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Sonntag, 22. Dezember 2019

Sag mir, wo die Väter sind


Im Evangelium zum 4. Adventssonntag wird die Ankündigung der Geburt Jesu aus der Perspektive des Hl. Josef geschildert. Es ist eine der wenigen Bibelstellen, in denen der irdische Ziehvater Jesu ein charakteristisches Profil gewinnt: Die Kindheitserzählungen des Lukasevangeliums konzentrieren sich eher auf die Perspektive der Maria, und im weiteren Verlauf der Evangelien wird Josef überhaupt nicht mehr erwähnt – woraus die kirchliche Tradition schon früh den Schluss gezogen hat, er müsse schon vor Beginn des öffentlichen Wirkens Jesu gestorben sein. Dennoch ist er über Jahrhunderte hinweg einer der populärsten Heiligen der Kirche gewesen. Erst in jüngerer Zeit, so scheint es, ist der wortkarge Heilige, von dem die Evangelien keinen einzigen Ausspruch überliefern, in der Wahrnehmung der Gläubigen eher an den Rand gerückt. 

Alonso Miguel de Tovar (1687-1752): Der Hl. Josef mit dem Jesuskind (gemeinfrei)

Recht vielsagend erscheint mir in diesem Zusammenhang die Darstellung des Hl. Josef in der bildenden Kunst, vor allem in der Malerei. Ich bin kein Kunsthistoriker, aber mir scheint, Darstellungen des Hl. Josef, der das Jesuskind in seinen Armen hält und es liebevoll und zärtlich betrachtet, haben ihren Höhepunkt im 17. Jahrhundert und nehmen danach auffallend ab. Möglicherweise ist dies ein Indiz für einen Wandel im gesellschaftlichen Konzept von Vaterschaft, der durch eine zunehmende Trennung der Sphären von Beruf und Familie in der bürgerlichen Gesellschaft der westlichen Welt bedingt war: Da die berufliche Sphäre weitgehend dem Mann vorbehalten war, wurde die Familie zum Reich der Frau – exemplarisch dargestellt in Schillers "Lied von der Glocke": Der Mann muss hinaus ins feindliche Leben, drinnen waltet die züchtige Hausfrau, Sie kennen das. Sicherlich haben wir es hier mit einem Dilemma zu tun. Die Familie zu ernähren, die materiellen Grundlagen für ihr Überleben sicherzustellen, gehört sehr wohl von alters her zu den typischen Aufgaben des Mannes und Familienvaters, und in dem Moment, in dem dies für die meisten Männer bedeutet, eine Berufstätigkeit auszuüben, die sich außerhalb des eigenen Haushalts abspielt, bedingt das eben eine häufige und lange Abwesenheit von Frau und Kindern. Aber je weniger Zeit der Mann mit seiner Familie verbringt, desto schwächer wird auch seine emotionale Bindung an sie. Wenn dann der Mann um seines beruflichen Erfolges willen seine Familie vernachlässigt oder verlässt oder sich, um sich ganz seiner Karriere widmen zu können, von vornherein dagegen entscheidet, eine Familie zu gründen, ist das zwar eine bedenkliche Verschiebung der Prioritäten, aber in gewissem Sinne auch folgerichtig

Lassen Sie mich erklären, was ich damit meine. Es fällt auf, dass die Auffassung, die Pflege des eigenen Nachwuchses sei "Frauensache" und "unmännlich", offenbar auch durch das Bekenntnis zur Gleichberechtigung der Geschlechter nicht totzukriegen ist. Zwar geht in unseren Breiten der Trend – nach Kräften befördert von Politik und Medien – dahin, durch Kindertagesstätte, Hort und Ganztagsschule die Kinderbetreuung so weit wie möglich aus dem familiären Rahmen auszulagern und so beide Elternteile für den Arbeitsmarkt verfügbar zu halten; aber wenn eine Frau beruflich "kürzer treten" will, um mehr Zeit für ihre Familie zu haben, wird das immer noch wesentlich eher akzeptiert, als wenn ein Mann das tut. Es wäre kurzsichtig, die "Schuld" hieran allein bei den Männern zu suchen; die Männer verhalten sich letztlich bloß so, wie es von ihnen erwartet wird. Männer, die sich in der Öffentlichkeit mit einem Säugling im Tragetuch sehen lassen, werden vielfach als komische Figuren wahrgenommen. Ich selbst erlebe es häufig, dass insbesondere ältere Frauen es mir – offenbar ganz ohne böse Absicht, einfach nur, weil ich ein Mann bin – schlichtweg nicht zutrauen, meinem Kind die Windel zu wechseln oder es in den Schlaf zu wiegen. Nebenbei bemerkt: Dass ein solches Geschlechterrollenverständnis vielfach als "konservativ" betrachtet und bezeichnet wird, spricht angesichts der oben angedeuteten historischen Entwicklung im Grunde nur für das kurze Gedächtnis der menschlichen Gesellschaft. 

Zusammenfassend gesagt, leben wir in einem kulturellen Klima, in dem Männern noch mehr als Frauen das Gefühl vermittelt wird, die Betreuung und Erziehung der eigenen Kinder sei keine gesellschaftlich anerkennenswerte Leistung. Männer sind jedoch – abermals: noch mehr als Frauen – darauf "programmiert", etwas leisten und dafür Anerkennung ernten zu wollen. Die Folge ist, dass es vielen Männern nicht als eine erstrebenswerte Lebensaufgabe erscheint, Vater zu sein. Die sozialen Kosten einer solchen Marginalisierung von Vaterschaft sind unübersehbar. Nicht nur die hohe Zahl alleinerziehender Mütter verweist darauf, wie viele Männer unwillig sind, die Vaterrolle anzunehmen; es zählt auch zu den verbreitetsten Gründen für Abtreibungen, dass die Kindsväter den schwangeren Frauen ihre Unterstützung versagen oder sie explizit – nach dem Muster "Das Kind oder ich" – unter Druck setzen. Das gesellschaftliche Problem des Verschwindens der Väter pflanzt sich zudem von Generation zu Generation fort und verschärft sich dabei, denn wer als Kind keinen starken, liebevollen oder überhaupt präsenten Vater erlebt hat, wird sich als Erwachsener umso schwerer damit tun, selbst einer zu werden. 

Vor diesem Hintergrund erscheint es mir dringend geboten, dass gerade christliche Familien mit ihrer Lebensweise ein entschiedenes Zeugnis für den unschätzbaren Wert des Familienlebens ablegen, ja, dass sie die Familie als Berufung wiederentdecken. Die Dogmatische Konstitution "Lumen Gentium" des Zweiten Vatikanischen Konzils bezeichnet die christliche Familie als "eine Art Hauskirche", in der "die Eltern durch Wort und Beispiel für ihre Kinder die ersten Glaubensboten sein und die einem jeden eigene Berufung fördern" sollen (LG 11). Der italienische Autor Carlo Carretto hat dem Konzept der christlichen Familie als "Kirche im Kleinen" im Jahr 1966 ein ganzes Buch gewidmet, dessen 1976 erschienene deutsche Ausgabe den möglicherweise etwas irreführenden Titel "Wir sind Kirche" trägt. Darin betont Carretto besonders auch die Verantwortung des Vaters für die Erziehung der Kinder und schreibt unter anderem: "Die Gabe, Vater zu sein, gehört zu den höchsten Geschenken, die Gott der Menschheit gemacht hat. Es ist Teilhaben an seiner Freude, Vater zu sein." (S. 75) Das ist eine Aussage von großer Tragweite. Indem Jesus Seine Jünger lehrt, Gott als Vater anzusprechen, indem Er Ihn selbst mit dem kindlichen Kosewort "Abba", geliebter Vater, anspricht, erklärt er Gottes Liebe zu den Menschen zu einem Vorbild dafür, wie ein Vater seine Familie lieben soll. Zugleich bedeutet das: Wenn ein Kind lernt, zu Gott "Vater" zu sagen, wird das Gottesbild des Kindes unweigerlich davon beeinflusst sein, wie es seinen eigenen Vater erlebt. Daraus ergibt sich eine enorme Verantwortung. 

Ist die Familie als "Hauskirche" die erste Instanz der Glaubensweitergabe an die Kinder, so bildet die Familie daneben und darüber hinaus – ihrer Natur nach – den Rahmen, in dem das Kind seine ersten Erfahrungen damit macht, sich in der Welt zu orientieren und die Regeln des menschlichen Zusammenlebens einzuüben. In einer christlichen Familie sollte beides idealerweise Hand in Hand gehen, das heißt, Glaube und Leben sollten eine organische und für das Kind selbstverständliche Einheit bilden; deshalb ist es in einer Gesellschaft, die dem christlichen Glauben zunehmend gleichgültig oder sogar feindselig gegenübersteht, so wichtig, dass die Familie ihre Aufgaben nicht leichtfertig an andere Instanzen delegiert – nicht an den Kindergarten, nicht an die Schule, ja nicht einmal an die Kirchengemeinde. "Erziehen heißt hinführen, aber es ist wichtig zu wissen wohin", schreibt Carlo Carretto. "Der Christ weiß es, das ist ein großer Vorteil anderen gegenüber, die es nicht wissen." (S. 81) Von entscheidender Wichtigkeit ist es zudem, dass die Werte, an denen die alltägliche Praxis des Familienlebens tatsächlich ausgerichtet ist, mit denjenigen übereinstimmen, zu denen die Familie sich theoretisch bekennt; was für eine christliche Familie also bedeutet: mit den Lehren Jesu Christi über das Reich Gottes. Wie jeder bestätigen kann, der häufigen Umgang mit Kindern hat, haben Kinder einen außerordentlich wachen Instinkt dafür, Diskrepanzen zwischen dem Reden und dem Handeln der Erwachsenen aufzuspüren; und sie orientieren sich erheblich stärker am tatsächlichen Verhalten ihrer Eltern als daran, was diese sie mit Worten zu lehren versuchen. Mit Blick auf den Ausgangspunkt meiner Beobachtungen bedeutet das beispielsweise: Wenn Eltern ihrem Kind predigen, wie wichtig die Familie sei, aber tatsächlich nie Zeit für das Kind haben, weil sie entweder arbeiten oder sich von der Arbeit ausruhen müssen, dann merkt das Kind, dass da etwas faul ist – und es zieht seine Schlüsse daraus. 

Hören wir abschließend noch einmal Carlo Carretto: 
"Ich möchte keine gutbürgerliche christliche Familie, ohne Leben, ohne Kraft, ein Familienhotel, wo man zusammenkommt, um zu essen und zu schlafen, wo keine geistliche[n] Gespräche aufkommen, wo alle möglichst wenig Berührungspunkte haben, wo man vor Langeweile umkommt, wo man sich nur darum kümmert, daß die Kinder ein Diplom oder einen Doktortitel erwerben.
Wir müssen eine apostolische Familie aufbauen, in der man von Gott und seinem Reich spricht, wo der Wunsch nach Ausbreitung des Reiches lebendig und wirksam ist, wo das große Gebot Jesu verwirklicht ist: 'Suchet zuerst das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit, und alles andere wird euch dazugegeben werden.'" (S. 91f.) 

1 Kommentar:

  1. Ein ganz ausgezeichneter Wochenkommentar, Herr Klein.
    Ich beglückwünsche Sie dazu.
    Solche fundierten Ausführungen hätten m.E. das Zeug zu einer Predigt am Familiensonntag.
    Ich selbst hatte das Glück, in einer wirklich christlichen Familie aufzuwachsen, wenngleich die Eltern - zeit- und gesellschaftsbedingt - auch nach heutigen Maßstäben durchaus "streng" waren.
    Geschadet hat mir das aber ganz und gar nicht - im Gegenteil.
    Ich habe so auch im späteren Leben daraus Kraft und Orientierung geschöpft, nicht mit dem allgemeinen Strom unkritisch mitzuschwimmen, sondern meinen manchmal recht mühsamen und entgegengesetzten Weg als katholischer Christ zu gehen.

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