwas Sinnvolles aussagt. Ob jemand sich als politisch "links" oder "rechts" definiert, ist in etwa so signifikant wie die Frage, welchem Fußballverein er zujubelt. Ein Fußballfan wird natürlich der Meinung sein, zwischen Bayern München und Borussia Dortmund bestünde ein himmelweiter Unterschied; aber jemand, der dem Gesamtphänomen Profifußball eher distanziert gegenübersteht, wird kaum einen Unterschied zwischen beiden Teams feststellen können. Abgesehen von der Farbe der Trikots, versteht sich.

Ob die die Mehrzahl der Teilnehmer am Marsch für das Leben "rechts" oder "links" ist; ob die Gegendemonstranten, Störer und Blockierer "rechts" oder "links" sind; ob der Slogan "My Body, My Choice" "rechts" oder "links" ist - das ist mir, ehrlich gesagt, mehr oder weniger egal. Was mir NICHT egal ist, ist der Umstand, dass an jedem regulären Arbeitstag in Deutschland durchschnittlich mehr als 400 ungeborene Kinder grausam umgebracht werden - vergiftet, verätzt, totgespritzt, in Stücke gerissen. Gegen dieses alltägliche himmelschreiende Unrecht zu protestieren, ist weder "rechts" noch "links" - das ist nicht mehr und nicht weniger als ein Gebot der Menschlichkeit.



Dienstag, 19. September 2017

Wie viele Leute passen auf den Platz der Republik?

Ein paar Tage nach dem Marsch für das Leben stellt sich wie jedes Jahr die Frage: Was sagen denn "die Medien" so? -- Josef Bordat, der dieses Jahr leider nicht selbst  mit von der Partie sein konnte, hat bereits am Samstagabend auf einen Bericht der Berliner Zeitung hingewiesen, in dem von "mehr als 1000 Abtreibungsgegner[n]" die Rede war, während die Zahl der Teilnehmer an zwei vom "Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung" und dem Bündnis "What the Fuck?" ausgerichteten Gegenveranstaltungen auf insgesamt etwa 3000 beziffert wurde. Dieselben Angaben fanden sich ursprünglich auch in einem Bericht des RBB, der inzwischen allerdings teilweise überarbeitet wurde: Jetzt heißt es dort: "Nach Polizeiangaben versammelten sich dort laut Polizei am Mittag mehrere tausend Menschen. Laut Katholischer Nachrichtenagentur waren es 7.500 Teilnehmer." Über weite Strecken nahezu wortgleich wurde dieser Bericht auch von der sächsischen (evangelischen) Kirchenzeitung Der Sonntag übernommen - die Angabe zur Teilnehmerzahl allerdings nicht; diese liest sich dort so: "Etwa 3000 christliche Abtreibungsgegner und sogenannte Lebensschützer zogen nach Polizeiangaben mit einem 'Marsch für das Leben' vom Reichstag durch Berlin-Mitte zum Brandenburger Tor." 

Mehr als 1000? Sicherlich. Aber wie viel mehr, ist doch wohl die entscheidende Frage! 
Vergleicht man diese verschiedenen Zahlenangaben miteinander, kann man feststellen, dass "mehr als 1000" in jedem Fall zutrifft; aber die entscheidende Frage ist doch: wie viel mehr als 1000? Nun muss ich leider sagen, dass ich sehr, sehr schlecht im Schätzen von Menschenmengen (oder überhaupt von Mengen) bin. Trotzdem kann ich ja mal meine Beobachtungen schildern. Ich war am Samstag schon gegen halb Zwölf auf dem Platz der Republik, und zu diesem Zeitpunkt waren da erst ziemlich wenige Leute, abgesehen von solchen, die auf die eine oder andere Weise an der Organisation des Marsches bzw. der Auftaktkundgebung beteiligt waren. Also schaute ich zu, wie sich der Platz nach und nach füllte, und noch gegen halb Eins fand ich, es seien noch nicht so richtig doll viele Leute. Aber um Eins war der Platz voll. Und der Platz der Republik ist nun nicht gerade klein. Wie viele Menschen mögen da wohl draufpassen, selbst wenn man die Fläche der Bühne, des Infopavillons und der abgesperrten Bereiche abzieht? Mit aller Vorsicht gesagt: Die Formulierung "mehrere tausend" vermittelt wohl einen realistischeren Eindruck als "mehr als tausend"

Aber es kommt ja nicht nur auf die Teilnehmerzahl an. Was schreibt die Journaille denn sonst noch so über den Marsch? -- Im obigen Zitat aus der Kirchenzeitung Der Sonntag ist vielleicht dem einen oder anderen Leser schon die Formulierung "sogenannte Lebensschützer" aufgefallen. Wörtlich so stand's auch beim RBB. Nun hätte ich zwar eigentlich gedacht, in neutral sein wollender Berichterstattung (im Unterschied zu dezidierten Meinungsbeiträgen) hätten Vokabeln wie "sogenannte" (womit ja suggeriert wird, die Bezeichnung sei eigentlich unzutreffend) gar nichts zu suchen, aber diese Einstellung ist wohl ziemlich 90er. Wundern muss man sich übrigens auch nicht, dass der Evangelische Pressedienst (epd), der für den besagten Artikel verantwortlich zeichnet, dem Marsch für das Leben nicht wohlgesonnen ist. Schließlich befindet sich der epd in der Trägerschaft der EKD und deren Teilkirchen, und die legen ja schon seit Jahren größten Wert darauf, sich von den "sogenannten Lebensschützern" abzugrenzen.

Aber natürlich können andere Publikationen das noch toppen. Die taz etwa stellt sich in einem Artikel mit der Überschrift "Bunt und laut gegen weiße Kreuze" von vornherein explizit auf die Seite der Gegendemonstranten und schwärmt:
"Überall fliegen lila Luftballons herum, Regenbogenfahnen schwingen am Himmel und feministischer HipHop dröhnt aus dem Lautsprecherwagen. Die AbtreibungsgegnerInnen werden an den Seitenstraßen mit Trillerpfeiffen und 'My body, my choice'-Sprechchören empfangen. Ihr Ziel eines stillen Trauermarsches konnten sie nicht erreichen."  
Das Neue Deutschland zeigt ein Foto von einem zerbrochenen Holzkreuz und titelt dazu "'Lebensschützer' marschieren gegen die Rechte von Frauen"; "christlich-fundamentalistische Abtreibungsgegner und politische Unterstützer aus rechtskonservativen Kreisen", so lässt man die Leser wissen, träfen sich "zu ihrem sogenannten Marsch für das Leben".  Den Vogel schießt jedoch "Bento", das Spiegel-Online-SpinOff für die Zielgruppe der 18-30jährigen, ab. "So stellen sich Menschen in Berlin Abtreibungsgegnern in den Weg", lautet da die Überschrift - super, nicht? Auf der einen Seite Menschen, auf der anderen Abtreibungsgegner. Die Sympathien sind klar verteilt, was will man mehr. Im Teaser-Absatz wird behauptet, beim Marsch für das Leben würde "gegen das in Deutschland existierende Recht auf Abtreibung" demonstriert. Noch einmal langsam zum Mitschreiben: Es wird behauptet, in Deutschland existiere ein Recht auf Abtreibung. Da fällt es schon ziemlich schwer, nicht das L-Wort in den Mund zu nehmen.

Warum, so möchte man fragen, diese Lügen, diese Scheingefechte, diese Verdrehungen? Warum werden ausgerechnet Lebensschützer so sehr diffamiert? -- Sicherlich gibt es auf diese Frage mehr als eine richtige Antwort, aber die Antwort, die ich bevorzuge, lautet: Weil sie den Finger in eine sehr, sehr schmerzhafte Wunde legen. Weil sie auf ein himmelschreiendes Unrecht - die massenhafte grausame Tötung wehrloser Kinder - aufmerksam machen, das Andere lieber ausblenden oder zumindest so tun möchten, als wäre es keins. Ein Aspekt, der hierbei, wie ich glaube, oft unterschätzt wird, ist das Ausmaß der persönlichen Betroffenheit. Dabei kann man sich das eigentlich ganz leicht vor Augen führen: Wenn es laut offiziellen Zahlen in Deutschland jährlich etwas über 100.000 Abtreibungen gibt, dann kommen wir in einem Zeitraum von 20 Jahren auf mehr als 2 Millionen getötete Kinder. An diesen über zwei Millionen Abtreibungen in 20 Jahren waren aber jeweils nicht nur die schwangere Frau und das medizinische Personal, das den Eingriff durchführte, beteiligt, sondern in wahrscheinlich den meisten Fällen auch noch mehrere weitere Personen, die die schwangere Frau mehr oder weniger massiv zur Abtreibung gedrängt oder ihr zumindest dazu geraten haben - in vielen Fällen wohl der Kindsvater, in anderen Fällen Familie, Freunde oder das berufliche Umfeld der Schwangeren. Macht man sich das bewusst, kommt man auf eine sehr, sehr große Zahl von Personen, für die die Frage nach der ethischen Bewertung von Abtreibung sehr "close to home" ist.

Aus gutem Grund kommen deshalb bei der Kundgebung zum Marsch für das Leben regelmäßig auch Betroffene zu Wort. In diesem Jahr handelte es sich um ein junges Paar, das zu einem sehr frühen Zeitpunkt der Beziehung mit einer ungewollten Schwangerschaft konfrontiert worden war. Beide berichteten, praktisch ihr gesamtes Umfeld habe ihnen daraufhin suggeriert, so eine ungewollte Schwangerschaft sei ja "nicht so schlimm", schließlich könne man ja abtreiben. Ihnen wurde auch eingeredet, das, was da in der Gebärmutter der jungen Frau heranwachse, sei "noch kein Kind", sondern nur "Gewebe", das man ruhig "wegmachen" könne - das habe nichts mit Töten zu tun. Die Frau hatte übrigens schon früher einmal eine Abtreibung gehabt - und diese, wie sie berichtete, emotional nie richtig verarbeitet, sondern vielmehr verdrängt. Bei der zweiten Abtreibung kam dieses Verdrängte dann mit voller Wucht wieder hoch. Ich brauche hier wohl nicht weiter ins Detail zu gehen, um deutlich zu machen, worauf ich hinaus will: Nach einer Abtreibung sich selbst und anderen einzugestehen "Diese Entscheidung war falsch", erfordert großen Mut, aber es kann seelisch heilsam sein. Ein in der öffentlichen Debatte selten erwähnter, aber gar nicht unbedeutender Teil der Arbeit von Lebensschutzinitiativen besteht darin, Frauen, die abgetrieben haben, dabei zu helfen, mit ihren Schuldgefühlen fertig zu werden. Auch beim Abschlussgottesdienst zum Marsch für das Leben wird stets explizit für von Abtreibung betroffene Frauen gebetet. Die oft gehörte Behauptung, die Lebensschutzbewegung würde diese Frauen "stigmatisieren" oder gar "verdammen", ist somit ein ziemlich bizarrer Vorwurf - allerdings einer, der auch jenseits des Themas Abtreibung immer mal wieder gegen Christen erhoben wird, wenn sie es wagen, dieses oder jenes als Sünde zu bezeichnen. Das ist nun allerdings ein Thema für sich. An dieser Stelle will ich nur sagen: Schuld zu leugnen und Schuldgefühle folgerichtig zu verdrängen, ist eine sichere Methode, die seelische Wunde nicht verheilen zu lassen. Und dass man dann aggressiv reagiert, wenn jemand an diese Wunde rührt --- ja, das ist durchaus verständlich.



Man könnte noch sehr viel mehr dazu sagen, aber da ich immer wieder von Lesern zu hören bekomme, meine Artikel wären leichter lesbar, wenn sie nicht ganz so lang wären, mache ich hier erst mal einen Punkt. Eine heute Vormittag auf Facebook geführte Debatte mit einer Lebensschutz-Gegnerin ist dann vielleicht eher ein Thema für einen eigenständigen Artikel...



Sonntag, 17. September 2017

Eigentlich gehört ihr zu uns!

Mein persönliches Highlight beim Marsch für das Leben 2017 war ein Moment kurz vor dem Beginn des Ökumenischen Abschlussgottesdienstes, als eine kleine Gruppe von Gegen[?]demonstranten den Platz vor der Bühne enterte und das folgende Transparent enthüllte: 


Die auf dem Foto teilweise verdeckte unterste Zeile lautet übrigens "Kapitalistische Optimierung sabotieren!". Okay, die Wortwahl ist recht charakteristisch für einen bestimmten Typus von Linken, die das, wogegen sie sich wenden, erst mal in möglichst pompösem ideologischem Vokabular beschreiben müssen, um sich der Legitimität des Dagegenseins zu vergewissern - wozu es insbesondere gehört, dass alles Schlechte irgendwie "kapitalistisch" sein muss. Aber immerhin räumt diese Unterzeile jegliche möglicherweise noch bestehenden Zweifel aus, dass das Transparent sich tatsächlich gegen Präimplantations- und Pränataldiagnostik wendet. Das tut der Marsch für das Leben allerdings auch; sprich, hätte sich das Farbschema des Transparents nicht so auffällig vom corporate design des Marschs unterschieden und hätten die Demonstranten, die das Transparent hielten, dabei nicht "Kein Gott - kein Staat - kein Patriarchat" skandiert, hätte man eigentlich keinen Grund gehabt, diese Aktion für einen Gegenprotest zu halten.

Zur Verdeutlichung: Mal angenommen, man ginge zu einer Demonstration gegen - sagen wir mal - die Abschiebung abgelehnter Asylbewerber nach Afghanistan. Nur so als Beispiel. Und Leute, die in dieser Frage gegenteiliger Meinung sind, organisieren eine Gegendemo. Und nun sähe man in den Reihen der Gegendemonstranten jemanden, der ein Schild mit der Aufschrift "Afghanistan ist KEIN sicheres Herkunftsland!" hochhält. Was würde man da denken? Ich schätze, man würde denken: Entweder der hat sich verlaufen oder er hat sich als "Maulwurf" in die Gegendemo eingeschlichen.

Letzteres wäre beim Marsch für das Leben theoretisch durchaus denkbar, denn die Gegendemonstranten machen das ihrerseits ja auch gern so: dass einige von ihnen zunächst unerkannt im Demonstrationszug mitlaufen und sich erst nach einer Weile als Gegner zu erkennen geben. (Das war auch diesmal wieder so, vor allem zu Beginn des Marsches; ich komme später noch darauf zurück.) Könnte man also theoretisch auch mal umgekehrt machen. Aber das war hier wohl kaum der Fall. Die Erklärung für die oben geschilderte Transparent-Aktion dürfte viel banaler sein: Sie ist einfach ein besonders augenfälliges Beispiel dafür, dass viele der Gegendemonstranten gar nicht wissen, wogegen sie protestieren.

Daran sind sie nicht ganz und gar selber schuld. Ich habe in den letzten Jahren genug Mobilisierungs-Flyer zu den Protesten gegen den Marsch für das Leben in die Finger bekommen und einschlägige Websites besucht, um recht gut zu wissen, was für ein finsteres Zerrbild des Marsches und seiner Unterstützer da gezeichnet wird. Frauenfeindlich, homo- und transphob, sexistisch, rassistisch, faschistisch... Vermutlich je nach der zu mobilisierenden Zielgruppe werden diese Vorwürfe unterschiedlich stark gewichtet, aber präsent sind sie in der Regel alle. Die Berichterstattung vermeintlich seriöser Medien trägt auch nicht unbedingt dazu bei, dieses Bild zu korrigieren - ganz zu schweigen von den Stellungnahmen etwa der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-Schlesische Oberlausitz (EKBO) oder des Diözesanrats der Katholiken im Erzbistum Berlin. Im Vergleich zu letzteren sind mir die linksradikalen Krakeeler am Straßenrand sogar noch deutlich sympathischer: Immerhin gehen die für ihre - wenn auch irregeleiteten - Überzeugungen auf die Straße und riskieren etwas dafür, zum Beispiel sich mit der Polizei anzulegen; während die Sesselfurzer von EKBO und Diözesanrat lediglich ihre Gesinnungslosigkeit als "Ausgewogenheit" verkaufen und sich dafür auch noch auf die Schulter klopfen. 

Nun könnte man natürlich meinen, im Unterschied zu Vertretern der Spezies "Sesselfurzer" hätten die Gegendemonstranten ja ausreichend Gelegenheit, beim Marsch für das Leben ihre Fehleinschätzungen dieser Veranstaltung durch eigene Anschauung zu korrigieren. Tja, wenn sie denn z.B. den Redebeiträgen bei der Kundgebung etwas Aufmerksamkeit schenken würden, anstatt nur zu versuchen, sie durch Sprechchöre der ewig gleichen dümmlichen Parolen zu übertönen. Dann würde ihnen vielleicht mal auffallen, dass es eigentlich nicht in ihrem Sinne sein kann, einen geistig behinderten Jungen und seine Mutter auszubuhen oder, wie vor ein paar Jahren geschehen, eine Schweigeminute zum Gedenken an die Opfer der Nazi-Euthanasieaktion T4 durch ein Pfeifkonzert zu stören. Allerdings darf man - neben grundlegenden ideologischen Verständnisbarrieren (z.B.: Was ist eigentlich Abtreibung? Legitimer Ausdruck des Rechts der Frau auf körperliche Selbstbestimmung oder doch die grausame Tötung eines wehrlosen Kindes?) - auch die Gruppendynamik des Augenblicks nicht außer Acht lassen. Wenn man mit lauter Gleichgesinnten hinter einer Polizeiabsperrung zusammengepfercht ist und den vermeintlichen Feind anrücken sieht, dann will man nicht in Frage stellen, ob man wirklich auf der richtigen Seite steht. Das Mitgrölen von Sprechchören trägt zusätzlich dazu bei, das kritische Denken auszuschalten, und das Adrenalin tut ein Übriges. Für Reflexion bleibt da kein Platz, jedenfalls nicht, solange die Situation andauert. Vielleicht irgendwann im Nachhinein. Man soll ja die Hoffnung nicht aufgeben. Wie sang ausgerechnet John Lennon: "I hope some day you'll join us".

-- Ich wollte noch etwas zu den "Maulwürfen" sagen, die sich unauffällig in den Demonstrationszug einschlichen und dort dann Schilder zeigten oder Parolen riefen, die sie als Gegendemonstranten auswiesen. Relativ kurz nach dem Start des Marsches gab es ein paar solcher Fälle, und zwei- oder dreimal sah ich mich, obwohl ich keinen Ordnerdienst hatte, veranlasst, einzuschreiten, wenn Marsch-Teilnehmer Anstalten machten, den Gegendemonstranten an den Kragen zu gehen, ihnen beispielsweise gewaltsam ihre Schilder zu entwinden oder Ähnliches. Wenn man Eskalation vermeiden will, muss man eben immer auch und besonders auf die eigenen Leute aufpassen. Ironischerweise, so schien es mir jedenfalls, führte mein Eingreifen dazu, dass einige Frauen mittleren Alters mich verdächtigten, ebenfalls ein "Maulwurf" zu sein. Was mich allerdings eher amüsierte als ärgerte.


Von diesen kleinen Zwischenfällen abgesehen sah und hörte man von den Gegenprotesten in diesem Jahr erheblich weniger als in früheren Jahren, hauptsächlich wohl deshalb, weil die Polizei sehr souverän und konsequent für räumlichen Abstand sorgte. An der Kreuzung Dorotheenstraße/Friedrichstraße gelang es den Protestlern allerdings vorübergehend, den Demonstrationszug zu blockieren, und ich vermute (genau weiß ich es nicht, da ich mich im Vorfeld nicht über die geplante Route informiert hatte), dass infolgedessen auch die Route des Marsches spontan geändert wurde. Für so eine Blockade braucht man sicherlich eine einigermaßen stattliche Anzahl an Personen, ein paar Hundert werden's also wohl gewesen sein; aber ansonsten sah und hörte man immer nur recht spärliche Grüppchen.






Zu den Dingen, die den Zorn der Gegendemonstranten stets in besonderem Maße herausfordern, gehört übrigens interessanterweise der betont christliche Charakter des Marschs für das Leben. Die Feindschaft der Marsch-Gegner gegenüber dem Christentum schlägt sich in diversen Plakatmotiven und im Text mehrerer immer wieder zu hörender Sprechchöre nieder, nicht zuletzt aber auch darin, dass sich seit einigen Jahren ein nicht unwesentlicher Teil der Störaktionen auf den Ökumenisches Abschlussgottesdienst konzentriert. Dieses Jahr hielt sich das Ausmaß der Gottesdienst-Störungen ziemlich in Grenzen, aber ein ganz eigenes Gefühl ist es doch, wenn einige Tausend Gottesdienstteilnehmer das Apostolische Glaubensbekenntnis sprechen und jeweils in den Sprechpausen von ferne zu hören ist: "Kein Gott - kein Staat - kein Patriarchat"...

Bischof Dr. Rudolf Voderholzer (Regensburg) predigte. 
Für diese Feindseligkeit gegenüber dem Christentum gilt das eingangs Gesagte in besonderem Maße: Die Störer wissen gar nicht, wogegen sie protestieren, d.h. sie haben überhaupt keine Ahnung vom christlichen Glauben. Auch das haben sie gemeinsam mit... äh nein, das schreib' ich jetzt nicht. Aber im Ernst: Die Warnungen vor der angeblichen Gefährlichkeit "christlicher Fundamentalisten" sind ja nun auch nicht erst seit gestern im Mainstream der als seriös geltenden Medien angekommen und werden auch und nicht zuletzt von kirchlichen Gremien und Verbänden kräftig mit befeuert - die werden schon wissen, warum. Und wenn wir es bei den Gegendemonstranten mit Leuten zu tun haben, die sich ideologisch eher in der Nachfolge der Republikaner im Spanischen Bürgerkrieg sehen, muss man sich wohl umso weniger wundern, wenn diese mit den Begriffen Christentum und Kirche geradezu den Inbegriff alles Üblen assoziieren. Vor diesem Hintergrund habe ich den trotz Allem weitgehend störungsfrei verlaufenen und insgesamt einfach schönen Abschlussgottesdienst als ein starkes Zeichen empfunden, nicht zuletzt auch deshalb, weil in diesem Gottesdienst explizit auch für die Gegendemonstranten gebetet wurde.



Nebenbei fiel beim Abschlussgottesdienst noch einmal besonders auf, was schon während des Marsches selbst zu bemerken war: Die Altersstruktur der Teilnehmer am Marsch für das Leben hat sich in den letzten Jahren zunehmend in Richtung Jugendlicher und junger Erwachsener verschoben. Eine Entwicklung, die optimistisch in die Zukunft blicken lässt! -- Wie schon im letzten Jahr wurden sowohl die Auftaktkundgebung als auch der Abschlussgottesdienst musikalisch von der Gruppe Gnadensohn begleitet; bei der Kundgebung spielten sie eigene Kompositionen, beim Gottesdienst hingegen einige Klassiker charismatischer Lobpreismusik: "So groß ist der Herr (Ein König voller Pracht)", "Mein Jesus, mein Retter" und zum Abschluss "Zehntausend Gründe". Da wehte direkt ein Hauch von MEHR über den Platz der Republik, und mit MEHR meine ich natürlich die gleichnamige Gebetskonferenz... die, bei aller Unterschiedlichkeit des Anlasses, mit dem Marsch für das Leben noch eine weitere interessante Gemeinsamkeit hat, nämlich ihre spezifische Form von Ökumene. Will sagen, ihren Charakter als überkonfessionelles Projekt von Katholiken und Freikirchlern, aus dem sich landeskirchliche Protestanten weitestgehend heraushalten. Das gibt zu denken, möchte ich meinen. Jedenfalls war es unter diesem Aspekt einigermaßen folgerichtig, dass ich bei beiden "Events" ziemlich weitgehend dieselben Bekannten getroffen habe...

Es war übrigens insgesamt meine sechste Teilnahme am Marsch für das Leben, und ich muss sagen, diesmal fand ich die Veranstaltung besonders gelungen und bin ausgesprochen froh darüber. Was ich nicht geschafft habe, ist, am selben Abend auch noch zum Nightfever zu gehen. Schon ein bisschen schade, dass das ausgerechnet beides am selben Tag war, aber im Nachhinein habe ich mich dann ehrlich gesagt auch gefragt, ob es mit ein bisschen gutem Willen auf beiden (!) Seiten nicht hätte möglich sein sollen, das besser zu koordinieren. So ein "Nightfever spezial" für die Teilnehmer des Marschs für das Leben, womöglich sogar unter freiem Himmel (das Wetter war toll!)... Träumen kann man ja mal.

Insgesamt würde ich mir eigentlich noch mehr Unterstützung für den Marsch für das Leben von Seiten der Kirche wünschen - sowohl auf der Ebene der Bistümer als auch der Pfarrgemeinden. Aber vielleicht ist es auch ganz gut, dass die sogenannte "Amtskirche" keine so herausragende Rolle bei der Organisation des Marsches spielt - dann wird umso deutlicher, dass es sich um eine Basisbewegung von Laien handelt.

Weitere lesenswerte Berichte gibt's auf dem Blog "Katholisch? Logisch!" von Kollegin Claudia:


Und: Ich freue mich jetzt schon auf nächstes Jahr!




Freitag, 15. September 2017

Das fremde Bett

Ich weiß gar nicht, wie oft ich in der U-Bahn schon dieses Werbeplakat gesehen habe; und jedesmal hat es mir ein mindestens innerliches Kopfschütteln entlockt. Gestern habe ich dann mal die Gelegenheit genutzt, ein Foto davon zu machen. 



"Kaufen Sie dieses Bett! Es ist sehr gut! Im Bettkasten gibt es so viel Stauraum, da passt sogar ein heimlicher Liebhaber rein!" 

Prima, dann muss er, wenn der Ehemann unerwartet nach Hause kommt, nicht wieder in den Kleiderschrank wie sonst immer. Denn da riecht es nicht nur nach Mottenkugeln, sondern wenn man Pech hat, steckt da bereits jemand drin. Zum Beispiel der halbwüchsige Sohn des Hauses, der seinen Aufklärungsunterricht mit ein bisschen Live-Anschauungsmaterial unterfüttern möchte. Und wenn er zufällig gerade neue Fußballschuhe braucht, erpresst er den Kleiderschrankflüchtling womöglich, indem er vorgibt, niesen zu müssen. Man kennt das. 

Dass das Thema Ehebruch in der Dichtung der Menschheit zu allen Zeiten und auf allen Niveaustufen sehr prominent ist und zuweilen sogar geradezu glorifiziert wird, ist ja eine recht bemerkenswerte Tatsache; was der studierte Theaterwissenschaftler in mir aber besonders interessant findet, ist der Umstand, dass dieses Thema - und zwar auch schon seit der Antike (Menander, Plautus, Terenz) - gerade als Komödien- bzw. Schwankmotiv so beliebt ist. Wer soll das eigentlich lustig finden, und warum

Ohne hier allzu akademisch werden zu wollen, möchte ich mal die These aufstellen, dass ursprünglich der Ehemann die lächerliche Figur in dieser Konstellation war. Der alte, impotente, unfruchtbare Mann, der die schöne junge Frau hortet wie der Drache das verwunschene Gold. Mythologisch gesehen repräsentiert er den Gott des Winters, dem die Frau (=die Erde) ausgespannt werden muss, damit im Frühjahr alle Knospen springen. In der bürgerlichen Gesellschaft schwand allerdings das Verständnis für diesen mythologischen Hintergrund, und außerdem wurde das Theaterpublikum zunehmend von angegrauten Honoratioren dominiert, die sich der Treue ihrer oft sehr viel jüngeren Frauen auch nicht so ganz sicher waren. Und im Zuge dieser Entwicklung wird dann der Liebhaber zur lächerlichen Figur, indem er in peinliche und unwürdige Situationen gebracht wird wie die, sich im Kleiderschrank (oder eben im Bettkasten) verstecken zu müssen. Das Gelächter über solche Szenen wurde also quasi zur Rache des gehörnten Ehemanns. Eine etwas armselige Rache, möchte man meinen. 

Davon aber mal ganz angesehen, frage ich mich, ob die Werbebotschaft dieses Plakats wirklich so ein gelungenes Verkaufsargument ist. Man stelle sich vor, ein Ehepaar - oder meinetwegen auch ein in eheähnlicher Gemeinschaft lebendes Paar - sieht dieses Plakat, und die Frau sagt zum Mann: 
"Du, lass uns so ein Bett kaufen!" 
Was der dann wohl denkt... 



Mittwoch, 13. September 2017

Von der Nabel- zur Pimmelschau und zurück

oder: Von der sexuellen Befreiung des Christenmenschen 

Neulich unterhielt ich mich mit einer Freundin, von der auf diesem Blog schon öfter die Rede war und die seit ein paar Monaten Single ist. Letzteres erwähne ich nicht in der Absicht, sie zu verkuppeln, sondern weil es für sie ein ziemlich ungewohnter Zustand ist: Die letzte längere Zeitspanne, in der sie nicht in einer Beziehung war, liegt gut acht Jahre zurück. "Und seitdem hat sich die Dating-Kultur wirklich rapide verändert", ließ sie mich wissen. "Ich komm' da nicht mehr mit. Ich bin ja eher die Person, die sich in einer Kneipe an die Theke setzt und 'Hi' zu Leuten sagt. Macht man heutzutage aber nicht mehr. Heutzutage gibt es Tinder, und Leute schicken dir unaufgefordert Penisfotos." 
"Ja, aber - will man das?", warf ich stirnrunzelnd ein. 
"Das ist überhaupt nicht die Frage", erklärte meine Freundin. "Der Punkt ist, es ist eine Realität - und zwar eine, die bisher komplett an uns vorbeigegangen ist." 

(Bildquelle: Pixabay
Daran musste ich denken, als ich jüngst - dank einem Eintrag bei Theoradar, dem alten Westgotenhäuptling - auf einen Blog namens "Auf'n Kaffee mit Rolf Krüger" stieß, und zwar konkret auf einen derzeit offenbar heiß diskutierten Artikel mit der Überschrift "'Nashville' und 'Denver' im Vergleich: Wie glaubst du?". Ich schicke voraus, dass ich beim ersten Überfliegen der Einleitung die Assoziation hatte, der zweite Teil der Überschrift hätte besser "Was rauchst du?" lauten sollen; aber mal der Reihe nach. Allen, die ebenso wie ich mit "Nashville" in erster Linie Country-Musik und mit "Denver" eine TV-Familiensaga aus den 80er Jahren assoziieren, sei gesagt, dass das "Nashville Statement" eine speziell in evangelikalen Kreisen erhebliches Aufsehen erregende Resolution ist, die im Grunde nichts Anderes tut, als eine konservativ-christliche Sexualethik zu "re-inforcen", wie man das so schön nennt; und das "Denver Statement" ist eine Erwiderung darauf, verfasst von der bei unseren Nachbarn in der Ökumene gerade sehr hoch gehandelten Theologin Nadia Bolz-Weber. Das ist "die mit den Tattoos", aber dazu später. Nun könnte diese ganze Debatte mir als Katholikem[*] eigentlich herzlich egal sein. Wer braucht ein Nashville Statement, wenn er die Theologie des Leibes hat. Darum habe ich mich mit Rolf Krügers unautorisierter Arbeitsübersetzung beider "Statements" auch gar nicht eingehender befasst; mir reichte schon sein Einleitungstext. Den finde ich allerdings durchaus illustrativ, nämlich für den von mir schon öfter geahnten Umstand, dass es auf Gottes schöner Erde kaum etwas Spießigeres und Langweiligeres gibt als liberale Protestanten. Okay: Liberale Katholiken sind eventuell noch etwas schlimmer, aber die dürfte es per definitionem ja eigentlich überhaupt nicht geben bzw. sind in Wirklichkeit eigentlich auch Protestanten. 

Was veranlasst mich zu diesem harschen Urteil? Nun, einerseits meine unausrottbare Lust an der Polemik, und andererseits betulich-grundschulpädagoginnenhafte Publikumsbeteiligungs-Aufforderungen wie "Welche Weltsicht entspricht euch?" (würg!), vor allem aber Sätze wie: "'Nashville' wendet sich gegen alle von uns, die Sexualität jenseits der klassischen, monogamen, heterosexuellen Ehe genießen (möchten)". Das steht da wirklich! Ja, ich sehe sie ganz lebhaft vor mir, die braven Christen, die so gern "Sexualität genießen möchten", aber die böse, böse Nashville-Fraktion lässt sie nicht. Heititei, die Küche brennt. 

Was das Ganze mit der obigen Erwähnung von Tinder und Penisfotos zu tun haben könnte, zeigt Krügers beiläufige Erwähnung von "One-Night-Stands, Tinder-Bekanntschaften oder offenen Beziehungen", von denen er allerdings meint, dass sie "für die meisten Christen zur Zeit wohl kein akutes Thema sein dürften". Man beachte die dreifache Einschränkung: "die meisten Christen", "zur Zeit", "kein akutes Thema". Für einige ist es also vielleicht doch schon ein Thema, und für die übrigen vielleicht später mal, so in 20, 30 Jahren, wenn sie ihren Rückstand gegenüber der sexuellen Befreiung der Mainstream-Gesellschaft aufgeholt haben. Im Ernst: Diese Nebenbemerkung zeigt in unbeabsichtigter Deutlichkeit, wie out of touch die ganze Debatte ist. Während konservative und liberale Christen damit beschäftigt sind, 40, ja eigentlich schon 50 Jahre alte Kämpfe der Sexuellen Revolution im Sandkasten nachzuspielen, ist der Zug in der realen Welt schon ganz, ganz weit abgefahren. Ärzte registrieren eine rapide zunehmende Zahl von Mädchen im Teenageralter und zum Teil noch darunter, die infolge exzessiven Analverkehrs an rektaler Inkontinenz leiden, und Rolf Krüger macht sich Sorgen, weil 'Nashville' "auch den für junge Christen inzwischen ganz normalen Sex in einer Beziehung zwischen Unverheirateten verurteilt". -- Was "normal" ist und was nicht, ist übrigens insgesamt ein ganz großes Thema für ihn. Woraus man schließen kann, dass er es im Wesentlichen als eine Frage von Konventionen betrachtet, was "erlaubt" ist (bzw. sein sollte) und was nicht. Interessanterweise unterstellt er dieselbe Sichtweise auch den Konservativen, wenn er schreibt, diese würden "eigentlich alles" ablehnen, "was nicht bis neulich 'normal' war". Mir fällt dazu Tertullian ein: "Christus hat gesagt: Ich bin die Wahrheit, nicht: Ich bin die Gewohnheit." Aber das nur nebenbei. "Die Frage", so meint Rolf Krüger, "ist also generell: Wie wollen wir als Christen leben? Eng oder weit? [Man verzeihe mir, wenn ich hier einwerfe, dass diese Formulierung im Zusammenhang mit dem oben erwähnten Thema Analverkehr und Inkontinenz bei mir recht unschöne Assoziationen weckt.] Voller Abgrenzung oder voller Neugier?" 

Vielleicht ist es nicht unmittelbar einleuchtend, wie ich zu der Einschätzung komme, die hinter solcher Rhetorik verborgene Einstellung sei spießig und verklemmt. Ich will's mal ganz simpel ausdrücken: Den Wunsch nach Weite wird vor allem derjenige verspüren, der aus der Enge kommt. Ich meine damit nicht unbedingt Rolf Krüger persönlich, schließlich kenne ich den Mann überhaupt nicht. In Hinblick auf das Thema Konventionen finde ich es allerdings recht bezeichnend, dass die Theologin Nadia Bolz-Weber in Krügers Text als "die (nicht nur) durch ihre Tatoos bekannte Pastorin" eingeführt wird. Boah, eine Pastorin mit Tattoos! Das ist wie damals in den 80ern, als Joschka Fischer hessischer Umweltminister wurde: Boah, ein Minister mit Turnschuhen und ohne Krawatte! Den einen ein Ärgernis, den anderen ein Hoffnungszeichen, aber so oder so lenkt es eigentlich nur von den Inhalten ab. Man kann sich allerdings gut vorstellen, wie eine tatöwierte Nadia Bolz-Weber bei denjenigen Christen ankommt, in deren Herkunftsmilieu die Frage, wie man gottgefällig leben könne und solle, sich auch auf Kleidung und Frisur erstreckte, Christsein also auf schier unentwirrbare Weise mit Spießertum verquickt war. Um dieser Form von "Enge" zu entkommen, verfällt man gern ins gegenteilige Extrem - i.d.R. ohne zu merken, dass es da im Grunde genauso "eng" ist. 

Allgemein ist es ja ein ganz interessantes Phänomen, dass gerade in Teilen der evangelikalen Bewegung in jüngster Zeit ein verstärktes Bemühen zu beobachten ist, eine "freiere" Sexualmoral zu propagieren und diese möglichst irgendwie theologisch abzusichern. Nun möchte ich behaupten: Dass Jugendliche bzw. junge Erwachsene aus evangelikalen Familien sich gegen die puritanische Moral ihrer Altvorderen aufgelehnt haben, das gab's in den 60ern auch schon. Damals ist man dann halt zu Hause ausgezogen, nach Milwaukee gegangen und hat in der Rollschuhdisco ein heißes Girl aufgegabelt. Oder so. So ganz losgeworden sind die jungen Leute die Moralvorstellungen, mit denen sie aufgewachsen sind, natürlich nicht, auch wenn sie nicht danach gelebt haben. Rockmusik-Texte sind voll von diesem Konflikt, man studiere nur mal exemplarisch das Album Bat out of Hell von Meat Loaf (1977) - es lohnt sich. Der Unterschied zu heute ist, damals war es noch eine richtige Rebellion. Heutzutage will man die Regeln ändern, um nicht mehr gegen sie verstoßen zu müssen. Und das, also, sorry. 

Augen auf beim Kaffeesauf!
(Bildquelle: Flickr
Bezeichnend ist es in diesem Zusammenhang, dass der Gedanke, die - sagen wir mal: "tradierte" - christliche Sexualethik könne noch einen anderen Zweck haben als den, Menschen zu gängeln und einzuschränken, im Denken derer, die diese Ethik partout "liberalisieren" wollen, überhaupt nicht vorkommt. Also, dass Ge- und Verbote, die darauf abzielen, dem Ausleben des Geschlechtstriebs gewisse Grenzen zu setzen, beispielsweise auch den Zweck haben könnten, die Menschen vor allerlei Üblem zu bewahren. Auf diese Weise kommt auch nicht in den Blick, dass Phänomene wie die oben andeutungsweise beschriebenen nicht einfach "Betriebsunfälle" der Sexuellen Revolution sind, sondern ganz folgerichtige Entwicklungen: Dass, wenn der organische Zusammenhang zwischen Liebe, Sexualität und Elternschaft - und zwar im Rahmen der Ehe! - aufgebrochen wird, Sex über kurz oder lang zur Ware wird, und zwar nicht allein in Form von gewerbsmäßiger Prostitution und Pornographie, die es schließlich früher auch schon gab, sondern auch in allen möglichen und unmöglichen anderen Formen, ist eine Beobachtung, die man bereits aus der Enzyklika Humanae Vitae (1968!) des Sel. Paul VI. extrapolieren kann, von der oben erwähnten Theologie des Leibes des Hl. Johannes Paul II. ganz zu schweigen. 

-- Zum Stichwort "Das gab es früher auch schon" ist übrigens natürlich zu sagen: Dass Menschen, und darunter auch durchaus fromme Christen, sich mit Dingen wie ehelicher Treue und außerehelicher Enthaltsamkeit schwer tun und auch zuweilen dagegen verstoßen, hat es immer gegeben und wird es diesseits des Himmels auch immer geben. Das nennt man dann halt sündigen. Sünde ist, buchstäblich seit Adam und Eva, eine Realität der conditio humana, mit der man rechnen muss; und wenn sie sich nicht im sexuellen Bereich verwirklicht, dann in anderen Lebensbereichen. Das Problem der liberalen Klemmis ist nun aber, sie wollen eine Version des Christentums, die ihnen die Erlaubnis zum Sündigen erteilt. Was aber nun mal nicht geht, denn was erlaubt ist, das ist ja keine Sünde mehr. Und somit eben: langweilig. 



[*] Rettet dem Dativ!