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Montag, 4. November 2019

Kaffee & Laudes - Das Wochen-Briefing (31. Woche im Jahreskreis)

Was bisher geschah: Die Montags-Krabbelgruppe, die eigentlich zum dritten Mal in Folge im katholischen statt im evangelischen Gemeindehaus hätte stattfinden sollen, fiel diesmal aus, weil sämtliche Kinder krank waren -- außer unserem, wie ich dankbar hinzufügen darf. Dafür meldete sich aber die Liebste nach gut der Hälfte ihres Arbeitstages krank, wegen Kopfschmerzen und Übelkeit.  Am nächsten Morgen ging es ihr schon etwas besser, aber krankgeschrieben wurde sie trotzdem. Am Mittwochabend fand in unserer Pfarrkirche die letzte Rosenkranzandacht dieses Oktobers statt, geleitet von unserem nigerianischen Pfarrvikar und kombiniert mit Eucharistischer Anbetung. Spontan und unvorbereitet wurde ich dazu ausersehen, dem Vikar zum Eucharistischen Segen das Pluviale umzulegen, und meine Liebste, die immerhin mal Domministrantin war, kümmerte sich um den Weihrauch. Sehr schön! Den Vorabend des Hochfests Allerheiligen feierten wir in St. Clemens. Die auf das Thema "geistliche Kriegsführung" zugespitzte Predigt war mir persönlich zwar etwas zu krass, und auch sonst ist St. Clemens, wie ich wohl schon mal angedeutet habe, in mancher Hinsicht etwas "eigen", aber wenn man dann wieder in die alltägliche Ödnis "normaler", "volkskirchlicher" Gemeinden zurückkehrt, weiß man diese Eigenheiten wieder zu schätzen. -- Am Freitag hatte meine Schwiegermutter Geburtstag, weshalb wir von ihr zum Mittagessen eingeladen wurden; am Abend wollten wir eigentlich zum Patronatsfest der Allerheiligenkirche in Borsigwalde, aber kurz bevor es Zeit zum Aufbruch war, war das Kind gerade eingeschlafen, und die Liebste wollte sich auch lieber hinlegen, also ging ich alleine los. Den Samstag verbrachten wir ganz unspektakulär und gemütlich; über die Sonntagsmesse bei uns in der Pfarrkirche gab es erfreulich wenig zu meckern, und am Abend testeten wir ein Lokal in unserer unmittelbaren Nachbarschaft, in dem wir zuvor noch nie gewesen waren, der aber das Potential zum Hipster-Hotspot im ansonsten ja oft eher biederen Tegel hat. Vom Mobiliar, den Lampen und vor allem den Tapeten her könnte man fast denken, man wäre im Gebetshaus Augsburg. Und das Essen war sensationell!


Was ansteht: Heute lasse ich mal die Krabbelgruppe ausfallen, da ich heute Vormittag zu Hause bleiben muss, um die Klempner reinzulassen, die die Gastherme warten wollen. Am Mittwoch ist "Dinner mit Gott"; da wird sich zeigen, ob unsere jüngste Werbeoffensive schon Früchte getragen hat. Darüber hinaus findet in dieser Woche, wie ich nur aus einer eher zufällig bei Edeka mitgenommenen Gratis-Stadtteilzeitung erfahren habe, das Reinickendorfer Literaturfestival "Sag', Auguste" statt; theoretisch wäre das vielleicht eine Gelegenheit, für die derzeit etwas schwächelnde "Büchertreff"-Veranstaltungsreihe und/oder allgemein für unser Pfarrbücherei-Projekt die Werbetrommel zu rühren, aber ich bin mir gerade nicht ganz sicher, wie genau ich das anstellen könnte oder sollte. Ansonsten könnte man natürlich am Donnerstag mal wieder zur Community Networking Night im Baumhaus gehen, schauen wir mal. Am Samstag ist Weihetag der Lateranbasilika, aber der wird hier vor Ort anscheinend nicht besonders gefeiert; und am Sonntag hat die Kolping-Ortsgruppe wieder ihren monatlichen "Sonntagstreff", da sollte man sich wohl auch mal wieder sehen lassen. 


aktuelle Lektüre: Schnell hat sich abgezeichnet, dass die aktuelle Runde meiner Lektürerotation der vorherigen nicht das Wasser reichen kann. Manfred Scheuers "Selig die keine Gewalt anwenden" hat mich buchstäblich von der ersten Seite an derart genervt, dass ich die Lektüre am liebsten gleich wieder abgebrochen hätte. Habe trotzdem ungefähr bis zur Mitte des Buches durchgehalten, und bis hierher würde ich sagen, man kann in diesem Buch drei Ebenen unterscheiden -- nennen wir sie mal die apologetische, die homiletische und die feuilletonistische. Auf der ersten geht es darum, dem Leser die von Kategorien wie Gottesfurcht und Gehorsam bestimmte Frömmigkeit Jägerstätters, die ihn letztlich zum Martyrium befähigt hat, nachvollziehbar zu machen; dabei wird, ob nun zu Recht oder zu Unrecht, vorausgesetzt, dass dem heutigen "Normalkatholiken" ein Glaubensverständnis wie dasjenige Jägerstätters fremd sein müsse. Kritiker einer Seligsprechung Jägerstätters, so heißt es etwa auf S. 12, befürchteten "die Verherrlichung einer erzkonservativen, aus heutiger Sicht verschrobenen Religiosität"; und auf S. 14 heißt es: "Demokratisch geschulten Menschen könne der von Gottesfurcht und Sündenangst geprägte Mann nicht als Ideal hingestellt werden, so räumen denn auch Bewunderer Jägerstätters bisweilen fast entschuldigend ein." Was ist mit diesen Leuten kaputt? Scheuer "bei der Beurteilung einer heute fremd anmutenden Glaubenssprache zu bedenken, dass sich ein Glaube, der keine Inhalte, kein Bekenntnis, keine sprachliche Auslegung kennt, in der Beliebigkeit verläuft und damit auch jede kritische, öffentliche und politische Relevanz verliert" (S. 15); gut und schön, aber zu wem glaubt Scheuer hier eigentlich zu sprechen, wenn er einen konturlosen Wischiwaschi-Glauben als den Normalfall voraussetzt? Ist es da überhaupt noch sinnvoll und angemessen, von Glauben zu sprechen? 

Auf der zweiten Ebene geht es darum, aus Franz Jägerstätters Leben, Glauben und Sterben eine Nutzanwendung für heute zu ziehen. Dabei soll aber natürlich keinesfalls der Eindruck entstehen, in unserer besten aller Welten, in unseren toleranten, pluralistischen, demokratischen Zeiten könne es einem Christen abverlangt werden, wie Jägerstätter mit seinem Leben für seinen Glauben einstehen zu müssen; also muss der "Zeugnis"-Begriff, damit auch der laue Mainstream-Christ von heute ihn auf sich selbst anwenden kann, mit Hilfe handelsüblichen Pastoralsprechs aufgeweicht und verwässert werden, bis der Rasierpinsel ins Klo fällt. Schon in der nur zwei Seiten langen "Biografischen Hinführung" (S. 9f.) "erlebt sich" und "erfährt sich" Franz Jägerstätter wiederholt als irgendwas, und man wartet vergeblich darauf, dass die Neue Innerlichkeit aus den 70er Jahren anruft und ihr grässliches Deutsch zurückverlangt, ihre aufmerksamkeitsheischenden Bindestrich-konstruktionen und pompösen Substantivierungen. Zuweilen vergreift sich Scheuer aber auch auf unfreiwillig komisch anmutende Weise im Ton, etwa wenn er meint, dass "Unterscheidung der Geister [...] auf den Schwanz von Entwicklungen" schaut (S. 60) -- na na, Exzellenz, auf einmal so vulgär?

Wenn ich die dritte Ebene "feuilletonistisch" nenne, dann meine ich damit einen Schreibstil, den ich vor Jahren in meiner Rezension von Rüdiger Schapers Karl-May-Biographie wie folgt beschrieb: 
"Blättert man heute in den Feuilletons namhafter deutscher Zeitungen, so hat man den Eindruck, dort wird unter 'Stil' die Technik verstanden, nur mäßig originelle oder tiefgründige Aussagen mit Hilfe von überflüssigen Imponierwörtern aus dem Lateinischen oder Französischen (vice versa, avant la lettre, ad libitum, comme il faut, nolens volens), lahmen Wortspielen, verfremdeten Zitaten, völlig kontextferner Bildungsprotzerei und genialisch-elliptischem Satzbau so weit aufzublasen, dass der Leser darüber die Dürftigkeit des Inhalts aus den Augen verliert." 
Bei Bischof Scheuer ist vor allem die kontextferne Bildungsprotzerei stark ausgeprägt, besonders gern in Verbindung mit namedropping. So zitiert er seitenweise Albert Camus' "Mythos des Sisyphos", Sloterdijks "Kritik der zynischen Vernunft", Kafka, Habermas -- und selbst wenn die Zitate an sich ganz interessant sind, wie etwa eines von Johann Baptist Metz zum Stichwort "Religion als kompensatorischer Freizeitmythos" (S. 58), ist ein Bezug zu Jägerstätter nur mit sehr viel gutem Willen zu erkennen. An einer Stelle sagt Scheuer über ein Gedicht Jägerstätters, es  habe "indirekt die Struktur der klassischen Postulatenlehre Kants" (S.59). I mean, really, Patrick. 

Insgesamt wirkt Bischof Scheuer wie jemand, der viel redet, um zu verbergen, dass er nichts zu sagen hat. Das scheint heutzutage die perfekte Voraussetzung zu sein, um in der Hierarchie der katholischen Kirche im deutschsprachigen Raum Karriere zu machen.  Auf S. 61 zitiert Scheuer die Worte des Propheten Ezechiel an die "törichten Propheten, die nur ihrem eigenen Geist folgen" (Ez 13); es wirkt frustrierend, dass offenbar weder er noch sonst ein heutiger Bischof auf die Idee kommt, diese Worte mal versuchsweise auf sich selbst zu beziehen.

Das Interessanteste, ja nahezu das einzig Interessante an Bischof Scheuers Jägerstätter-Buch sind die Zitate aus den "Gefängnisbriefen und Aufzeichnungen" Jägerstätters, herausgegeben von Erna Putz; vielleicht sollte ich mir diese Edition antiquarisch besorgen, dann könnte man Scheuers Buch getrost in der Pfeife rauchen.

Mein erster Eindruck von Sven Regeners "Herr Lehmann" war von einer gewissen Ratlosigkeit geprägt: Was, bitte, soll an diesem Buch so toll sein? Das erste Kapitel, "Der Hund", fand ich eigentlich nur anstrengend und frustrierend, das zweite, "Mutter", dann zwar schon erheblich besser, vor allem die Dialoge; aber...: ein Spiegel-Bestseller? Sogar von Reich-Ranicki gelobt? Wieso? Was hebt diesen Roman aus der Masse der in Berlin tagtäglich fabrizierten Lesebühnentexte heraus -- einem Genre, zu dem ich selbst ja auch ein bisschen was beigetragen habe? Was entgeht mir, was übersehe ich, das diesen Roman zu etwas Besonderem macht? -- Kurz nach Beginn des dritten Kapitels, "Frühstück", hatte mich der Roman dann aber doch gepackt, stilistisch wie auch inhaltlich; was wohl zum Teil auch mit der nicht ganz schamfreien Erkenntnis zu tun hat, dass ich zwischen Mitte Zwanzig und Mitte Dreißig einen nicht ganz unerheblichen Teil meiner Lebenszeit durchaus ähnlich verbracht habe wie der Herr Lehmann. Und dann hat der Herr Lehmann in der Frühstückskneipe, in der er Mittag essen will, ein Streitgespräch mit der Köchin und verliebt sich in sie, und spätestens da verliebte ich mich dann auch, nämlich in das Buch. Hier mal ein paar schöne Zitate:
"Für uns war das Spielen mit Kuhfladen wenigstens eine Abwechslung, nicht wie bei euch in Achim." (S. 51)  
"Ist mir schon aufgefallen, daß da einige ganz stolz drauf sind, wie lange sie schon in Berlin wohnen. Ist ja auch eine ganz tolle Leistung, hier zu wohnen. Tun ja bloß zwei Millionen Leute, hier wohnen. Ganz große Sache. Supertoll." (S. 53)  
"Ich rede gar nicht mit ihr, dachte Herr Lehmann bedauernd, eigentlich rede ich mit dem Rest der Welt, und sie bekommt es ab." (S. 57) 
Hinsichtlich der Tauglichkeit dieses Romans für eine Pfarrbücherei habe ich allerdings gewisse Bedenken wegen der Thematisierung von Sex und Drogen; wohlgemerkt nicht wegen der absolut legitimerweise erwartbare Tatsache, dass Sex und Drogen thematisiert werden, sondern wegen der Art und Weise, wie sie thematisiert werden. Na, mal sehen, wie sich das noch so entwickelt. Sehr hübsch finde ich allerdings, und zwar gerade in diesem Zusammenhang, die Schilderung eines heftigen Regengusses, der, wie es heißt, den Anschein erweckt, "als wollte der liebe Gott Kreuzberg für immer reinwaschen" (S. 92).

"Leben oder gelebt werden" von Walter Kohl gefiel mir anfangs besser als erwartet; nicht zuletzt, weil ich feststellte, dass ich mich mit Teilen der autobiographischen Schilderungen des Autors über seine Kindheit und Schulzeit überraschend gut identifizieren kann. Natürlich hatte ich, anders als Walter Kohl, keinen so prominenten Vater, dass man hätte befürchten müssen, die RAF würde mich entführen wollen; aber im Maßstab des Dorfes, in dem ich aufgewachsen bin, war mein Vater - und später auch mein Bruder - durchaus in gewissem Maße prominent und hatte auch Feinde, und das hatte auch Auswirkungen auf mich, die ich als Kind nicht ganz verstand und denen ich hilflos ausgeliefert war. 

Leider muss ich allerdings sagen, dass mir die Mischung aus Autobiographie und Lebenshilfe-Ratgeber mit fortschreitender Lektüre zunehmend unausgegoren und platt erscheint. Die Reflexionspassagen - die "Moral von der Geschicht'" gewissermaßen, - pendeln zwischen allzu dick aufgetragener Küchenpsychologie und esoterisch angehauchter Kalenderspruchweisheit, sprachlich wirkt das Buch oft unbeholfen und steckt voller klischeehafter Phrasen. Das alles verdichtet sich zu dem Eindruck, dass Walter Kohl ein eher simpel gestrickter Charakter ist, wenn auch nicht unsympathisch. -- Dann allerdings stieß ich auf diese Passage:
"Ich ging für mehrere Wochen ins Kloster, als Gast der Benediktinerabtei Maria Laach. Dort erlebte ich die Ruhe des ewig gleichen Tagesablaufes der Mönche, ich arbeitete im Garten mit, ich befreundete mich mit einigen von ihnen [...]. Ich betete viel. Ich saß einfach da und 'war'. Ich fand meine Verbindung zu Gott wieder. Ich erlebte das starke Band einer Gemeinschaft, die nicht durch zufällige Interessen, sondern durch geistige Werte zusammengehalten wird. Nicht zuletzt entdeckte ich die außergewöhnliche, Beispiel gebende Persönlichkeit des Heiligen Benedikt. Hier lernte ich seine Lebensgeschichte und seine Mönchsregel kennen. Diese Spiritualität beeindruckte mich tief und begleitet mich noch heute.  
Ich überlegte zunächst sogar, ob ich Mönch werden sollte. Es wurde nichts daraus, aber immer wieder habe ich seither Zeiten der Besinnung in Benediktinerklöstern verbracht." (S. 96) 
Okay, pro forma wäre damit eine Begründung für ein Mindestmaß an #BenOp-Relevanz gegeben; aber wenn es bei dieser anekdotischen und eher oberflächlichen Erwähnung benediktinischer Spiritualität bleibt, dann wird das nicht reichen. Man beachte auch den Klappentext, in dem es heißt: "Als [...] überzeugter Christ findet er seine Vorbilder und Inspirationen in unserem kulturellen Erbe." Wenn ich so etwas lese, kriege ich Ausschlag. Immerhin interessant ist aber die Begriffsschöpfung "überzeugter Christ" im Unterschied (fast schon Gegensatz) zum "gläubigen Christen". Auf S. 123 schreibt Kohl: "Es war mir ein Bedürfnis, zum Speyerer Dom zu fahren. Dort befindet sich einer meiner wichtigsten Kraftplätze." Noch Fragen? 

Was "The Beach" von Alex Garland betrifft, könnte man ja denken, so hohe Erwartungen, wie ich sie an dieses Buch geknüpft habe, müssten zwangsläufig enttäuscht werden, aber ich habe das Buch jetzt etwa zur Hälfte durch und bin ganz und gar nicht enttäuscht. Zunächst mal ist es eine Abenteuergeschichte -- und welches war noch gleich die Mutter aller Abenteuergeschichten? Richtig: Abrahams Aufbruch ins Gelobte Land, und wenn jetzt jemand einwenden will "Na, meinste nich', dass die Odyssee noch älter ist?", dann sage ich: nö. Aber jedenfalls: Auf eine Suche nach einer Art Gelobtem Land begibt sich der Protagonist von The Beach im ersten Viertel des Romans ja ebenfalls, wenngleich er eigentlich da schon ahnen könnte, dass irgendwo in diesem vermeintlichen Paradies der Wurm drin sein muss, denn warum hätte sein Bettnachbar in der Absteige in Bangkok, von dem er die handgemalte Landkarte erhalten hat, sich sonst umgebracht? -- Die Suche nach dem sagenumwobenen Traumstrand ist spannend, aber noch spannender wird es, als der Protagonist und seine Begleiter dort angekommen sind. Es erscheint mir übrigens durchaus bezeichnend, dass ab diesem Zeitpunkt die religiösen Anspielungen im Text stark zunehmen. Auf S. 99f. wird ironisch Psalm 23 zitiert; bei seinem ersten Gespräch mit Sal, der Leiterin der Strandkommune, fühlt der Protagonist sich "wie im Beichtstuhl" (S. 107). Als Sal ihm die Zielsetzung der Strandkommune mit den Worten erklärt "Wir versuchen einen Ort zu schaffen, der sich nicht in einen Ferienstrand verwandeln wird" (S. 109), ist er zunächst enttäuscht: "Ich glaube, was ich erwartet hatte, war... eine Ideologie oder so. Etwas Sinnstiftendes" (S. 110). Der Gameboy-Junkie Keaty zitiert die Bibel und erklärt dem verblüfften Protagonisten "Ich bin jeden Sonntag zur Kirche gegangen, bis ich fünfzehn war" (S. 150f.); und Bugs, dem Zimmermann (!) der Kommune, wird nachgesagt, er halte sich "für Christus" (S. 201). -- Die Art und Weise, wie die Arbeit in der Strandkommune organisiert wird, wirkt auf mich in gewisser Weise benediktinisch:
"Es gab vier Arbeitsbereiche: Fischen, Gemüse anbauen, in der Küche oder in der Tischlerei mit anpacken. [...] Das Problem war, wenn man einmal einen Job hatte, war es ziemlich schwer zu wechseln. Nicht, daß es da Vorschriften gegeben hätte, aber alle arbeiteten in Gruppen, und wenn man die Arbeit wechseln wollte, mußte man eine Gruppe verlassen und in eine andere einbrechen." (S. 130)
Noch eine Randbemerkung: Je deutlicher es sich abzeichnet, dass in der Kommune der Strandhippies längst nicht alles so paradiesisch ist, wie es nach außen hin scheinen soll, desto mehr fühle ich mich an ein Buch erinnert, das ich vor Jahren mal in einem Second-Hand-Buchladen ("Antiquariat" klingt immer so hochtrabend) aufgerissen habe: "Alles total groovy hier" von Jörg Juretzka. Habe ich damals einmal gelesen und dann verschenkt, aber jetzt hätte ich es gern wieder. Ich halte es für wahrscheinlich, dass Juretzka von "The Beach" beeinflusst war, teilweise trägt sein Buch auch parodistische Züge, in jedem Fall wäre es aber eine interessante Ergänzung zum Thema "desillusionierende Perspektiven auf den Utopismus von Aussteiger-Kommunen". 

Die Lektüre von Jochen Kleppers "Unter dem Schatten Deiner Flügel" wollte ich, nachdem ich in zwei Tagen nur 45 Seiten geschafft hatte, schon abbrechen, in dem Bewusstsein, dass ich in dem Tempo ja nie mit dem Buch fertig werde; aber dann stellte ich fest, dass ich doch erheblich mehr Lust hatte, Klepper weiterzulesen, als mich wieder Scheuer zuwenden zu müssen, also las ich weiter und bin inzwischen immerhin auf S. 138. Was natürlich immer noch viel zu wenig ist, um das Buch innerhalb einigermaßen absehbarer Zeit durchzukriegen.

Was diesen Wälzer zu einer so zähen Lektüre macht, ist neben seiner schieren Masse auch der Umstand, dass Klepper mir zutiefst unsympathisch ist. Schon allein vom Foto her. Und dann eröffnet er sein Tagebuch mit einer ausgiebigen Schilderung davon, wie er die neue Wohnung in Berlin-Südende einrichtet, komplett mit Gummibaum, und man fragt sich, ob es sein kann, dass die Synthese von Preußentum und Luthertum, die sein Freund und Vorwort-Autor Reinhold Schneider bei Klepper zu erkennen meinte, in Wirklichkeit nur das vollendete Spießertum ist. Okay, das ist sicherlich unfair. Noch nerviger als Kleppers Hang zur Spießigkeit sind aber seine gelegentlichen Anwandlungen extremer Egomanie. In seinen frühen Tagebuchaufzeichnungen wirkt er zuweilen völlig besoffen von dem Gefühl seiner Größe, seiner Berufung zum Dichter -- und gleich darauf umso deprimierter darüber, dass er in der Welt nichts auf die Reihe kriegt.

Und auch seine Religiosität scheint mir in hohem Maße ego-zentriert. Gewiss kann man Kleppers Tagebuch als dokumentarische Quelle für das Alltagsleben in der Zeit des Nationalsozialismus lesen, aber mich persönlich interessiert es noch weit mehr als Dokument dafür, wie protestantische Theologie in den Atheismus führt. Dabei war Klepper selbst natürlich durchaus kein Atheist, im Gegenteil, er glaubte geradezu leidenschaftlich an Gott -- aber eben an einen individuellen, nur für ihn persönlich zuständigen Gott, der mit dem Gott des Christentums nur oberflächliche Ähnlichkeit hat. Als evangelischer Theologe ist er damit natürlich sehr "fortschrittlich", aber seine Etikettierung als "christlicher Dichter" erscheint mir ausgesprochen fragwürdig. Zwar zeigen seine Verweise auf die Bibel (und auf Luther), dass Klepper sich den Gott, an den er glaubt, als identisch mit dem christlichen Gott vorstellt, aber konkrete Inhalte der christlichen Glaubenslehre scheinen für ihn überhaupt keine Rolle zu spielen. Das fängt schon an mit der heilsgeschichtlichen Rolle der Person Jesu Christi: interessiert ihn schlichtweg nicht. ""Immer schreibe ich von Gott. Nie von Christus", stellt er selbst fest (S. 88). Eine nennenswerte Glaubenspraxis hat Klepper schon gar nicht: "Ich bete nicht", bekennt er auf S. 44 u.ö.; "Wie seltsam ist es aber, daß ich noch nie das Vaterunser beten konnte" (S. 35); und dann wieder: "Gewiß, ich fliehe in jedem meiner seltenen, sehr seltenen Gebete, sage wieder und wieder: Es war kein Gebet. Gott war es nicht. Ich war es. Es gilt nicht." (S. 45). In die Kirche geht er am Heiligabend -- "um der Lieder und der Biblischen Geschichten und Sprüche willen" (S. 134); damit unterscheidet er sich nicht sonderlich vom Ich-Erzähler aus Graham Greenes "Die Reisen mit meiner Tante".

Okay, teilweise verstehe ich Klepper wohl ganz eunfach nicht, und teilweise urteile ich aus Abneigung gegen ihn und gegen den "aufgeklärten" Protestantismus vielleicht allzu hart. Dennoch halte ich es nicht für übertrieben, zu behaupten, das heute weit verbreitete Phänomen einer postchristlichen Individualreligion, die die christliche Überlieferung lediglich als Material zur bedarfsgerechten Aneignung und Anverwandlung benutzt, sei bei Klepper mindestens schon vorgezeichnet. Insofern sehe ich in ihm durchaus einen Vorläufer des sogenannten "Moralistisch-Therapeutischen Deismus" und von Leuten wie Susanne Niemeyer, "Frau Auge", "Porno-Rolf" Krüger (über diesen Herrn evtl. demnächst mehr!) und wie die alle heißen, wobei man ihm zugute halten muss, dass er längst nicht so banal in seinem Denken und seinen Urteilen ist.

Indessen muss ich einräumen: Dass Klepper mir so unsympathisch ist, hat vielleicht auch damit zu tun, dass ich ihm in manchen Aspekten gar nicht mal so unähnlich bin. Oder sagen wir: zumindest potentiell ähnlich -- in dem Sinne, dass es durchaus Phasen in meinem Leben gegeben hat, in denen ich - "but for the grace of God", wie der Angloamerikaner sagt - leicht auf einen ähnlichen Glaubens- und Lebensweg hätte geraten können wie er. Insofern taugt das Buch durchaus als Warnung. 

Enttäuscht bin ich indes vor allem von Reinhold Schneider, der das Vorwort zu diesem Band verfasst hat. Bisher dachte ich, Schneider wäre ein Guter, aber dieses Vorwort wirft ein sehr schlechtes Licht auf ihn: Es ist unerträglich pathetisch und in seinen Lobeserhebungen auf Klepper völlig over the top, und ganz und gar inakzeptabel ist es, wie Schneider Kleppers Selbstmord  als einen Akt "erstaunlicher Freiheit des religiösen Gewissens" (S. 9) glorifiziert:
"Klepper hat die Seinen an der Hand genommen [...] und ist mit ihnen vor den Richter, den schrecklichen Vater, geeilt, sich schuldig wissend und doch unergründlicher Gnade gewiß: gerade dieser Tod ist, von ihm her gesehen, zu einem Glaubenszeugnis und einem Zeichen der Treue geworden; es war kein Nein, vielmehr ein Ja, der glaubensstarke Schritt über die Schwelle des Ewigen Hauses" (S. 12f.) 
-- da sage ich: nein. Einfach nein. Aber nun gut, für die Zeit nach Weihnachten habe ich Schneiders "Las Casas vor Karl V." auf meiner Leseliste; mal sehen, ob ihn das rehabilitiert.

Klepper selbst schreibt im Zusammenhang mit dem Thema Selbstmord übrigens: "Alles ist dem Menschen erlaubt, alles Gute, alles Schlechte, weil die Rechnung zwischen Gott und dem Gläubigen beglichen ist." Das ist ja wohl eher die Theologie der Schlange im Paradies. -- Abschließend noch ein Fun Fact: An Kleppers wohl bekanntestem Kirchenlied "Die Nacht ist vorgedrungen" hat mich schon immer die Anrufung des "Morgensterns" irritiert. Ist der Morgenstern nicht ein Symbol für Luzifer?, habe ich mich gefragt. Kann es sein, dass es sich in Wirklichkeit um ein satanistisches Lied handelt, das nur deshalb in kirchlichen Gesangsbüchern gelandet ist, weil deren Redaktionen schlichtweg zu blöd waren, um das zu kapieren? Diese Verschwörungstheorie meinerseits hat durch die Lektüre von Kleppers Tagebuch jedenfalls neue Nahrung bekommen.

Alles in allem würde ich das Buch nach jetzigem Stand ganz klar als einen Fall für den Giftschrank betrachten, aber in diesem bekommt es einen Ehrenplatz. Und irgendwann werde ich es bestimmt auch mal zu Ende lesen. Aber eher nicht mehr in diesem Jahr.


Linktipps: 

Als deutscher Katholik, der sich gerade von den Bischöfen - die ja schließlich Hirten des Gottesvolkes sein sollten - geistliche Orientierung und Stärkung im Glauben erwarten bzw. erhoffen möchte, hat man in jüngster Zeit öfter mal Anlass, etwas neidisch nach Passau oder, wie  im vorliegenden Fall, nach Regensburg zu schauen. Der dortige Bischof Rudolf Voderholzer, der von 2005-2013 Professor für Dogmatik war und seit 2014 der Glaubenskongregation angehört, fällt in seinen öffentlichen Äußerungen immer wieder durch geistige Klarheit und unzweideutige Glaubenstreue auf; so auch in seiner Predigt zum Gedenktag des Regensburger Bistumspatrons, des Hl. Wolfgang, am 31. Oktober. Darin setzt er sich kritisch mit verschiedene ninnerkirchlichen Entwicklungen der jüngsten Zeit - von der Amazonas-Synode bis hin zum sich anbahnenden "Schismatischen Weg" in Deutschland - auseinander, die bei vielen Gläubigen Verunsicherung ausgelöst haben. Mit Blick auf die Pachamama-Affäre, zu der ich eigentlich nichts mehr sagen wollte, erklärt Voderholzer: 
"Bonifatius hat die Donar-Eiche, den Kultbaum der germanischen Götterwelt, nicht umtanzt und nicht umarmt, sondern er hat sie gefällt und aus ihrem Holz ein Kreuz gezimmert und eine Petruskapelle gebaut. Ein wunderbares Bild für die Einpflanzung der Neuheit des Evangeliums in Kontinuität und Diskontinuität mit dem Bisherigen!"
Auf den Punkt! -- Ganz nebenbei verpasst der Regensburger Oberhirte einem seiner Mitbruder im Bischofsamt, ohne ihn beim Namen zu nennen, verbal kräftig (und hochverdient) eins auf die Omme, indem er zu dessen via "Bild"-Zeitung verbreiteten Äußerung, es sei fragwürdig, ob man "an einem Y-Chromosom den Zugang zum Priesteramt festmachen" könne, anmerkt, falls damit "das Argumentations-Niveau des bevorstehenden Synodalen Weges vorgezeichnet sein" sollte, habe es wohl "wenig Sinn [...], dabei mitzumachen". Wir werden sehen, ob er es trotzdem tut und wohin das führt. 
Sehr schöner, sehr ermutigender Artikel mit einer wichtigen Botschaft: Gewisse Entwicklungen auf dem großen Parkett der Kirchenpolitik mögen beunruhigend und frustrierend sein, aber das sollte uns nicht davon abhalten, vor (oder sogar hinter) unserer eigenen Haustür unverdrossen das Unsere zum Aufbau des Reiches Gottes beizutragen. Fr. Boddicker nennt einige Beispiele und kommentiert sie mit dem wunderbaren Satz "These are little flowers I cultivated in my garden today".

Übrigens ist mir beim Blick auf Simcha Fishers Website aufgefallen, wie schade es ist, dass ich seit einiger Zeit davon abgekommen bin, regelmäßig ihre wöchentliche Artikelserie "What's for Supper?" zu lesen. Ich sollte unbedingt wieder damit anfangen.

Heilige der Woche: 

Heute, Montag, 4. November: Hl. Karl Borromäus (1538-1584), Kardinal. Neffe und Sekretär Papst Pius' IV., spielte eine einflussreiche Rolle in der letzten Sitzungsperiode des Reformkonzils von Trient. Hauptredaktor des Römischen Katechismus; ab 1565 Erzbischof von Mailand, 1583 Apostolischer Visitator in der Schweiz.

Mittwoch, 6. November: Hl. Leonhard (ca. 500-559), Einsiedler, Klostergründer. Wurde zunächst als Schutzpatron der Gefangenen und Geisteskranken, dann aber vor allem Ls Schutzheiliger des Viehs verehrt; ist außer in seiner Heimat im heutigen Frankreich vor allem auch in Bayern populär.

Donnerstag, 7. November: Hl. Willibrord (ca. 658-739, Glaubensbote. Angelsächsischer Wandermönch, ab 690 Missionar in Friesland, ab 695/96 erster Bischof von Utrecht. Gründete 697/98 das Kloster Echternach, wo er auch starb.

Am Freitag, dem 8. November, ist übrigens der Gedenktag des Hl. Willehad, des Kirchenpatrons der hier oft erwähnten Pfarrei meines Heimatstädtchens. Im Regionalkalender wird dieser Gedenktag nicht besonders berücksichtigt, und selbst in Nordenham wird an diesem Tag nicht einmal eine Messe gefeiert. Aber ich nehme mir vor, wenigstens bei meinem privaten Stundengebet an ihn zu denken.


Aus dem Stundenbuch: 

Alle Götter der Heiden sind nichtig, * der Herr aber hat den Himmel geschaffen. (Psalm 96,5)


1 Kommentar:

  1. @Kleppers Morgenstern: Pass nur auf, dass Du nicht in das Fahrwasser jener Freikirchler gerätst, die zu Ostern immer behaupten, der Papst sei satanisch. Weil er Lucifer sagt. Und dann nicht glauben, dass Lucifer auch der Name für den Morgenstern ist. Hoc excitatus Lucifer...

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